Kommt Leute, lasst uns outen!

Kommt Leute, lasst uns outen!

Wie war das noch, damals, als Kind? Als wir von unseren Eltern einer religiösen Gehirnwäsche unterzogen wurden? Und wann haben wir uns emanzipiert? Haben wir uns überhaupt emanzipiert? Mit welchem Background blicken wir eigentlich auf unsere Welt? Und wie stellen wir uns unsere Zukunft vor?

Francis Bacon und die Päpste

Fragen über Fragen über Fragen standen am Beginn des Projektes „Città del Vaticano“, das derzeit im Rahmen der Wiener Festwochen im Schauspielhaus zu sehen ist. Das Ensemble des Hauses erarbeitete gemeinsam mit dem Autor und Regisseur Falk Richter und dem Choreografen Nir de Volff einen Abend, an dem sich das Lebensgefühl der jungen Generation extrem verdichtet. Dabei blickt im Hintergrund einer von Francis Bacons Päpsten misstrauisch auf das Geschehen auf der Bühne.

Telmo Branco, Gabriel de Costa, Johannes Frick, Steffen Link, Tatjana Pessoa, Vassilissa Renikoff und Christian Wagner geben dafür Einblick in ihr eigenes Leben, ihre Befindlichkeiten, ihre Ängste aber auch Zukunftshoffnungen. Der Bogen dabei spannt sich von Vater-Erinnerungen über eine höchst humorvoll-satirische Beichtszene bis hin zur Vision einer Familie, in der ein Ungeborenes eine Mutter und zwei Väter haben wird.

Weg vom Allgemeinen, hin zum Persönlichen ist das Hauptmotto des Abends

Den Beginn macht ein rasant vorgetragenes Brainstorming über den Begriff Vatikan. „Einem der ältesten Staaten der Welt in dem noch nie jemand geboren wurde.“ Locker flockig wird darüber nachgedacht, dass Jesus so aussah „wie ein Mann, vor dem wir uns heute fürchten müssen, wenn er ins Flugzeug einsteigt“ und nur wenig später werden Dschihadisten den schwulen Priestern im Vatikan gegenübergestellt. Doch weg vom Allgemeinen, hin zum Persönlichen ist das Hauptmotto des Abends.

Der präsentiert sich in einer Art Revue, in der die unterschiedlichen Informationsstränge gebündelt werden. Mit Musik und Tanz, der die jeweiligen Befindlichkeiten höchst ästhetisch unterstreicht. Einer, der sein Innerstes nach außen kehrt, ist Steffen Link. In einer überaus amüsanten one-man-Performance macht er klar, dass er den Werten jener freichristlichen Gemeinde, in der er aufwuchs, nicht entkommen kann. Auch wenn er längst die Lern- und Prägemechanismen dieser sozialen Gruppe analysiert hat. Die Lieder, die er als Junge lernte, haben sich tief in sein Gedächtnis eingegraben, die Schuld, die ihm in Zusammenhang mit Sexualität vermittelt wurde, kann er nicht neutralisieren. „Du sollst nicht sein, der du bist!“ ist das Mantra, das er in seine Persönlichkeit eingeschrieben bekommen hat.

Die Sexualität in die Öffentlichkeit tragen

Breiten Raum nimmt die Aufarbeitung jener Zeit ein, in der die Männer ihre Homosexualität entdeckten. Dabei erlebt man, sofern man in den 70ern und 80er Jahren schon den Windeln entwachsen war, so manchen Flashback. Damals begannen die ersten Künstlerinnen und Künstler ihre eigene Sexualität coram publico zu thematisieren und Performances für Selbsttherapiezwecke zu nutzen. Auch in „Città del Vaticano“ hat man über weite Strecken den Eindruck, dass die Beteiligten sich dabei wie in einer Selbsthilfegruppe ihre Not von der Seele spielen.

Im Unterschied zu therapeutischen Einrichtungen macht dieses Spiel aber großen Spaß. Es wartet mit Wortwitz – Heil, Frauke Petry! – Petry Heil! (Petry ist Vorsitzende der rechtpopulistischen Alternative für Deutschland AfD) genauso auf wie mit Statements, in welchen die Ängste der Jungen thematisiert werden. „Ich bin Europa, ich habe keine Identität, ich falle auseinander. Ich bin Europa und niemand weiß, was das ist“ deklamiert an einer Stelle Raznikoff um kurz danach das Unbehagen gemeinsam mit allen anderen wegzutanzen.

Città des Vaticano © Matthias Heschl

Città des Vaticano © Matthias Heschl

Es ist kaum zu glauben, aber am Ende der spritzigen, witzigen Show, die viel Satire-Couleur in sich trägt, wendet sich die dystropische Befindlichkeit hin zu einer Zukunftsvision, in der alle Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe und welcher Nation vielleicht doch einmal friedlich zusammenleben werden. Träumen wird man ja dürfen.

Weitere Infos auf der Seite des Schauspielhauses.

Von Strottern und Außerirdischen

Von Strottern und Außerirdischen

„Strotter“ nennt sich die neue Produktion im Schauspielhaus Wien. Wie schon unter der Intendanz von Andreas Beck, behält die neue Leitung des Hauses jenes Format, das aus dem Theater hinaus und hinein in den 9. Bezirk führt. Die erste Produktion dieser Art unter Tomas Schweigen feierte seine Premiere in strömendem Regen. Ich hatte Glück, der Samstag, an dem ich die Vorstellungs-Wanderung besuchte, war zwar kühl, aber zumindest trocken.

Thomas Köck, derzeit Hausautor am Nationaltheater Mannheim und in Wien in dieser Saison gleich an mehreren Häusern mit Werken vertreten, und Thomas Schweigen begaben sich für das Stück auf die Suche nach historischem Material, wagten zugleich aber auch einen Ausblick in die Zukunft. Eine dystopische. Denn, so wird prophezeit, dann wird in ca. 60 Jahren das Mittelmeer zugefroren sein, Ottakring jedoch unter einem Wüstensturm leiden. Dann werden sich die Menschen in einem totalitär überwachten System nach einer heilen Welt sehnen und sich dafür in einen todesähnlichen Zustand versetzen lassen. Jene, die in dieser Gesellschaft gestrandet sein werden, werden wie vor 150 Jahren ihr Glück beim Sammeln von Altmüll versuchen. Oberhalb, aber auch unterhalb der Erde, direkt im Kanal, wie es um die Jahrhundertwende die sogenannten „Strotter“ in Wien tatsächlich taten.

Strotter (c) Susanne Einzenberger

Strotter (c) Susanne Einzenberger

Das Publikum wird bei der Inszenierung zwar in Bewegung gesetzt, aber außer, dass einige Beteiligte für kurze Zeit kleine Demoschilder vor sich hertragen müssen, bleibt es doch in der Rolle der Zusehenden. Jesse Inman spielt einen Mann, der sich mit seiner Freundin (Vassilissa Reznikoff) verabredet hat. Über ein Soundsystem, hervorragend von Dominik Mayr und Jakob Suske gestaltet, ist man  mit den beiden via Kopfhörer auditiv verbunden und bekommt auch jene Computerstimme eingespielt, die einem beständig vorgibt, welche Route man einschlagen soll, wo man Acht geben muss und wie man sich bestmöglich verhält, um in der Gruppe den besten Nutzen für sich zu erzielen. Denn so eine kleine Stadtpartie macht man in der Zukunft ja schließlich nicht zum Spaß, sondern um anschließend wieder Nutzer-optimiert agieren zu können.

Tomas Schweigen, auch für die Regie verantwortlich, erkundet dabei die nähere Umgebung des Schauspielhauses, inklusive eines Hauseinganges, in den man gleich zu Beginn gepfercht wird. Dieser Moment ist einer der stärksten des Abends, denn die Soundeinspielung, durch die das Tropfen von Wasser zu hören ist, erweckt den Eindruck, dass man sich in einer ausweglosen Situation gefangen vorkommt. Assoziationen zu Flüchtlingen, die Körper an Körper in LKW ihre Reise ins Ungewisse antreten, stellen sich dabei ad hoc ein. Während der kommenden Minuten wird klar, dass sich Inmans Freundin in einem höchst seltsamen Zustand befindet. Immer wieder gleitet sie in einen Erinnerungsmodus, der ihr jedoch die Vergangenheit rätselhafter erscheinen lässt, als dass er ihr Aufklärung bringt.

Das Changieren zwischen unterschiedlichen Zeiten und Befindlichkeiten endet schließlich in einem aufgelassenen Lokal, in dem Steffen Link und Sebastian Schindegger als Fleischergesellen der untergehenden Spezies Mensch deren ausgeschlachteten Wohlstandsmüll illegal zum Kauf anbieten. Der Keller dieser Location entpuppt sich schließlich als jene Menschen-Lagerungsstätte, in die sich jene ablegen ließen, die ihren Geist in einem schlafesähnlichen Zustand lieber mit Illusionen berieseln lassen, als das öde und gefährliche Leben in Wien weiter ertragen zu müssen.

Strotter (c) Susanne Einzenberger

Strotter (c) Susanne Einzenberger

Der Abend bietet einige emotional packende Szenen, die durch die Präsenz des Ensembles an ungewöhnlichen Orten leben. Auf weite Strecken fühlt man sich jedoch wie in einem Verschnitt einer Inszenierung von Claudia Bosse, die in Wien schon so manche theatrale Inszenierung außerhalb von Theaterhäusern gestaltete. Auch bei ihr gibt es kein Happy End, sondern den permanenten Verweis auf die anhaltende Zerstörung von Menschen und Kulturen. Zwar sparen Köck und Schweigen nicht mit Gesellschaftskritik, dennoch ist gerade das Ende so sehr mit den Mitteln des klassischen Theaters gestaltet, dass der Transfer ins Hier und Heute und die Beklemmung, die wahrscheinlich ausgelöst werden sollte, nicht wirklich zu spüren ist.

Aufstieg und Fall eines Kokovoren

Aufstieg und Fall eines Kokovoren

Einmal ganz weit weg ziehen. Am besten auf eine Insel. Einmal sein eigener Herr sein und ein Imperium aufbauen. Am besten mit gesunden Lebensmitteln. Und wenn`s nicht funktioniert? Dann kann man immer noch als Eremit weitermachen.

Es ist ein sonderbar humoriges Spiel, in dem das Leben von August Engelhardt auf der Bühne des Schauspielhauses Wien nachgezeichnet wird. Dieser schiffte sich 1902, 27-jährig, auf dem deutschen Reichspostdampfer „Prinz Waldemar“ ein, um in „Neupommern“, einer deutschen Kolonie in Neu-Guinea, ein neues Leben zu beginnen. Anhand der Geschichte des Vegetariers, der sich mit Fortschreiten des Geschehens zum reinen Kokos-Esser wandelt, lässt sich gut nachvollziehen, zu welch seelischen Deformationen die Besitzstandswahrung eines Außenseitertums führen kann.

Sebastian Schindegger verkörpert Engelhardt zu Beginn noch unterwürfig, ja beinahe regungslos, dem Gespött aller anderen ausgeliefert, die sich, wie er, auf dem Schiff in die neue Kolonie befinden. Vegetarier zu sein war zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich geächtet und mit dementsprechenden sozialen Ausgrenzungen verbunden. Mit Zunahme seines Einflussbereiches und seiner Machtausübung ändert sich das Selbstverständnis von Engelhardt jedoch vehement. Der Kokosnussfarmer, der sich das große Geschäft mit der gesunden Frucht erhofft, lässt zu Beginn seines Aufenthaltes auf der von ihm gekauften Insel, bis auf Makeli, einen Jungen, niemanden wirklich an sich heran. Diesem versucht er anhand der Faust-Lektüre Deutsch zu lernen.

Beinahe unmerklich rutscht Engelhardt nach und nach in die Rolle eines Gurus, der sich ganz der reinen Nahrung verschrieben hat, die er in der Kokosfrucht erkennt. Als er bemerkt, dass er mit seinem Sendungsbewusstsein Menschen in seinen Bann ziehen kann, zeigt sein Persönlichkeitsprofil andere Züge. Wie sozial unverträglich er agiert, wird aber klar, als er von Heinrich aus Helgoland aufgesucht wird, der von seinem Unternehmen gehört hat und unbedingt an seiner Seite leben möchte. Dass es sein homoerotischer Antrieb ist, der ihn zu Engelhardt führte, wird dem Mann schließlich zum Verhängnis.

Immer stärker verdichtet sich das Geschehen hin zu seinem Höhepunkt, an dem Freiwillige aus dem Publikum auf die Bühne geholt werden. Sie dürfen sich so lange an Snacks laben, bis Engelhardts Laune kippt und er alle rüde zurück auf die Plätze verweist. Spätestens in diesem Moment ist klar, dass dieser Mann nicht geeignet ist, ein Imperium aufzubauen. Der endgültige Absturz wird schließlich durch neue Machtstrukturen auf der Insel beschleunigt, die den Farmer enteignen und zum Eremiten verkommen lassen.

Jan-Christoph Gockel, der mit Tobias Schuster für die Bühnenfassung verantwortlich ist, führte Regie. Dabei sind, bis auf Sebastian Schindegger, der den bärtigen Engelhardt gibt, alle anderen Schauspieler in Mehrfachrollen zu sehen. Die Besatzung des Schiffes, der Gouverneur von Neu-Guinea, die Unternehmerin „Queen Emma“ genannt, der Helgoländer Heinrich Aueckens, der Musiker Max Lützow oder Makeli erhalten durch Kostümänderungen und Perückeneinsatz ihre Konturen. Oliver Mathias Kratochwill sorgt live für die musikalische Untermalung. Steffen Link, Simon Bauer und Jacob Suske sind ebenfalls mit von der Partie.

Die Inszenierung schillert durch die raschen Orts- und Zeitwechsel, sowie durch die vielen Kostüm- und Stimmungsänderungen. Zugleich wirkt sie, auch aufgrund des spartanischen Bühnenbildes, bei dem zum großen Teil die Lichtregie und Projektionen auf die Stirnwand (ebenfalls von Kratochwill) für die unterschiedlichen Raumwahrnehmungen sorgt, wie aus einem groben Holzstamm gehauen. Dies passt allerdings gut zum Stück selbst, in dem die Hauptfigur von Beginn an auf der Suche nach dem Ursprünglichen und Ungekünstelten ist. Die zeitgeistige Umsetzung des historischen Geschehens, das man tatsächlich nur anhand einiger Eckdaten zum Teil nachempfinden kann, ist dabei höchst gelungen. Versteckt wird nichts, umgezogen wird coram publico, die kleinen Umbauten, so notwendig, werden ebenfalls sichtbar durchgeführt. Die Gewaltszenen sind dramaturgisch äußerst clever aufgebaut, sodass man, zumindest bei Engelhardts Mord an Heinrich, seinen Beweggrund nachvollziehen kann.

Der theatralische Exkurs in eine Zeit, in der die Welt begann, sich neu zu ordnen, bringt nicht nur jede Menge neuer historischer Informationen, die einem wissbegierigen Bildungsbürgertum Freude bereiten. Er präsentiert das Theater von einer höchst ursprünglichen Seite. Nämlich jener der Unterhaltung.

Die Erschaffung von einem „Imperium“, von dem Engelhardt träumte, blieb diesem versagt. Mit dem kleinen Hinweis auf Coca Cola am Ende des Stückes wird klar, dass Engelhardt nicht der erste war, der die Idee hatte, ein Produkt in großem Stile zu vertreiben. Schade, dass das Spiel schon am 19. März sein Ende in dieser Saison findet.

Lasst uns feiern – morgen geht die Welt unter!

Lasst uns feiern – morgen geht die Welt unter!

„Die Welt ruft an, ich geh nicht ran, mir ist zu bang“, diesen einfachen Reim setzt Bernhard Studlar kurz vor das Ende des Stückes „Der grüne Kakadu“. Müsste man den Abend in einem Satz beschreiben, er wäre diese Kurzzusammenfassung.

Das Original stammt von Arthur Schnitzler. Es ist eine Arbeit aus dem Jahr 1898 und wüsste man nicht, dass es aus seiner Feder stammt, man würde es genauso Marivaux oder Molière zuordnen können. Studlar fügte Schnitzlers Worten eigene hinzu und ergänzte die historische Komödie um Sein und Schein von Leben und Theater vor dem Hintergrund der Erstürmung der Bastille mit zeitgeistigen Aussagen. Zu sehen ist es derzeit im Schauspielhaus in Wien.

Der grüne Kakadu (c) Lupi Spuma

Kara Schröder in Der grüne Kakadu (c) Lupi Spuma

Lucia Bihler setzte das Spiel in Szene. Die Mischung des historischen Bezugs zum Heute bringt sie dabei nicht mit dem Holzhammer, sondern eher mit feiner Klinge zum Ausdruck. Nicht zuletzt wegen der schrillen Kostüme von Josa Marx. Er gestaltete auch das Bühnenbild und verhängte dafür nicht nur die Bühne selbst, sondern auch den kompletten Zuschauerraum mit weißer Baufolie. Dadurch erzeugt er einen einheitlichen Raum, der ein gemeinsames Erleben im Pariser Nachtclub der Wirtin Prospère suggeriert.

Die Figuren treten zum Teil in Latex gehüllt auf, wie Kara Schröder als Barbesitzerin Prospère und ihr Sänger, der bei einer Darbietung an einer langen Schaukel über die Köpfe des Publikums hinwegschwebt. Auch Flipotte (Sophia Löffler), die hysterische Mimin, die gerne im Schreiton mit ihrer Arbeitgeberin verkehrt, trägt ein Latex-Bustier und wird von einem geflügelten Penis auf ihrem Kopf bekrönt. Der Adel (Vera von Gunten, Simon Bauer und Jesse Inman) kommt in schwarzen Leder-Motorradanzügen mit Barockperücken und Spitzenfächern auf die Bühne. Henri (Steffen Link) – der von allen vergötterte Mime – hat seinen großen Auftritt in grellgelbem Reifrock, mit viel Plastik um Brust und Kopf und schiebt dabei seine soeben Angetraute im durchsichtigen Plastikkoffer vor sich her. Schrill auch der Einfall, die Comissäre als schwarz-weiß-gefleckte Behördenbluthunde Schrecken im Etablissement verbreiten zu lassen. Sie haben davon gehört, dass in der Bar Orgien gefeiert werden sollen und wollen sich nun selbst ein Bild davon machen.

Der dekadente Pariser Adel ergötzt sich an den schaurigen Vorführungen von Prospères Schauspieltruppe gerne, wohl wissend, dass der Umgang mit den Menschen dort weit unter seinem Stand, unter seiner Würde ist. Aber der Nervenkitzel steht für ihn über der Forderung des „Noblesse oblige“. Dabei weiß niemand so genau, ob die erzählten Geschichten nun wahr oder gelogen sind. Eine subtile Sounduntermalung suggeriert Mord und Totschlag außerhalb des „Grünen Kakadus“, wie das Lokal heißt. Nicolas Fehr lässt bei seinen Einzelauftritten als androgyner Barsänger mit dunkel geschminkten Augen auf Plateau-Schuhen stehend, erkennen, dass jeder seiner Schritte ein Wagnis ist. Seine intonierten Songs bilden Inseln im ansonsten humorigen Geschehen mit Kaskaden an schnellen Wortgefechten.

kakadu 2

Sophia Löffler und Vera von Gunten in „Der grüne Kakadu“ (c) Lupi Spuma

Klamauk ist eine der tragenden Säulen dieser Produktion. Prospère labt ihre Gäste durch einen Griff auf die Schankhebeln, die an ihrem Busen angebracht sind. Der Philosoph Grasset kommt gleich mit einer Entourage barbusig auf die Bühne. Vassilissa Reznikoff überzeugt stimmgewaltig nicht nur in dieser, sondern auch in weiteren Rollen auf der ganzen Linie. Jesse Inman bringt das Publikum mit seiner Interpretation des leichtgläubigen und dummen Adeligen Albin in schöner Regelmäßigkeit zum Lachen. Daneben aber schleicht sich dennoch ein Gefühl des Unbehagens ein. Zu sehr wird verdrängt, was nicht zu verdrängen ist, zu sehr dringt das Draußen, wenn auch zumindest bis knapp vor Schluss, nur in Worten in den geschützten Raum.

„Wir haben viel zu lange an Werten festgehalten von denen wir längst ahnten, dass ihre Zeit vergangen“ – wie ein Mantra wiederholt Prospère diese Einsicht gegen Ende hin und inkludiert dabei sichtlich das Publikum. Obwohl die Regisseurin Studlars Ergänzungen von Kara Schröder in Domina-Manier meist unemotional deklamieren lässt, gehen diese, vielleicht gerade auch deshalb, unter die Haut. Das Ende sei hier nicht vorweggenommen, steht aber für eine aktuelle Gesamtbefindlichkeit, bei der die Ungewissheit die einzige Konstante zu sein scheint.

Ein Abend, in dem sich das Theater von seiner buntesten Seite zeigen darf. Dennoch ist der schwarze Subtext unüberhörbar.

In einem einzigen Moment zeigt sich der Charakter

In einem einzigen Moment zeigt sich der Charakter

Chris Thorpe, britischer Schriftsteller, ist einer jener Autoren, die der neue Direktor des Schauspielhauses, Thomas Schweigen, dem Publikum näher vorstellen möchte.

Sein Stück „Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“, hatte am 6. November Premiere. Man könnte das Werk auf den ersten Blick für tiefschwarz halten, beim genauen Hinhören und Hinsehen aber ist es zugleich auch unglaublich tröstlich.

In der Regie von Marco Štorman, die man auf weite Strecken hin ohne Weiteres als abstrakt bezeichnen kann, werden nicht so sehr die Charaktere der Beteiligten herausgearbeitet. Vielmehr stehen Erlebnisse im Vordergrund, die sie an einem bestimmten Punkt ihres Lebens zum Handeln gezwungen haben. Was davor und was danach ihr Leben bestimmte, wird nur vage angedeutet.

Sie sind zu dritt. Aber es sind vier Geschichten. Geschichten aus dem Leben von vier Menschen. Auf der Bühne stehen drei Schreibtische. Die beiden Frauen und ein Mann lächeln unverbindlich ins Publikum. Sie werden ihm Ereignisse erzählen, die nicht zum Lachen sind. Aber muss man sein ganzes Leben lang Trauer im Gesicht tragen, auch wenn man Schreckliches erlebt hat?

Die Handlungsstränge verzahnen sich nicht, aber sie gehorchen einer eigenen Rhythmik. Die Geschichten ähneln sich nicht. Aber sie steuern auf einen bestimmten Höhepunkt zu. Thorpe lässt eine Politikerin zu Wort kommen, die maßgeblich zum Sturz der Diktatoren ihres Landes beitrug; eine Frau, die ein neues Leben beginnen möchte und der ein Flugzeugunglück dabei dazwischen kommt; einen Mann, der Zeuge wird, wie sich jemand aus der Menschenmenge löst und sich demonstrativ einer Kompanie von Panzern in den Weg stellt. Und dann ist da noch jener Terrorist, der im Jugendparlament kaltblütig Jugendliche abschlachtet, um die Überfremdung in seinem Land einzudämmen. Von ihm erfährt man seine Motivation anhand eines Verhöres, bei dem er bereitwillig Auskunft gibt. Er ist der einzige, der sich nicht in einer unvorhergesehenen Situation für oder gegen etwas entscheiden muss. Vielmehr steigert sich bei ihm die Schuld, die er auf sich genommen hat, noch zusätzlich durch die minutiöse Vorbereitung auf die Tat. Der Mann hingegen, der sich ohne zu zögern auf ihn stürzt, um ihn am weiteren Abschlachten zu hindern, er gehört zu jenen Helden, die zeigen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die diese Bezeichnung auch zu Recht tragen.

"Möglicherweise gab es einen Zwischenfall"

Steffen Link, Vassilissa Reznikoff und Sophia Löffler (c) Arnim Friess

Der Autor zeichnet aber nicht nur einen Querschnitt an zeitgemäßen Katastrophen und Momentaufnahmen nach, die bewusst reale Vorbilder haben. Das wäre zu einfach. In seinem Stück wird gleichzeitig die ganze Bandbreite von menschlichem Sein aufgezeigt. Begonnen von Altruisten und emphatischen Personen, die im entscheidenden Fall nicht ihr Leben, sondern das der anderen schützen möchten, bis hin zu solchen, für die das Leben an und für sich keinen Wert hat. Thorpe macht dabei klar, dass Schicksalsmomente durch Entscheidungen von einzelnen Personen geschrieben werden. Durch ihr Tun oder Unterlassen. Durch ihre Handlung oder auch einen Rückzug. Er macht auch klar, dass es dafür kein Patentrezept gibt und auch keine Voraussage, die getroffen werden kann, wie jemand im Fall der Fälle tatsächlich agiert. Wahrscheinlich weiß niemand von uns, wie wir uns selbst in einer unvorhergesehenen Situation verhalten würden, die rasches Handeln verlangt. Ein Handeln, von dem die Zukunft von Menschen auf dem Spiel steht.

Steffen Link, Sophia Löffler und Vassilissa Reznikoff wechseln häufig von der Bühne ins Off, werden gefilmt, oder filmen selbst die anderen. Sie erwecken bei ihren Erzählungen den Eindruck, als seien ihnen ihre Entscheidungen fremd, ja vielmehr, als ob die Bruchteile von Entscheidungssekunden mit reflektiertem Handeln gar nichts zu tun hätten. Mit dieser Herangehensweise nähert sich Thorpe auch jenem Diskussionsfeld, das die Freiheit der persönlichen Entscheidung per se infrage stellt.

„Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“ bietet eine Menge von Reflexionsebenen an. Mit dieser zweiten Produktion demonstriert das neue Team am Schauspielhaus, wie auch schon in „Punk und Politik“, seine Idee von Theater, die mit zeitgenössischen Autoren das Hier und Heute erkundet. Thorpe tut dies zwar anhand der ausgewählten Geschichten, die er unserer Gesellschaft entnimmt, aber er schafft auch den Dreh zu einer Zeitlosigkeit. In ihr verwandelt sich das Aktuelle zur allgemein gültigen Aussage über die Conditio humana, nämlich dass Menschen, wenn es darauf ankommt, alles sein können. Von gut bis böse und auch alles dazwischen.

Chris Thorpe ist am 15. November persönlich mit seinem politischen Monolog „Confirmation“ im Schauspielhaus zu Gast.

Nähere Informationen auf der Internetseite des Schauspielhauses.

 

PS: Für alle, die sich das Team des Schauspielhauses gerne an die Wohnzimmerwand hängen möchten, hier noch ein Tipp: Im Programmheft findet sich wie weiland in den Bravo-Heften ein Starschnitt von Sophia Löffler. Im Maßstab 1:6.37! Auf zum munteren Schnippeln!

 

 

 

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