Das kleine Puppenhaus wird plötzlich riesig. Der Nussknacker, der eben noch als Holzpuppe auf der Bühne stand, spaziert in voller Pracht und Herrlichkeit lebensgroß aus dem Biedermeierschrank. Genauso Mamsell Trutchen, die kleine Puppe, mit der Marie, die Tochter von Medizinalrat Stahlbaum so gerne spielt.
Hoffmanns Geschichte klug adaptiert
Der Nussknacker • Theater der Jugend @Rita Newman
In der Weihnachtsinszenierung „Der Nussknacker“ im Theater der Jugend wird mit Bühnenzauber für das junge Publikum nicht gegeizt. Der Regisseur und Dramaturg Gerald Maria Bauer hat die Sprache E.T.A. Hoffmanns und auch die Handlung vom „Mäusekönig und Nussknacker“ ein wenig zeitgeistiger modelliert, belässt das Märchen aber im 19. Jahrhundert. Dementsprechend aufwendig sind auch die schönen Kostüme von Stephan Dietrich gestaltet. So treten die beiden Schwestern und ihre Mutter in langen Taftkleidern auf, der Vater ist elegant mit Ausgehrock und Zylinder unterwegs. Der Bruder darf in Pluderhosen auf seinem Holzpferd über die Bühne hoppeln und im weißen Nachthemd zu Bett gehen.
Der Nussknacker • Theater der Jugend @Rita Newman
Die Bühne (Magdalena Wiesauer) zeigt einen in sich in die Tiefe verjüngender Wohnraum, der das Ensemble noch größer erscheinen lässt als es ohnehin ist. Und dass Lichteffekte und Theaternebel auch zum Einsatz kommen, lässt die Kinderherzen noch höher schlagen.
Das Spiel im Spiel als Unterhaltungshighlight
Die Geschichte um den verzauberten Nussknacker (Luka Dimic), der gegen den Mäusekönig ankämpfen muss, ist zwar für die Allerkleinsten nicht einfach zu verstehen. Die Rückblende in der Mitte des Stückes erfordert seitens der Erwachsenen doch einiges an Erklärungen. Dafür ist sie aber umso humorvoller angelegt. In ihr spielen Florian Stohr, Barbara Spitz und Janina Stopper auch ein Königspaar mit ihrer Tochter Pirlipat. Diese Szene ist als Stück im Stück angelegt und eines der Highlights der Vorführung. Ganz in Schwarz/Weiß gehalten, bezaubern die drei das Publikum und erheitern es gleichzeitig mit gekonntem Mienenspiel und überdrehtem Gehabe.
In der Bauer-Fassung ist Mäuserinks (Pia Baresch), die Mutter des Mäusekönigs (Stefan Rosenthal), quietschlebendig und lässt mit diesem jede Menge Humor über den Bühnengraben schwappen. Mit seinem herzzerreißenden Ruf nach seiner „Muttiiiii!“ ist erst dann Schluss, als diese ihn davon abhält, seine Leibspeise Torte zu essen und ihn stattdessen zum Speckverzehrt zwingt.
Wunderwerke der Mechanik
In der Geschichte, die zwischen Traum und Wirklichkeit changiert und in welcher die Fantasie der Menschen als hohe Auszeichnung gefeiert wird, feiert Hoffmann, wie in vielen anderen auch, die Errungenschaften der Mechanik. Hier im Besonderen mit der Rolle des Paten Drosselmeier, der den Kindern zu Weihnachten immer allerhand mechanisches Spiezlzeug schenkt. Bauer lässt Hoffmann zu Beginn selbst auf die Bühne treten und verpasst Matthias Mamedof dafür ein höchst Hoffmann-ähnliches Aussehen, das er als schrulliger Pate mit einem großen Herz für Kinder beibehalten darf.
Das 8-köpfige Ensemble agiert bravourös in allen Mehrfachrollen und ist dabei durch rasche Kostümwechsel höchst gefordert. Einzig Tanja Raunig muss ihre Rolle als Marie nicht verlassen.
Ein wunderbares Theatererlebnis für die Jugend, die dabei in eine Zeit eintauchen darf, in der aufgezogene Uhren und mechanische Puppen das Non-plus-ultra an technischer Errungenschaften in einem gutbürgerlichen Haushalt darstellten. Dank der intelligenten und witzigen neuen Fassung präsentiert sich der Text dennoch zeitgeistig und schlägt so einen wunderbaren Bogen ins Hier und Heute.
Der kleine Junge, der immer wieder aufs Neue ermahnt werden muss, was richtig und falsch ist, steht jetzt als Vorweihnachtsproduktion im Dschungel Wien gemeinsam mit dem Spiegelkabinett auf der Bühne.
Wenn das Lügen nicht im Mittelpunkt steht
Wer Pinocchio hört, denkt wahrscheinlich unmittelbar an seine Nase, die immer länger wird, wenn er lügt. So ist es auch bei Carlo Collodi, dem Autor des Kinderbuches, der erst posthum zu Ruhm gelangte, nachzulesen. Der Regisseur Richard Schmetterer und sein Spiegelkabinett legen den Schwerpunkt aber nicht auf die Moralpredigt, dass man nicht lügen sollte, sondern erarbeiten in 70 Minuten den Wandel einer unsympathischen Puppe zu einem netten menschlichen Jungen. Pinocchio regt sich zwar sowohl am Anfang, als auch am Ende des Stückes darüber auf, dass er keine Birnen essen mag, allerdings hat er Willen gezeigt, seinen Vater zu retten.
Ein Stück mit wenig Kulisse
Gerade eine Geschichte wie „Pinocchio“ lebt stark von den verschiedenen Orten, an denen alles stattfindet. Da der Dschungel eher für performative Inszenierungen steht, ist es also wenig verwunderlich, dass es kein klassisches Bühnenbild gibt. Von der Decke hängen weiße Tücher in Form von Röhren, die im Raum versetzt angeordnet sind. So können sich die Darstellerinnen und der einzige Mann auf der Bühne sowohl hinter den Tüchern verstecken, als auch in diese hineingehen, um Schattenspiele zu erzeugen. Ob Kinder ab 7 Jahren bei diesem Bühnenbild, trotz unterschiedlicher Beleuchtung, auch tatsächlich erkennen, wann Pinocchio im Wald, im Gasthaus oder im Maul des Wales ist, bleibt offen.
Sehr viel Akrobatik und eine Harfe
Was beim Bühnenbild fehlt, gleicht die Choreographie aus: Soffi Schweighofer als Pinocchio schafft durch ihre Art der Bewegung sofort den Eindruck, dass sie aus Holz besteht. Aber auch Clara Diemling und Till Frühwald stechen vor allem in ihrer Rolle als Kater und Fuchs heraus. Frühwald sagte in einem Interview, dass gerade der Kater für ihn die interessanteste Rolle ist, da er hier die Körperlichkeit der Figur am stärksten ausleben kann. Da darf er sich auf dem Boden rollen, seine Gefährtin mit vielen Hebefiguren an sich binden, laufen, was das Zeug hält und den kleinen Pinocchio so lange umschmeicheln, bis ihm dieser auf den Leim geht.
Musikalisch wird das Stück von Isabell Stoßfellner an der Harfe begleitet, die auch in die Rolle der Fee schlüpft. Dabei kommt das märchenhafte Element des Stückes klar heraus und die Musik verleiht ihm zusätzlich eine fantastische Komponente.
Wer auf gut choreografierte Täuschungsszenen Wert legt, ist bei „Pinocchio“ richtig. Ob man die kleine Holzpuppe per se mag oder nicht, oder ob sie einem in dieser Inszenierung ans Herz wächst, bleibt jedem und jeder selbst überlassen.
Der Sänger und Dramatiker Oren Lavie, 1976 in Israel geboren, schrieb das Kinderbuch „Der Bär, der nicht da war“. Es wurde von niemand Geringerem als Harry Rowohlt übersetzt und von Wolf Erlbruch illustriert. Im Dschungel Wien ist nun eine zauberhafte, dramatische Fassung für Publikum ab 5 Jahren zu sehen.
Dabei werden die Erwachsenengedanken zwischen der ätherischen Sprache des kleinen Prinzen, dem Freundes-Surrounding von Pu dem Bären und der Identitätssuche des kleinen „Ich bin ich“ kräftigst gekitzelt.
Der Wiedererkennungswert bleibt erhalten
Den makemake Produktionen gelang das Kunststück, die Buchillustrationen auf der Bühne wiedererkennbar zu produzieren. Die Bäume und der Wald sehen aus wie die Bäume und der Wald von Erlbruch. Auch die Bären, die sich anfangs aus kleinen, braunen Blättern entfalten lassen und die Schildkröte, die ihre Taxidienste anbietet, scheinen sich aus ihrer papierenen Umgebung befreit zu haben.
Zu Beginn sind Manfred Engelmayr, Birgit Kellner und Christian Schlechter erst einmal damit beschäftig, sich die Requisiten auf der Bühne zurechtzurichten. Dabei werden Overheadprojektoren verschoben und eine kleine, improvisierte Drehbühne aufgebaut. Schließlich brauchen die Puppen, die danach in Erscheinung treten, auch ein dementsprechendes Umfeld.
Sind wir Freunde?
Ein Bär, eine Kuh, ein Salamander, ein Pinguin und eine Schildkröte treten im Lauf der Vorstellung auf. Ob sie Freunde sind oder nicht, wissen sie selbst nicht so ganz genau. Auf alle Fälle machen sie allerlei Unsinn, reden vermeintlichen Blödsinn, tanzen und sind lustig. Und bemerken dabei gar nicht, dass hinter dem Blödsinn hoch Philosophisches steckt und dass der kleine Bär auf der Suche nach sich selbst ist.
Der Bär, der nicht da war (c) Julia Haas
„Was machst du?“, fragt dieser an einer Stelle den betriebsamen Pinguin, der am Blumenzählen ist. Dabei hat er große Mühe, sich die Zahlen tatsächlich auch zu merken. „Ich denke“, ist seine knappe Antwort und auch, dass er dem Bären zum Denken eigentlich nichts übrig lassen kann. Als der Bär das kleine Wörtchen „schön“ dann noch zu einem Zahlwort für Blumen deklariert, wird es dem Pinguin zu dumm. „Schön“ ist keine Zahl“, kontert er, worauf der Bär meint, dass „schön“ eine Sonderzahl für Blumen sei, die man sich zumindest leicht merken könne.
Viel Musik und eine Taxi fahrende Schnecke
Großen Spaß haben die Kinder, als der mit einem Trenchcoat fein ausstaffierte Salamander auf der E-Gitarre einen Rock´n Roll zum Besten gibt und dabei die Kuh mit dem schönen Wimpernaufschlag sein größter Fan wird. Herrlich die Idee des Autors, eine Schildkröte als Taxi auftreten zu lassen, wobei man sich den Kopf zerbrechen muss, ob es sich um ein Schildkrötentaxi oder um eine Taxischildkröte handelt. „Nach geradeaus wollen alle!“, erklärt sie, als sich der Bär eben dort hinbringen lassen möchte. Aber auch, dass der Weg dorthin sehr, sehr weit sei und man geradeaus nur über Verirrungen erreichen könne.
Der Bär der nicht da war (c) Julia Haas
Der Zauber der Vorführung liegt in den häufig eingesetzten Schattenspielen, aber auch in der wunderbaren „feel-good-music“, die zum Teil live auf der Bühne von Engelmayr produziert wird. Nicht zuletzt aber vor allem im grandiosen Text, in dem es dem Bären zum Beispiel möglich ist, „viele, verschiedene Arten von Stille zu hören“. Oder mit welchem das Schildkrötentaxi über den Fort- und Rückschritt direkt beim Mittagessen ankommt.
„Der Bär, der nicht da war“, beeindruckt die Kinder durch die wunderbar lebendige Puppenführung, die nichts verbirgt und dennoch spannend ist. Die Erwachsenen dürfen sich an der Wandelbarkeit und Durchlässigkeit erfreuen, die der Text fürs Denken, egal in welche Richtung, anbietet. Wie gut, dass der Pinguin doch noch etwas zum Nachdenken übrig gelassen hat! Wer entdecken möchte, ob es dem Bären tatsächlich gelingt, sich selbst zu finden, hat noch bis zum 11. Dezember dazu Gelegenheit.
Kleiner Tipp: Das Kinderbuch gibt es an der Kasse des Dschungel zu kaufen und bereitet den Kleinen unter dem Christbaum sicherlich eine bärige Freude.
Der Dschungel Wien brachte mit dem KünstlerInnen-Kollektiv SILK Fluegge eine Performance auf die Bühne, die jede Altersklasse betrifft.
Rescue (c) Phil Lindner
Ist das nicht Baywatch?
Vier junge Menschen kommen in swimsuits und mit Bojen ausgestattet auf die Bühne. Im Hintergrund wird ein monotones Geräusch abgespielt, das gemeinsam mit dem wellenförmigen Licht eine gewisse Ruhe ausstrahlt. Die Anspielung auf die amerikanische Serie Baywatch ist nicht nur unverkennbar, sondern von der Regisseurin auch aktiv gewollt. Im Gespräch mit Silke Grabinger betont sie die Wichtigkeit, ein Medienbewusstsein in ihre Arbeiten zu bringen. Das bedeutet nicht nur inhaltlich, sondern auch bei der visuellen Umsetzung. Sie bezieht sich auf die schnellen Bildschnitte am Ende der Serie, bei dem die Körper der Baywatch Crew in den Mittelpunkt gerückt werden und sich somit die Frage nach den Schönheitsidealen eröffnet. Durch die bedachtsamen Bewegungen, welche die vier Charaktere machen, wird parallel mit dem Gefühl der Verlangsamung gearbeitet. Die Aufmerksamkeit des Publikums liegt beim Körper, welcher jedoch entfremdet wirkt.
Das Motiv des Wassers wird über die ganze Performance hinweg verwendet. Wasser steht für eine Gewalt, die man nicht kontrollieren kann. Es initiiert aber auch zum Mut einer Selbstüberschreitung und knüpft gleichzeitig an grundsätzliche Ängste an. Für die Choreografin schafft dies nicht nur einen politischen Bezug, sondern bietet auch viele andere Assoziationen.
Ein Stück in Bildern – viele Assoziationen sind möglich
Silke Grabinger produziert durch das Spiel mit dem Körper Bilder, die sehr intensiv sind. Ein Beispiel dafür ist die Solo-Szene von Fabian Janicek. Seine Rufe „Help! Help me please! Save me please!“ erhalten durch den Lichtspot auf ihn eine Eindringlichkeit, die durch seine Parcours-Fähigkeiten noch untermalt werden. Die Message: Jeder ist irgendwo gefangen und braucht Hilfe. Hier lässt sich ein gewisses Paradoxon feststellen, da das Erklimmen und Erobern verschiedener Architekturen und Objekte im Parcours-Lauf die größtmögliche Freiheit bietet. In einem geschlossenen Theatergebäude wird jedoch deutlich, dass man trotzdem gefangen sein kann. Aber auch die zwischenmenschliche Hilfe und Verletzbarkeit ist in dem Stück ersichtlich. Jerca Roznik Novak nimmt die Schnur einer der Bojen und legt sie als Trennlinie auf den Boden, während die anderen Performer versuchen, hinter diese Absperrung zu gelangen. Die Choreografien ergänzt hier das Stück um die Facette des Eigenschutzes. Sie betonte im Publikumsgespräch öfter, dass es sich auch um Rettung handelt, wenn man einsieht, dass man der anderen Person nicht mehr helfen kann.
Performance-Charakter – Das Geschehen schwappt von der Bühne ins Publikum
Rescue (c) Phil Lindner
Bei Performances spielt oft nicht nur das Geschehen auf der Bühne eine Rolle, sondern auch die Interaktion mit dem Publikum. Durch das Verteilen der Bojen im Bühnenraum wird das Stück erweitert, indem die Schranke zwischen fiktivem Bühnengeschehen und betrachtendem Publikum aufgelöst wird. Für Grabinger sind die Reaktionen des Publikums auch Statements, weil sich diese oft in verschiedenen Varianten zeigen. Anfangs denkt man, dass sich dieses Stück nur um die Performer dreht. Das Ende hingegen zeigt das Gegenteil auf: „I’m here“, beruhigen die vier Darsteller und Darstellerinnen die Leute, welche die Bojen halten. Plötzlich wird klar, dass nicht nur sie auf Rettung hoffen, sondern sie auch Rettung bieten.
Auf der Bühne waren: Michaela Hulvejová, Fabian Janicek, Matej Kubus, Jerca Roznin Novak
Fragt man in Österreich nach den berühmtesten Kinderbuchautorinnen, so gibt es zwei Namen, die sofort genannt werden. Astrid Lindgren und Christine Nöstlinger.
Letztere, eine Generation jünger als Lindgren, feierte am 13. Oktober – Kinder wie die Zeit vergeht – ihren 80. Geburtstag. Ein Grund, sie mit einem Stück hochleben zu lassen, das erst vor sechs Jahren veröffentlicht wurde. Ihre „Lumpenloretta“ hatte im Kasino am Schwarzenbergplatz, der Dependance des Burgtheaters, in ihrem Beisein Premiere.
Ein Marienkäfer fliegt von Glatzes Finger geradewegs auf die große Leinwand hinter ihm und zerplatzt dort blutig, während sich die zarte Anfangsmusik in harte, rockige Klänge verwandelt. Glatze, das ist ein Junge, der in die Unterstufe des Gymnasiums geht, in einer Vorstadtsiedlung mit Einfamilienhäuschen wohnt und nach einem Läusebefall seine Haare abrasiert hat. Wachsen will er sie nicht mehr lassen, denn die Glatze ist seine Rebellion gegen seine pedante Mutter, bei der alles ihre Ordnung haben muss.
Schon der Beginn lässt ahnen, dass das Stück um die freche Nachbarin von Glatze, Loretta, alles andere als harmonisch verlaufen wird. Sie ist mit ihrer Familie frisch in die Siedlung zugezogen und wird sogleich von allen Erwachsenen schief beäugt. Die Unordnung in ihrem Vorgarten, die laute Rockmusik, ihre rotzfreche Art, sich zu nehmen, was sie braucht, alles stört die Mütter von Glatze und Locke, Glatzes Freundin mit dem schönen, blonden Lockenkopf.
Ein verwahrlostes Kind
Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater
Während Loretta im Garten Kunststücke übt, um später einmal in einem Zirkus arbeiten zu können und Glatze sich unsterblich in sie verliebt, übersehen die Erwachsenen das Elend, in dem das Kind aufwächst. Ihr Bruder muss von Lorettas Eltern als Säugling in eine Pflegefamilie weggegeben werden und ihr Vater, genannt Zopfers, weil er einen hüftlangen Zopf trägt, hat alle Hände voll zu tun, seine Familie mit dem Verkauf von Altwaren über Wasser zu halten. Die nur in Erzählungen präsente Mutter ist depressiv und lässt Loretta auf ihren Reisen mit ihrem Mann tagelang alleine. Dass da so etwas Ähnliches wie ein Pippi-Verschnitt anklingt, verwundert nicht. Aber leider ist die „Lumpenloretta“, von den noblen Damen der Nachbarschaft so genannt, weil sie nur getragenes Gewand ihr Eigen nennt, nicht mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, hat kein Pferd und kein Äffchen und lernt im Selbststudium, weil ihre Eltern sie verwahrlosen lassen und in keine Schule schicken.
Nöstlingers Figuren sind wie aus dem Alltag geschnitten. Einem Alltag, der eben all-täglich ist und ohne fantastische Ausflüchte auskommen muss. Der Großvater von Locke erzählt fast – eine lustige Geschichte von seinem Katheter, die er bei seinem letzten Reha-Aufenthalt erlebte. Zecke und Zahn – die Freunde von Glatze und Locke – sind permanent mit dem Fahrrad unterwegs oder hängen in der Sommerhitze auf der Hollywoodschaukel bei Locke rum. Glatzes Vater erträgt stoisch den Kochstreik und die Launen seiner Frau und Lockes Mutter wird von ihrem „Ernsti“ betrogen.
Eine tolle, einfühlsame Regie
Nöstlinger hat die Geschichten rund um ihre Heldinnen und Helden nicht erfunden, es scheint so, als ob sie das, was in unser aller Leben so oder so ähnlich vorkommt, lediglich zu Papier gebracht hätte. Dass daraus ein höchst vergnügliches und spannendes Theaterstück wurde, hat sie Martina Gredler zu verdanken. Die Regisseurin verfolgte eine höchst einfühlsame und zugleich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene nachvollziehbare Personenführung. Ähnlich wie bei „Pünktchen und Anton“, das in der vorigen Saison im Kasino Premiere hatte, kann man in die Wohnsituation von Glatze und Loretta Einsicht nehmen. (Bühne Jura Gröschl, Kostüme Moana Stemberger) Während in dem einen Haus alles proper und auf Hochglanz poliert ist, stapeln sich im anderen die Umzugskisten und der Müll. Während die einen mit einem silbernen Löffel im Mund auf die Welt kamen, reichte es bei Loretta eben nur für einen aus Blech, wie sich Lockes Opa ausdrückte. Er ist es, der dafür sorgt, dass Loretta durch das Einschreiten einer Sozialarbeiterin in eine Pflegefamilie kommt. Zu ihrem Glück, aber Glatzes großem Leid.
Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater
Ganz wunderbar, wie Gredler die ersten Liebesfunken der jungen Menschen in Zeitlupe gießt und mit einem Liebessong untermalen lässt. Einfach nur poetisch und witzig zugleich, wie Loretta nachts grüne Glühwürmchen fängt und in ihr T-Shirt steckt, bis sie unter ihrer Short wieder zum Vorschein kommen. Köstlich, wie Christine Nöstlinger selbst als Buschauffeurin in einem Video kurz auftaucht und verschmitzt ins Publikum lacht. Ein wunderbarer Regieeinfall folgt dem nächsten, ohne marktschreierisch oder aufgesetzt daherzukommen. Gredler erzählt mit viel Kreativität und wie aus einem Guss Nöstlingers Geschichte ohne Pathos aber mit jeder Menge Humor.
Wie und ob es Glatze schließlich gelingt, seinen Liebeskummer abzulegen, wird hier nicht verraten. Nur so viel: Jeder Liebeskummer hat ein Ablaufdatum und es kann nicht schaden, für den Zirkus zu üben. Wer weiß, wen man dort einmal treffen wird!
Schauspielerische Glanzleistungen
Ein wunderbares Stück Jugendliteratur aus Österreich von einer Autorin, die bereits mehreren Generationen mit ihren Geschichten vom Franz und Mini Freude bereitet hat. Verpackt in eine tolle Inszenierung mit ebenso tollen Schauspielern. Allen voran Sarah Viktoria Frick, die an der Burg auch in der Onkel Wanja-Inszenierung zu sehen ist. Ihre Lumpenloretta in der bunt gemusterten Wolford-Strumpfhose sprüht nur so vor Lebensfreude und Ausgelassenheit, lässt aber auch die Einsamkeit und Angst des alleine gelassenen Mädchens erahnen. Simon Jensen als Glatze darf gekonnt alle Höhen und Tiefen einer jungen, verliebten Seele aufzeigen. Nélida Martinez, noch im 3. Jahrgang des Max Reinhard Seminars, genießt ihre neue Freundin, bis ihr durch die Dauerokkupation von Loretta schließlich die Nerven durchgehen. Florian Appelius (im 4. Jahrgang der Musik und Kunst Privatuniversität Wien) und Aaron Friesz, der schon in verschiedenen Rollen im Burgtheater, aber auch im Volkstheater und auf anderen wichtigen Bühnen zu sehen war, düsen gekonnt mit ihren Fahrrädern über die Bühne und treiben das Geschehen mit ihren Erzählungen zügig voran.
Stefan Wieland als Zopfers ist eine Idealbesetzung für einen unangepassten Gesellschaftsrebellen. Robert Reinagl als Glatze-Vater verputzt rasch noch vor Betreten seines eigenen Hauses seine unautorisiert gekauften Jausenbrote. Hans-Dieter Knebel werkelt als Opa unter der Spüle in Lorettas Haus und versteht als einziger, für das Kindswohl aktiv zu werden, während Petra Morzé als Glatze Mutter und Dunja Sowinetz als Locke Mutter alle Hände voll zu tun haben, um den Schein von funktionierenden Familien aufrecht zu erhalten.
Eine Empfehlung nicht nur für Nöstlinger-Liebhaberinnen und Liebhaber, sondern für alle, die ein intelligentes und gut gemachtes Jugend-Theaterstück sehen möchten.
Wawa, wawa – das war das einzige Wort, das Hellen Keller 1887 sprechen konnte. Es war auch das einzige Wort, das sie schon als Baby sprach – bis sie nach einer Erkrankung im Säuglingsalter taubblind wurde.
Die 1880 geborene Helen Keller ist in Amerika eine Ikone. Sie gilt als Paradebeispiel, wie es trotz eines körperlichen Handicaps gelingen kann, sein Leben zu meistern und sogar großartige Leistungen zu vollbringen.
Ein Bühnenbild ohne Farbe und herrliche Kostüme wie anno dazumal
Das Theater der Jugend im Zentrum hat sich dieses Stoffes in umwerfender Art und Weise angenommen und bietet unter dem Titel „The Miracle Worker“ von William Gibson einen Einblick in die prägendste Lebensphase von Helen Keller. Sandra Cervik inszenierte psychologisch extrem feinfühlig den packenden Stoff, in dem die Begegnung der siebenjährigen Helen mit ihrer Lehrerin geschildert wird. Nathalie Lutz und Susanne Özpinar schufen sowohl ein abwechslungsreiches Bühnenbild als auch Kostüme, die sich an die Fotos, die es von Hellen Keller aus dem 19. Jahrhundert gibt, anlehnen. Mit der Entscheidung, die Bühne in Schwarzweiß zu halten und auch die Videoeinspielungen so zu gestalten, wird dem Publikum zumindest eine Dimension versucht zu vermitteln, die Helen Keller zeitlebens fehlte: Farben.
Das störrische, rebellierende Kind, das für seine Umgebung beinahe unerträglich wird, da es unfähig ist, sich adäquat auszudrücken, wandelt sich unter dem Einfluss der jungen Lehrerin Annie Sullivan in einen Menschen, für den die Erkenntnis der Sprache zum alles bestimmenden Lebenskriterium wird. „Wie erzähle ich, was ich war? Abgeschnitten von allen. Wie ein Schiff im Nebel. Ein Phantom in einer Nicht-Welt“, hört man zu Beginn eine weibliche Stimme vom Band und weiß, dass es Helen Keller selbst ist, die hier ihre Geschichte erzählen wird.
Maresi Riegner hat ein unglaubliches Schauspieltalent
THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman
Wunderbare schauspielerische Leistungen, herausragend dabei Maresi Riegner in der Rolle von Helen, machen die Vorführung zu etwas ganz Besonderem. Die 25-Jährige, die gerade in der Rolle der Gerti Schiele im Kinofilm „Egon Schiele: Tod und Mädchen“ zu sehen ist, studiert im letzten Jahrgang an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Bereits seit 2012 steht sie vor der Kamera, im Theater der Jugend mit dieser Rolle aber das erste Mal in einer Hauptrolle auf der Bühne. Nicht nur, dass man ihr in ihrer Rolleninterpretation das 7-jährige Mädchen abnimmt, sie erweckt auch den Anschein, derart in den Zustand der Taubblindheit eingetaucht zu sein, dass es keinen einzigen Augenblick gibt, in dem sie das Gefühl vermittelt, hier als Schauspielerin zu agieren. Wer ein herausragendes, junges schauspielerisches Talent am Beginn seiner Theaterkarriere sehen möchte, soll sich diese Inszenierung ansehen.
Felicitas Franz hat das Publikum auf ihrer Seite
THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman
Großartig an ihrer Seite auch Felicitas Franz als Annie Sullivan. Sie hat die meiste Zeit über mit den Wutausbrüchen von Helen zu kämpfen, was körperlich sichtlich anstrengend ist. Wer schon einmal ein tobendes Kind bändigen wollte, kann das nachvollziehen. Sullivan kämpft in der Inszenierung nicht nur mit den Herausforderungen, die ihr ihre Schülerin stellt, sondern auch gegen die Eltern. Diese (Stephanie K. Schreiter und Uwe Achilles) überbehüten ihr Kind und können nicht verstehen, dass Erziehung, selbst von behinderten Kindern, auch etwas mit Konsequenz zu tun hat. Ansteckend sind Annies Lachanfälle über ihre eigenen, trockenen Aussagen. Das Publikum darf mit Felicitas Franz eine kumpelhafte, junge Frau erleben, der es trotz ihrer schweren Jugend nicht an Humor, Geradlinigkeit und starkem Willen zum Erfolg fehlt. Dass korrekte Rechtschreibung nicht gerade ihr Ding ist, vermittelt sie mit der höchst witzigen Metapher: „Rechtschreibung ist wie eine Überraschungsparty. Da tauchen Typen auf, mit denen niemand gerechnet hat.“
Lynne Williams spielt Viney, das Dienstmädchen der Familie, das mit Witz den oft absurden Anweisungen von Captain Arthur Keller, ihrem Dienstherren, Paroli bietet.
Der Widerspänstigen Zähmung
THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman
Die anfängliche voyeuristische Haltung des Publikums wandelt sich mit Voranschreiten des Geschehens in eine empathische und man wünscht sich nichts mehr, als das Annie Sullivan endlich mit ihrer Fingeralphabetmethode bei ihrem Schützling Erfolg hat. Bis es soweit ist, durchlebt Helen aber ungezählte Wutausbrüche, räumt den Esstisch mehrfach ab, schmeißt mit Dingen um sich und verweigert den Löffel als Esswerkzeug. Nur die Puppe, die ihr Annie als Antrittsgeschenk mitbrachte, ist ihr wertvoll. Der Baum vor dem Haus ist ihr einziger Zufluchtsort, an dem sie sich beschützt fühlt.
Das Hin und Her zwischen der Liebe der Eltern und der Strenge der Lehrerin kann für die Erwachsenen im Publikum auch als Projektionsfläche für ihre eigenen Erziehungsmethoden herhalten. Heute haben sich die Methoden, taubblinde Kinder zu erziehen, Gott sei Dank radikal geändert. Die Frage zwischen Strenge und bedingungsloser Liebe, die Kindern alle Freiheiten lässt, stellt sich aber bei jeder Erziehungsaufgabe immer wieder von Neuem.
Pure Emotionen in Moment der Erkenntnis
THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman
Helen hat die Schwierigkeit, nicht zu wissen, dass es so etwas wie Sprache gibt. Sie weiß nicht, dass jedes Ding einen Namen hat. Ihr das beizubringen, gleicht der Widerspenstigen Zähmung. Unglaublich berührend ist die Schlüsselszene gestaltet, in welcher das taubblinde Mädchen diesen Zusammenhang begreift. Wawa – das Wasser wird zu jenem Triggerwort, bei dem Helen den Zusammenhang zwischen den Fingerzeichen und der Sprache versteht. Wie es auch in der Biographie von Helen Keller nachzulesen ist, wird diese Erkenntnis zur absoluten Zäsur in ihrem Leben. Aus dem bockenden, störrischen Kind wird in einem einzigen Moment ein Mensch, der beginnt, das Leben und seine Umwelt zu verstehen. Der fähig wird, sich auszudrücken und mit seiner Familie und seinen Mitmenschen zu kommunizieren.
„Wawa – mit diesem kleinen Wort begann mein Leben. Das Geheimnis der Sprache lag nun vor mir. Von nun an hielt ich die Welt in meinen Händen. Meine Hände standen nie mehr still.“ Am Schluss ist es wieder die Stimme von Band, die Helen Keller erklären lässt, wie ihr besonderer Spracherwerb ihr Leben veränderte.
Sandra Cervik ist es zu verdanken, dass in ihrer Regie die Emotionen der Beteiligten so glaubhaft über die Bühne kommen, dass so manche Augen im Publikum feucht werden. Es ist kein nach Effekt heischendes Tränendrüsendrücken, das hier provoziert wird. Es ist echte Anteilnahme, die sich am Glück der Hauptfigur auf der Bühne und ihrer Familie erfreuen kann. Das muss Cervik erst einmal jemand nachmachen.
Ein wunderbares Stück, das nicht nur Kindern ab 11 zu empfehlen ist, sondern auch Erwachsenen. Selbst wenn sie sich alleine oder in Begleitung von Freunden die Vorstellung ansehen. Prädikat: SEHR SEHENSWERT.