F unktioniert eine Theaterproduktion, die nicht geprobt werden kann? Haben Kinder Spaß, wenn ihnen nicht eine durchgehende Geschichte präsentiert wird? Kann man eine Inszenierung nach einer „Bauanleitung“ gestalten?
Die schallundrauch agency von Gabriele Wappel und Janina Sollmann begaben sich mit ihrer neuen Produktion „Björn ohne Bretter“ auf bis dahin von ihnen noch nicht erprobtes Terrain. Sie wollten versuchen, ob es möglich ist, eine Theaterproduktion so zu gestalten, dass jede einzelne Aufführung einzigartig ist. Sowohl für das Publikum als auch für das Ensemble.
Und so kamen sie auf die Idee, ein Raster zu erstellen, das zwar die Grundstruktur der Vorstellung vorgab, dessen Protagonistinnen und Protagonisten jedoch vom Publikum durch die Ziehung von Karten blind bestimmt wurde. Auf diese Weise ergeben sich für das 8-köpfige Schauspielteam bei jeder Vorstellung neue Kombinationen in der Besetzung der vorgesehenen Soli, Zweier- und Viererauftritte. Einzig drei Songs, so ins Ohr gehend und vom Refrain her easy zu merken, dass leicht mitgesungen werden kann, sind dabei fixe Punkte.
„Björn ohne Bretter“ (Foto: Franzi Kreis)
Der Titel der Vorstellung „Björn ohne Bretter“ rührt von der Bauanleitungs-Idee her, die im Möbelbau global durch ein „unmögliches Möbelhaus aus Schweden“ bekannt wurde. Nur dass eben Wappel und Solimann weder richtige Bretter zusammenschrauben, noch Bühnenbretter benötigen, um ihr Stück spielen zu können, sondern eine Anleitung zur Stückegestaltung als Raster ohne konkrete, weitere Angaben verwenden.
Der Inhalt ist aufgrund der wechselnden Personen-Konstellationen nicht wirklich festgelegt. Die einzelnen Szenen holen die Kinder und Jugendlichen aber da ab, wo sie sind. Sie setzen kleine Spots auf den Umgang mit Freundschaften und Rivalitäten, sie erzählen von Kindheitserlebnissen und -träumen und sie verbreiten das Gefühl, an etwas teilzuhaben, das es nur im Hier und Jetzt gibt. Mit einer Dreier-Kontaktimprovisation beeindruckten am besuchten Spieltag Martin Wax, Gabriele Wappel und Simon Vosecek gleich zu Beginn der Aufführung. Während akrobatische Bewegungsmuster die Körper der Drei verbinden, erzählt Gabi locker und flockig, dass sie, als sie noch sehr klein war, Teil einer Bande war, in der ihr nur ihr großer, schwarzer Hund zu Respekt verhalf.
Michael Haller berichtet in seinem Solo über seine höchst unergiebigen Detektivversuche als Junge, Jules Mekontchou und Elina Lautamäki können sich ohne Brille und mit geschlossenen Augen nicht finden und suchen vergebens nach Schokolade und Sebastian Radon und Janina Solimann streiten munter drauf los, wer von ihnen denn nun der erste und der zweite „Mag“ seien.
Als das Publikum schließlich aufgefordert wird, selbst mitzumachen, ist die Stimmung im Saal auf dem Höhepunkt. Dass nach Vorstellungsende niemand nach Hause gehen mag, zeigt, wie gut das Experiment „Björn ohne Bretter“ funktioniert. Auch so kann man junges Publikum fürs Theater begeistern.
Wie war das noch, als kleines Mädchen in vielen Verkleidungen durch die Wohnung zu stapfen? Wie fühlte es sich an, das Lebensjahrzehnt, in dem ´“frau“ in den 20ern, den 40ern oder 60ern steckte? Und wie ist es, wenn man 80 ist?
Gibt es etwas, das ein Leben lang gleich bleibt? Gibt es etwas, das vergeht und nicht wieder kommt?
Die Choreografin und Leiterin des Vrum Performing Arts Collective machte sich mit ihren Tänzerinnen – die jüngste ist 9 Jahre alt, die älteste 80 – auf eine Erkundungsreise. In ihr zeigt sich nicht nur, dass Emotionen, Wünsche, Hoffnungen und Erinnerungen so etwas wie ein roter Faden im Leben jeder Frau sind. Es wird auch klar, dass der Spaß am Leben, die Freude am Tanzen ein Leben lang bleiben können. Aber auch die Vergänglichkeit des Körpers ist eines von vielen Themen in diesem Stück.
Mit einer geschickten Choreografie dürfen alle Beteiligten ihr Können altersgemäß ausspielen. Dabei wird die Jüngste gekonnt mit einer langen, wunderbar fließenden Hebe-Nummer unterstützt und die Älteste so wohldosiert in die Gemeinschaftschoreografien eingebunden, dass ihr Auftritt beim Zusehen kein tänzerisches Manko hervorruft. Aber auch Einzelauftritte stellen die Frauen mit ihren individuellen Bewegungsbegabungen in den Mittelpunkt.
Jede Menge Spaß wird dabei auch transportiert, so bei einer Verfolgungsjagd oder einem Versteckspiel, in dem die Tänzerinnen zu Skulpturen erstarren. Und es gibt – man staune – auch eine Szene, in der handfest gerangelt werden darf. Dabei bricht Tropp Frühwald das Klischee vom braven Mädchen und Frauchen gehörig auf und zeigt, dass auch Wehrhaftigkeit im Verhaltensrepertoire von Frauen durchaus Sinn macht.
Ein wandelbares Bühnenbild entführt in eine Wohnung, deren Räume sich ständig verändern und in der es sich auch ausgezeichnet verstecken lässt. (Ausstattung Zdravka Ivandija Kirigin) Darin, dahinter, davor und drumherum tanzen und bewegen sich Adriana Cubides, Maria Farcher, Gat Goodovitch, Milena Leeb, Giordana Pascucci und Emma Wiederhold und machen dabei klar, dass die Bandbreite an unterschiedlichen Arten Frau zu sein nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit der Persönlichkeit an sich zusammenhängt. Mit der Party, die am Schluss der Vorführung das Publikum von seinen Plätzen auf die Bühne zieht, gelingt letztlich auch eine individuelle Tanzerfahrung der Zusehenden, die richtig Spaß macht. .
Kurz vor der ersten Aufführungsserie im Dschungel Wien befasste sich auch die Gruppe tanz.coop mit dem Thema Frau und Tanz und brachte dabei ein gänzlich anderes, ästhetisches Produkt auf die Bühne. Ein weiterer Beweis, dass nicht nur Frausein an sich so viele unterschiedliche Möglichkeiten beinhaltet wie es Frauen auf dieser Welt gibt. Das zeigt auch, dass weibliche Kreativität so viele unterschiedliche Outputs hervorbringt, wie es kluge und begabte Frauenköpfe gibt, die dahinter stecken.
Informationen zu weiteren Aufführungen auf der Seite des Dschungel.
In stürmischer See navigierende Schifflein, hoch über der Bühne schwebende Seejungfrauen, ein gefährlicher Riesenkrake mit dicken Fangarmen, ein witziger Kobold, der nichts lieber tut als Bretter putzen – das alles und noch viel mehr gibt es derzeit im Theater der Jugend zu sehen.
Dort wird „Das kleine Meermädchen“ nach der Geschichte von Hans Christian Andersen aufgeführt. Jenes Stück, welches als Vorlage für „Arielle, die Meerjungfrau“ der Disney-Studios diente und daher wahrscheinlich wesentlich mehr Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bekannt sein dürfte als das Kunstmärchen seines Schöpfers aus Dänemark.
In der Regie von Gerald Maria Bauer, der auch das Bühnenbild gestaltete, erlebt das junge Publikum die aufregende Geschichte von Elida, der jüngsten von drei Meerjungfrauen-Schwestern. Von ihrem Vater wohlbehütet, ist es ihr nicht gestattet, an die Oberfläche zu schwimmen oder gar an Land zu gehen. Märchenlogisch richtig, dass sie das Verbot missachtet und schließlich in ein Abenteuer auf Leben und Tod gezogen wird.
Niklas Doddo als Piet, Christian Strasser als Plemperbier (Foto: Rita Newman)
Piet und Melusine, Cousin und Cousine, die sich nicht wirklich gut riechen können, müssen ihre Sommerferien gemeinsam verbringen und kommen sich dabei gehörig in die Haare. Dass auch noch eine große Portion Eifersucht dazu führt, dass „Sinchen“, wie Piet seine Cousine nennt, eine gefährliche Intrige spinnt, heizt die Spannung des Geschehens noch weiter an. Darin verzahnen sich auf kunstvolle Weise die Geschicke des Meermädchens und der beiden jugendlichen Streithähne.
Gut, dass Plemperbier – Hafenkneipenbesitzer und Seemannsgarnspinner – und ein Klabauter für genügend Witz, Humor und Ausgelassenheit sorgen. Während ihrer Späße und Schnurren hat das Publikum Zeit, sich von den abenteuerlichen Vorkommnissen ein wenig zu erholen.
Wie immer nützt das Theater-der-Jugend-Team die Bühnentechnik in vollstem Umfang und erzeugt so nicht nur illusionistische Bilder, in welchen die Seejungfrauen durch den tiefen Ozean schweben. Auch das „Triefende Bullauge“, die Hafenkneipe von Plemperbier, erscheint und verschwindet wie durch Zauberhand jeweils im richtigen Augenblick. Die opulente, orchestrale Begleit-Musik steht den kläglichen Sangesversuchen des weiblichen Krakenmonsters gegenüber, das als Gegenspielerin zum Meermann darauf aus ist, allen zu schaden, die ihr in die Quere kommen.
„Das kleine Meermädchen“ lässt das Publikum staunen, den Atem anhalten und lachen. Aber es erzählt auch von Mut und Selbstlosigkeit. Mehr kann man von einer Aufführung für Kinder und Jugendliche wohl nicht erwarten.
Shirina Granmayeh verliebt sich als Elida in Piet, gespielt von Niklas Doddo. Claudia Waldherr drangsaliert diesen als Melusine und schwebt auch schwerelos als Meerjungfrauen-Schwester, gemeinsam mit Julia Edtmeier, über die Bühne. Rafael Schuchter wird seinen Meerjungfrauen-Töchtern nicht Herr und Sara Livia Krierer bedroht die Unterwasserszenerie als Krakenmonster. Christian Strasser als Plemperbier und Stefan Rosenthal in einer hervorragenden Klabauter-Maske sorgen für jede Menge Lacher, die bei dem zwielichtigen und bedrohlichen Kapitän Boje, gespielt von Hannes Pendl, gar nicht erst aufkommen.
Es gibt Menschen, die haben immer Glück in ihrem Leben! Oder einfach nur die richtige Einstellung?
Herrn Jemineh passiert in seinem Leben so allerhand. Er fällt über die Treppe, er stolpert über ein Seil und fällt ins Meer, ein Elefant wirft ihn um und schließlich landet auch noch ein Blumentopf auf seinem Kopf. Da muss man schon eine gehörige Portion Optimismus in sich tragen, um sich nicht als Pechvogel zu fühlen. Herr Jemineh ist zum Glück mit dieser wunderbaren Charachtereigenschaft ausgestattet und kann jedem Missgeschick, das ihm widerfährt, eine gute Seite abgewinnen.
Im Dschungel Wien ist zurzeit das Stück „Herr Jemineh hat Glück“ für Kinder ab 5 Jahren zu sehen. Das Besondere daran ist, dass neben zwei Profitänzern (Akos Hargitay und Karin Steinbrugger) und den beiden Live-Musikern (Igor Gross – Schlagzeug und Matija Schellander – Kontrabass) sechs Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren als „Bewegungschor“ mit auf der Bühne zu sehen sind. Sie sind Mitglieder der Tanz*Hotel Junior*Company und haben sich in ihrer Freizeit dem Breakdance, dem Ballett und der Akrobatik beschäftigt. Als Lohn winkt, wie bei diesem Stück, ein Auftritt vor großem Publikum.
„Herr Jemineh hat Glück“ (Foto: Franzi Kreis)
Bert Gstettner, Leiter des Tanz*Hotels, ist nicht nur für die Theaterfassung des bekannten, gleichnamigen Kinderbuches von Heinz Janisch, sondern auch für die Inszenierung und die Choreografie zuständig. Er schafft mit einem Esstisch, zwei Sesseln und vielen, großen Plastikblumentöpfen nicht nur ein höchst wandelbares Szenario. Die Töpfe werden auch in unterschiedlichster Weise in die Choreografie einbezogen. Dienen sie zu Beginn dem jungen Ensemble als Sitzgelegenheit, aus der nur die kleinen Füßchen wie zarte Pflänzchen herausragen, wird mit ihnen später durch den Raum gerollt oder auf ihnen die Bühne überquert.
Der farbenfrohe grüne Hut und die grüne Krawatte von Herrn Jemineh charakterisieren den fröhlichen Mann, der aus allen Situationen als Glückspilz entsteigt, wunderbar. Zarte Pas de deux mit seiner Liebsten, aber auch Auftritte der Kinder, in welchen sie selbst singen und zugleich tanzen, Slapstick-angehauchte Szenerien, die das Publikum zum Lachen bringen und eine stimmige, musikalische Begleitung, bei der sogar Mini-Tontöpfe zum Einsatz kommen, lassen die „Erzählungen“ von Herrn Jemineh wie im Flug vergehen.
„Herr Jemineh hat Glück“ (Foto: Franzi Kreis)
Eine feine, einfühlsame Inszenierung, die eine Stunde Theaterglück bereithält.
Bravo! an Alina Faltyn, Jasa Frühwald, Vanessa Fülöp, Adam Heis, Julian Voglmayr und Leo Wacha.
Es gibt weltberühmte Kinderbuchautorinnen und -autoren. Astrid Lindgren ist eine solche, aber auch Erich Kästner fällt einem sofort ein, wenn über dieses Thema gesprochen oder geschrieben wird. In jüngster Zeit muss ein Name im gleichen Atemzug genannt werden: Ulrich Hub.
I
An der Arche um acht
In „An der Arche um acht“ müssen drei Pinguine vor einer neuerlichen Sintflut, weil Tier und Mensch Gott auf die Nerven geht, in eine Arche fliehen. Nicht nur, dass sie dabei einen von ihnen als blinden Passagier verstecken müssen, es dürfen ja nur immer Pärchen in das Schiff! Sie kommen dabei auch gehörig ins Grübeln, wie das denn nun mit Gott eigentlich so ist: Wo lebt er, hat ihn je jemand gesehen? Ist er eine Erfindung, oder tun die Pinguine gut daran, sich an Gebote zu halten, um am Ende ihres Lebens nicht bestraft zu werden?
Julia Burgers Regie lässt viel Raum nicht nur für Ulrich Hubs sprachliche Finessen, sondern das Publikum darf sich auch über jede Menge Klamauk freuen. Hans Dieter Knebel, Tino Hillebrand und Marta Kizyma watscheln als Pinguine mit entsprechendem Outfit amüsant über Styroporeis und fischen gleich zu Beginn so manchen Unrat aus dem arktischen Meer. (Bühne Claudia Vallant, Kostüme Sabine Ebner) Ihr Versteckspiel im großen Überseekoffer gleicht einer atemberaubenden Farce, bei der kein Lachmuskel unbeansprucht bleibt.
„An der Arche um Acht“ (Foto: Copyright: Reinhard Werner/Burgtheater)
Brigitta Furgler ist als weiße, schon etwas vergessliche Taube eine Idealbesetzung und Bernhard Moshammer begleitet das Geschehen nicht nur als alter Mann, dem man assoziativ auch göttliche Eigenschaften zuschreiben könnte. Er agiert mit einer Art auditiver Wundertüten-Kiste und sorgt damit für jede Menge Musik. Hubs Kunst liegt darin, nicht nur darin aufzuzeigen, dass es viele unterschiedliche Meinungen zum Thema Gott und Religion gibt. Vielmehr ist es die einfache und zugleich höchst prägnante Sprache, die der Autor verwendet, um auch komplexe, philosophische Gedankengänge zu beschreiben, die fasziniert. Die Tatsache, dass Humor dabei ein tragender Baustein ist, dass es keinerlei erhobenen Zeigefinger gibt, die Pinguine aber auch nicht aus ihrer Eigenverantwortung entlassen werden und Fatalismus letztlich keinen Platz hat, ist dabei ebenso wichtig. Die Dialoge weisen so viele Ebenen auf, dass sie für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet sind. Egal, welcher Religion man angehört, oder ob man atheistisch oder agnostisch denkt, die Grundfragen von Ethik und Moral und der Verantwortung für das eigene Tun bleiben letztlich immer dieselben. Auch für die drei Pinguine.
Ein Känguru wie du
Im Stück „Ein Känguru wie du“ verfolgt Ulrich Hub ein gänzlich anderes Thema, wenngleich um nichts weniger brisant. Django, ein großes Känguru, fühlt sich im Boxring richtig wohl. Sein Handicap: Es ist schwul und hat keinen Freund. Deswegen lässt es sich darauf ein, mit dem weißen Tiger Pascha und dem schwarzen Panther Lucky in den nahen Zirkus mitzukommen. Die beiden Raubkatzen glauben fälschlicherweise, dass ihr Trainer ebenfalls schwul ist und suchen nach einem geeigneten Partner für ihn, um endlich eine richtige Familie gründen zu können.
Im Vorfeld der Uraufführung gab es einige Turbulenzen, musste doch das Theater in Baden-Baden das Stück vom Spielplan nehmen. Nicht, weil es lautstarken Gegenwind gegeben hätte, sondern weil das Publikum in stillem Protest schlichtweg ausblieb. Dies führte man darauf zurück, dass Elternvertretungen ihre Kinder nicht mit dieser Thematik konfrontieren wollten. In Wien blieb diese Reaktion aus. Vielmehr wissen hier die Verantwortlichen von Publikumsgesprächen zu berichten, in welchen klar wird, dass Kinder weder eine Scheu haben, über dieses Thema zu sprechen, noch dass es in ihrem Lebensalltag keinen Platz hätte. Erzählen sie doch von Verwandten oder erwachsenen Freunden, die es mit dieser sexuellen Ausrichtung schwer haben, oder freuen sich darüber, wenn diese einen Partner fürs Leben fanden.
Ein Känguru wie du (Foto: ISKRA Foto Max Gruber)
Die Inszenierung von Nika Sommeregger, Gründerin des teater Iskra, bleibt an Ulrich Hubs rasantem Erzähltempo. Da werden Kunststücke vollführt – Sitz!, Platz! Männchen machen! Pfötchen geben! Da flanieren die beiden Raubkatzen arbeitsbefreit am Strand und wundern sich, warum die Menschen in Panik davonlaufen. Da treffen sie auf das boxende Känguru und haben höchsten Erklärungsnotstand, als sie draufkommen, dass es schwul ist und sie selbst jedoch mit jeder Menge Vorurteile behaftet sind. Ganz so, wie auch ihr Trainer, der Zirkusdirektor.
Die Schimpftirade, die er gegen das Känguru loslässt, findet sich so an jedem x-beliebigen Stammtisch landauf und landab. Einfach großartig, wie die Kinder im Publikum sich darüber amüsieren und die Verlogenheit und Angst der Erwachsenen in dieser Suada spielend durchschauen.
Auch der wunderbar verklausulierte Verweis auf die monegassische Prinzessin, die alljährlich einen Pokal für den besten Zirkusauftritt vergibt und damit extra mit dem Moped angeschauscht kommt, macht mehrfach Spaß. Die fantasievollen, zum Teil gehäkelten Kostüme und der Zirkusvorhang mit Mehrfacheinsatz (Ausstattung Peter Ketturkat, Karin Bayerle) reichen völlig aus, um in Gedanken die unterschiedlichen Szenerien zu bereisen.
Die Bedenken Erwachsener, Kinder wären mit dem Stück überfordert, oder das Argument, die darin vorkommenden Ausdrücke wären nicht kindgerecht, gelten nicht. Wer auch nur einmal im Pausenhof einer Volksschule den Kindern aufmerksam zugehört hat, weiß, dass Warmduscher noch eine der harmlosesten Beschimpfungen ist, die dort verwendet werden. Gewiss, es gibt Unterschiede, was die Pausengespräche betrifft, je nach dem sozialen Umfeld der Kinder. Aber zu glauben, das Thema Homosexualität würde vor den Toren der Schulen Halt machen, ist reichlich naiv.
Dass ausgerechnet das schwule Känguru mit Tatkraft und Führungsqualität schließlich die alles entscheidende Zirkusvorstellung rettet, bei welcher der Zirkusdirektor vor Lampenfieber versagt, entspricht ganz und gar nicht den stereotypen Vorstellungen von homosexuellen Männern. Wie wunderbar, dass Ulrich Hub hier den Charakter der Menschen in den Vordergrund stellt und wissen lässt, dass es schließlich nicht darauf ankommt, ob Mann auf Mann, Frau auf Frau oder wie oder was oder wen überhaupt steht.
„Dreihundertfünfundsechzig+“ ist ein subjektiv-objektiver Rückblick auf das Jahr 2016, nicht nur aus der Sicht der jungen Generation.
,Insgesamt 12 Jugendliche aus Wien, Graz und Linz arbeiteten an dem Text, für den sie 2016 ein Tagebuch führten und darin höchst Subjektives, aber auch Einträge zu weltpolitischen Ereignissen notierten. Die Regisseurin Claudia Seigmann verfasste gemeinsam mit Claudia Tondl (im writers-room-Einsatz auch bei der Seestadt-Saga des Schauspielhauses) die dramatische Fassung, bei der ein Chor mit acht jungen Menschen, sowie drei Schauspielerinnen und einem Schauspieler auf der Bühne des Dschungel Wien stehen.
Obwohl: „Die Bühne“ gibt es nicht, denn das Publikum nimmt auf Hockern dort Platz, wo normalerweise gespielt wird. Der Chor agiert entweder inmitten der Besucherinnen und Besucher, oder auf einem kleinen Podest an einer Seite, später auch auf den von den Sitzbänken leergeräumten Rängen.
Wen oder was hast du 2016 neu kennengelernt? Bei welchem sportlichen Ereignis hast du mitgefiebert? Wo warst du 2016 auf Urlaub? An welches Ereignis kannst du dich noch genau erinnern?
Schon im Foyer dürfen sich die in Gruppen eingeteilten Zuseherinnen und Zuseher anhand von Fragen auf Kärtchen selbst Gedanken machen, woran sie sich eigentlich erinnern und kommen darauf, dass das, was sie persönlich erlebt haben, spontaner aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann als durch Medienereignisse kommunizierte Vorkommnisse. Kurz darauf im Saal fühlt man sich ertappt, denn kein einziges, vorgelesenes Datum ist in der Erinnerung so abgespeichert, dass man es sofort mit einem Großereignis in Verbindung bringen kann. Und doch waren es viele: Der Flüchtlingsstrom aus Syrien, der durch den Bau neuer Zäune hintangehalten werden sollte, das Kind in Aleppo, das mit staubigem Gesicht im Krankenwagen transportiert wurde, der Anschlag auf das Kulturzentrum Bataclan, jener in der U-Bahn in Brüssel oder jener in Nizza, die österreichische Bundespräsidentenwahl oder jene von Herrn Trump in Amerika.
„365 picture+“ (Foto: Reinhard Winkler)
Gekonnt wechselt dabei der Chor, ausgestattet mit kleinen Choreografien, mit den Auftritten der Profis ab. Im abgedunkelten Raum erhält der Auftritt Letzterer durch kleine Taschenlampen, mit denen sie sich selbst beleuchten, eine zusätzliche Dramatik. Dafür sorgt auch der höchst subtil eingesetzte Sound von Bernhard Fleischmann. Zurückhaltend dort, wo er poetischen Aussagen einen zusätzlichen Feinschliff verleiht, spannend da, wo die dramatischen Ereignisse die Jugendlichen an unserer Welt schier verzweifeln lassen. Die Musik drängt sich dabei niemals in den Vordergrund, sondern unterstützt die unterschiedlichen emotionalen Stimmungen passgenau.
Bauchschmerzen, Schularbeiten, Geburtstagsgeschenke und Überlegungen zur eigenen Zukunft, Erlebnisse in den Sommerferien und Schulpausen schieben sich zwischen Berichte dramatischer Weltvorgänge. So entsteht ein vielfältiges Kompendium der Befindlichkeit einer Generation, die aufgrund einer ausufernden Informationsflut nicht mehr das Privileg genießt, unbeschwert aufwachsen zu können. „Wieso passiert eigentlich so viel? Wieso passiert immer mehr und mehr?“, bringt eine der jungen Frauen die mediale Überflutung auf den Punkt. Die Angst vor Terroranschlägen steht der Freude eines erlebten Fallschirmsprunges gegenüber. Das Glück über die bestandene Matura wird vom politischen Rechtsruck überschattet, der den Jungen unerklärlich ist.
„365 picture+“ (Fotos: Reinhard Winkler)
Ab und zu darf aber auch gelacht werden. Über den 94-jährigen Herrn Joseph zum Beispiel, der jeden Samstag im Tabakgeschäft nach neuen Journalen fragt, dann aber doch immer dieselben Zeitungen kauft. Oder über den Sieg beim Armwrestling in der Schulpause, bei welchem der Schiedsrichter wegen Hausabschreibungspflichten ausgefallen war. Oder über die Aussage, dass Mädchen muskulöse Jungs muskellosen bevorzugen.
„Dreihundertfünfundsechzig+“ bietet auch viele Ebenen des Nach-denkens an. Über unsere eigenen Erinnerungen und Erfahrungen, die wir rasch zuschütten, über die differenzierte Wahrnehmung ein und desselben Vorkommnisses bei Alt und Jung, Mädchen oder Burschen, über die zunehmende Medienflut genauso wie über den Wunsch, Erlebtes festzuhalten. Eine gelungene Koproduktion mit Wien Modern, die am Premierenabend hauptsächlich von erwachsenem Publikum – fünfzig+ – beklatscht wurde.
Das Ensemble: Christina Maria Ablinger, Wolfgang Fahrner, Daniela Graf, Sarah Scherer.
Der Chor: Florian Haneder/Lino Eckenstein, Anna Kassmannhuber, Lena Lammer, Lorenz Manzenreiter, Atsut Moja Calle, Viktoria Rauchenberger, Christine Tielkes, Hanna Wirleitner.