Schwarz-weiße Radikalität

Schwarz-weiße Radikalität

An zwei aufeinanderfolgenden Abenden präsentierte Wien Modern ein „dance concert“ – also ein Tanzkonzert unter dem japanischen Titel „Shirokuro“. Übersetzt wird dieser Begriff mit schwarz-weiß und tatsächlich präsentierte sich das Bühnenbild im kleinen Saal des Brut ganz in diesen Nicht-Farben. In einem schwarzen Raum, darin ein schwarzer Konzertflügel kaum beleuchtet, strahlten von Beginn weg nur einige am Boden liegende Neonröhren begrenzt ihr weißes Licht aus. Beinahe unmerklich löste sich eine dunkle Figur mit schwarzen, langen Haaren aus der ersten Reihe und durchkämmte den Raum gebückt, mehr im Hockschritt denn aufrecht gehend. Aus einem leisen, dumpfen Grundgeräusch löste sich allmählich der Atem des Wesens und undefinierbare Laute, wie die eines Urmenschen, waren zu vernehmen. Von Beginn an war nicht klar, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, zu dunkel war der Raum. Erst als sich dieser Mensch ans Klavier setzte, mit bloßem Oberkörper, bedeckt nur durch die lange, schwarze Haarmähne und mit einem dunklen Hosenrock bekleidet, wurde erkennbar, dass es sich um Tomoko Mukaiyama handelte. Eine mit Preisen ausgezeichnete Pianistin, die aber darüber hinaus getrost als Ausnahmekünstlerin bezeichnet werden kann. Sie arbeitete nicht nur am Konzertpodium mit verschiedenen hochrangigen Orchestern, sondern auch mit Filmregisseuren, Designern, Architekten, Fotografen und Choreografen wie Ian Kerkhof, Marina Abramović, MERZBOW, Kim Itoh oder Jiri Kylián.

Pedalhammerflügel

Pedalhammerflügel By Photo: Andreas Praefcke (Own work (own photograph)) [Public domain], via Wikimedia Commons

Dieses Wesen, das noch vor wenigen Augenblicken direkt aus der Prähistorie gekommen zu sein schien, saß nun am Flügel und begann das Klavier mit wuchtigen Schlägen zu traktieren. Mit ganzer Körperkraft und weit ausholenden Gesten intonierte die wilde, zarte Frau die Klaviersonaten 5 und 6 der Russin Galina Ustwolskaja, sowie ihre eigenen kompositorischen Einfälle, die auf Schumanns „Sechs Studien op. 56“ basieren. Diese sind fast nie im Konzert zu hören, benötigt man doch entweder 2 Klavierspielende oder einen Pedalflügel. Dieses außergewöhnliche Instrument ist ein Klavier, das mit einem tiefergelegten Korpus versehen ist, welcher mit einer zusätzlichen Bespannung ausgestattet ist, die über eine Pedalklaviatur mit den Füßen gespielt wird, so wie dies bei der Orgel der Fall ist. Schumann komponierte einige Stücke für dieses wunderbare Instrument, das sich durch eine unglaubliche Klangfülle auszeichnet. Diese Klangfülle versuchte Ustwolskaja in ihrer Interpretation nachzustellen und tatsächlich gelangen ihr Stücke, die nicht nur von einer mitreißenden Rhythmik bestimmt sind, die stampfend und roh große Teile markieren, sondern auch leise, lyrische Passagen mit wenigen Akkorden beinhalten, die beinahe wie Fremdkörper in der restlichen Koposition wirken.

Die Spannung, die zwischen der Musik ausging und der unkonventionellen Art des Vortrages hätte nicht größer sein können. Auf der einen Seite die rasenden Klänge, die nur von jemandem gespielt werden können, der am Klavier die höchste Ausbildungsstufe erreicht hat und auf der anderen Seite der überraschende Auftritt der Pianistin, die mit wallender Mähne und nur einem Unterteil bekleidet diese Musik interpretierte, war mehr als irritierend. Sofort stellten sich eine Reihe von Fragen nach der Aufführungspraxis aber vor allem nach der Freiheit der Künstlerinnen und Künstler, ihrem Stellenwert als Interpreten und ihre im klassischen Musikbetrieb ständig zu unterdrückenden eigenen kreativen Ansätze und Interpretationswünsche. Nach geraumer Zeit betrat ein junger Mann die Bühne. Er trug einen schwarzen Rock und eine weite, weiße Bluse. Lange Zeit stand er regungslos da, das Publikum betrachtend, bis er ganz unvermittelt zu den intensiven Klangmustern zu tanzen begann. Jeder einzelne Schlag auf das Klavier bedeutete für ihn eine bestimmte Bewegung. Er folgte einer Choreografie, die keinen einzigen Ton bewegungslos ausließ. Die kraftvollen Bewegungen, die zum größten Teil im Stand von seinen Armen ausgingen, gaben die Wucht der Musik wieder. Das ständige Auf- und Abbewegen seines Oberkörpers und die raschen Armbewegungen, das Schleudern der Arme in die Luft, verlangte von ihm eine immense Kondition. Plötzlich änderte sich die Szene und die Pianistin saß wie regungslos am Klavier. Nach einer kleinen, ganz leisen Melodie erklang ein kleines Stück aus Schumanns Werk im Original. Die Romantik der Musik schlug sich augenblicklich im Tanz von Mitchell-Lee van Rooij wieder, der in sanften und fließenden Bewegungen, mit denen er den gesamten Raum durchspannte, Anklänge an Muster des klassischen Ballett erkennen ließ. Wie der Blick in eine gänzlich andere Zeit mutete dieses kurze Zwischenstück an – das aber schon nach kurzer Zeit jäh von den Hammerschlägen abgelöst wurde, die in Ustwolskajas Stück so zahlreich vorhanden sind. Wieder war es die kräfteraubende Choreografie, die van Rooij zum Besten gab, doch immer kürzer wurden seine Bewegungselemente, bis er völlig verausgabt, regungslos, tief Atem holend, stehen blieb.

Auch Tomoko Mukaiyama hatte zu spielen aufgehört. Der junge Tänzer hob sie, die erschöpft leicht zur Seite gesunken war, sanft von ihrem Platz und die beiden begannen – nachdem ein Regen von schwarzen Papierschnipseln herabgefallen war – einen sehr innigen, parallel geführten Tanz, der an Bewegungen des Qi-Gong und Tai-Chi erinnerte. Ohne Musik, aber harmonisch aufeinander eingestimmt und fließend im Ablauf, bildeten sie nun einen starken Kontrast zur davor gezeigten Intensität des Tanzes und der erklungenen Musik. Das „Tanzkonzert“ hätte hier auch enden können und doch setzten die beiden einen bildhaften und sehr markanten Schlusspunkt. Eine weiße Stoffbahn nach der anderen wurde von ihnen nach ihrem gemeinsamen stillen Tanz über den schwarzen Flügel gebreitet, so lange, bis dieser darunter gar nicht mehr zu erkennen war.

Vorüber war die furiose musikalische Hetzjagd, vorüber die pianistischen und tänzerischen Anstrengungen. Mit einem einfachen Lied, begleitet von Orgelmusik, die sich bis in eine beinahe unerträgliche Lautstärke hochschaukelte, verabschiedete sich die Künstlerin. Sie trug zu Grabe, was menschenunwürdig geworden war. Der Geist der Romantik, welcher der ursprünglichen Musik Schumanns innewohnte und der seiner Zeit angepasst war, hatte sich in einen menschenunwürdigen Horrortrip verwandelt, in welchem Leistung bis zur Verausgabung die Menschen peinigt. Die extreme Lautstärke nach dem anfangs versöhnlich wirkenden Schluss machte aber klar, dass es kein wirkliches Entrinnen aus den Zwängen unseres Heute gibt. Nicole Beutler, die für die Choreografie verantwortlich zeichnete, schuf mit Mukaiyama und van Rooij sowie der beeindruckenden Lichtregie von Jean Kalman einen Abend, der mehr ist als ein Bindeglied zwischen Musik, Tanz und Performance. Er sprengt alle bekannten Einordnungsversuche in herkömmliche künstlerische Schubladen und bietet mehr als die hier aufgerollte Interpretationsmöglichkeit. Eine Produktion, die vor allem wegen Tomoko Mukaiyamas Radikalität eine neue Dimension in der zeitgenössischen Musikpräsentation eröffnet. Beeindruckend, grandios, atemberaubend.

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Webseite Tomoko Mukaiyama
Wien Modern

Paradise reloaded (Lilith)

Paradise reloaded (Lilith)

Mit einem fulminanten Erfolg endete die zweite „Eötvös Station“ im Rahmen von Wien Modern. Am 25. Oktober erlebte seine einaktige Oper „Paradise reloaded (Lilith)“, im Tanzquartier seine Uraufführung. Und – man kann es fix postulieren – es war eine unglaublich Gelungene.

Der Text basiert auf einer Utopie von Albert Ostermaier, die als Ausgangspunkt Imre Madáchs Werk „Die Tragödie des Menschen“ herangezogen hat. Ostermaier titulierte sein Werk „Die Tragödie des Teufels“ in deren Zentrum nicht nur der Teufel, sondern vor allem Lilith steht, Adams erste Frau, die, so wie er, aus Lehm geschaffen worden war.

In der Librettobearbeitung, die von Eötvös und Mari Mezei stammt, geht es jedoch nicht nur um die Geschichte Liliths. Vielmehr entwickeln sie ein Weltenspiel rund um die Themen Gut und Böse, Gott und Teufel bis hin zur zeitgeistigen Religionsabwendung. Die Entwicklung von Adam und Eva, die durch Evas Sündenfall sich selbst aus dem Paradies vertreiben, bis hin zur Läuterung, die erst wieder nach einer langen Odyssee stattfindet und nur im Jenseits erlangt wird, wird von einer unglaublich differenzierten Musik getragen. Peter Eötvös charakterisiert jede einzelne Szene musikalisch intensiv und lässt seinen Figuren in ihren großen Arien genügend Spielraum, um nicht gegen ein übermächtiges Orchester ankämpfen zu müssen. Walter Kobéra dem dieses Werk gemeinsam mit der Neuen Oper Wien gewidmet ist, agiert überlegen und weiß jede musikalische Nuance zu nutzen, ohne dabei mit aufdringlichen Stimmbehandlungen aufzufallen. Eötvös sieht für jede Textpassage eine adäquate Orchestrierung vor – lässt Adam zum Beispiel seine Feststellung „Ich fühle eine grenzenlose Leere“ auf nur einem Ton deklamieren, die drei Orakel und die drei Engel jedoch in einem dichten Notensatz auftreten, der zuweilen Wagner´sche Erinnerungen hervorruft.

Herausragend ist jedoch jene Arie in welcher Lilith all ihrer Enttäuschung und Wut freien Lauf lässt und Adam dazu bringen will, Eva zu töten. Grandios in dieser Rolle – sowohl spielerisch als auch stimmlich – Annette Schönmüller, die Lucifer – David Adam Moore – eine perfekte weibliche Entsprechung bietet. Moore, der große weiße Engelsflügel mit schwarzen Federspitzen trägt und seinen Oberkörper nackt zeigen darf, verlässt in keinem Augenblick seine Stimmgewalt, die mit einer extremen Verständlichkeit gepaart ist. Auch Adam (Eric Stoklossa) – zu Beginn in grüner Badehose, am Ende in schwarzem Businessanzug – und Eva (Rebecca Nelsen) sind perfekt besetzt und halten mit ihren Rollen auch stimmlich die Menschlichkeit höher als die gottgleichen Attitüden ihrer Widersacher. Eine extrem komische Komponente bringen die drei Engel (Gernot Heinrich, Andreas Jankowitsch und Michael Wagner) ins Spiel, die als Lucifer-Getreue in beigen Glitzerhemdchen mit verrutscht sitzenden Flügeln das Geschehen in seiner ganzen Tragik nicht ernst nehmen.

Einen wesentlich Beitrag zum Gelingen der Vorstellung leistete Johannes Erath mit seiner klaren Inszenierung sowie Katrin Connan, die die Ausstattung beisteuerte. Das fast durchgängige schwarz-weiße Bühnenbild kennt ein Oben und ein Unten, verweist zu Beginn auf eine mittig platzierte Schale mit grellgrünen Äpfeln und zum Schluss auf eine Szene vor dem schwarzen Vorhang. Sinnbild eines gottesentleerten Daseins, das keine Aussicht auf ein Nachher mehr zulässt. Die schrägen Ebenen, auf welchen gleich zu Beginn die Teufelchen ihre Spielchen treiben, werden auch als Ankerplätze genutzt, auf welchen die Darstellerinnen und Darsteller nur schwerlich Halt finden. Das Paradies ist zu Beginn mit weißen Liegestühlen und Zimmerpalmen hinlänglich charakterisiert. In der letzten Szene tauchen die pflanzlichen Attribute noch einmal im von Engel bevölkerten Himmel auf, die sich mit Neon-Heiligenscheinen um einen Gottesthron scharen, der dem Publikum jedoch abgewandt platziert ist. Lilith bleibt schwanger alleine zurück – das Böse erfährt seine perpetuierende Fortsetzung. Stürmischer Applaus und viele Vorhänge zeigten die uneingeschränkte Begeisterung beim Publikum, deren Erfolg im wahrsten Sinne des Wortes viele Väter hat.

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Wien Modern
Neue Oper Wien

Die Erinnerung steht am Beginn

Die Erinnerung steht am Beginn

Am 24. Oktober startete das Festival Wien Modern in die Saison 2013. Nach einer ausführlichen Einführungsrede des Musikhistorikers Jürg Stenzl, in welcher er hauptsächlich die Musik Boulez und Nonos gegenüberstellte, standen insgesamt drei Konzerte auf dem Programm. Das RSO, treuer Begleiter des Festivals unter Cornelius Meister, spielte zum Auftakt „The Gliding of the Eagle in the Skies“ von Peter Eötvös, dem in diesem Jahr der Festivalschwerpunkt gewidmet ist.

Dabei erklang ein facettenreiches, in sich unglaublich buntes Stück, das eine Auftragsarbeit des baskischen Nationalorchesters Euskadiko Orkestra war. Als Erklärung zur Entstehungsgeschichte schreibt Eötvös über die Bilder, die er nach dem Kennenlernen der baskischen Musik hatte: „Als ich diese Musik hörte, sah ich ein Bild vor meinem inneren Auge: einen Adler, hoch am Himmel gleitend, bewegungslos, mit weit gespannten Schwingen. Ich sah den blick des Adlers, hörte das Rauschen der Flügel im Wind, spürte den endlosen Raum und das Gefühl vollkommener Freiheit.“ Und tatsächlich wird durch das rasche Schlagen der Finger auf Sitztrommeln unmittelbar der rhythmische und kraftvolle Flügelschlag eines Raubvogels hörbar, der sich durch das gesamte Stück zieht. Stark von Percussionsinstrumenten durchtränkt, blitzen verfremdete Melodien in unterschiedlichen Instrumentengruppen durch, um immer wieder dem Flügelschlagen hörbaren Raum zu lassen. Obwohl es sich um ein nicht allzu langes Stück hält, schafft der Komponist zuweilen eine beinahe symphonische Satzdichte, die er aber kontrastierend Unisono-Teilen entgegensetzt. Ein kleiner, gänzlich unerwarteter Pfeifenauftakt beendet das Werk, das in großen Teilen von einer dunklen Stimmung getragen ist.

Danach stand Salvatore Sciarrino mit „Giorno velato presso il lago nero“ für Violine und Orchester auf dem Programm. Er hätte sich nicht wirklich entscheiden können, konstatiert der Komponist in seiner Werkbeschreibung. Um aber einen Eindruck zu geben, was tatsächlich zu hören war, muss man die Erklärungslatte viel tiefer hängen. Von einzelnen stimmlosen Instrumenten, denen die Solovioline voran stand, war lange Zeit nicht viel mehr als ein leises Seufzen und Kratzen, ein Schnuppern und Quietschen zu hören, bis sich die minimale Geräuschkulisse zu einer hörbaren ausweitete. Ganz wie im zuvor gespielten Werk dominierte auch hier eine dunkle Grundstimmung. Kleine Tonfolgen ergeben schließlich eine Melodie, hinter der sich das Orchester zusammenballt. Im Schlussteil greift Sciarriono noch einmal auf das Phänomen der hörbaren Stimmlosigkeit zurück und verwendet auf- und abbrausenden Wind als musikalisches Stilmittel. Die Erklärung im Programmheft „seine Musik zeichnet sich dadurch aus, dass sie zu einer anderen Art des Hörens … veranlasst“ – trifft auch in diesem Werk ganz zu.

Der letzte Programmpunkt des Eröffnungsabends war Luigi Nonos „Il canto sospeso“ für Sopran- Alt- und Tenorsolo, gemischtem Chor und Orchester gewidmet. Dass es in diesem Jahr zur Aufführung gelangt, ist mehr als sinnvoll, müssen wir doch das Gedenken an die Pogromnacht begehen, die vor 75 Jahren stattfand. So steht auch bei Wien Modern in diesem Jahr die Erinnerung am Beginn der Veranstaltungen. Das Stück baut auf Texten von Menschen auf, die unter den Nationalsozialisten ermordet wurden und zuvor noch an ihre Familie Nachrichten schreiben konnten. Dem Orchesterwerk liegt eine ausgeklügelte Kompositionstechnik mit einer mathematischen Logik zugrunde, aber auch ohne diese zu bemühen, ist es ein beeindruckendes Werk. Scharfe Dissonanzen, in einem Satz eine nervöse Grundstimmung, einzelne Stimmen, die fast hoffnungslos gegen den großen Orchesterapparat gestellt werden, bestimmen das Geschehen. Den größten Eindruck hinterlässt jedoch die Tatsache, dass Nono dem Grauen hier ein einfaches Rezept entgegensetzt und das unmenschliche Geschehen ganz unaufgeregt und ruhig in Töne umsetzt. Die gefasst wirkenden letzten Nachrichten tauchen in kleinen Melodien so unprätentiös auf, dass man, würde man den Hintergrund nicht kennen, nicht wahrnehmen würde, dass es sich um die letzten Worte von Menschen auf dieser Erde handelt. Gerade diese Unaufgeregtheit ist ein adäquates Mittel, um den Schrecken dieser Zeit, der ja gerade auf einer perfiden Logik und Logistik baute, beschreiben zu können. Eine überlange Stille erfüllte den Saal nach dem Ende – adäquater hätte das Publikum seine Achtung vor diesem Werk nicht ausdrücken können.

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Wien Modern
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Ein Konzert zum Nachdenken

Ein Konzert zum Nachdenken

ensemble kontrapunkte c keine Angaben

Ensemble Kontrapunkte

Am 13.11. lud Wien Modern in den Brahmssaal des Musikvereins zu einem Konzert mit gemischter Kost. Zwar war gleich zu Beginn „Streifton für Ensemble“ von Gerd Kühr aus dem Jahr 1993 zu hören, ein Stück das neben den „récréations francaises für Sextett“ von Gérard Pesson an diesem Abend die zeitgenössische Musikproduktion repräsentierte. Doch den beiden Kompositionen standen wahrliche Schwergewichte der Musik des 20. Jahrhunderts gegenüber. In beiden Fällen mussten die Ohren zeitweise gut gespitzt werden, um so manche zarte musikalische Andeutung zu erhaschen. Bei Kührs Werk blieb eine Klarheit und Hörbarkeit der einzelnen Instrumente ein bestimmendes Element und der Reichtum der Ideen, begonnen von Windgeräuschen bis hin zu kurzem Aufstampfen der MusikerInnen verblüffte bis in den letzten Teil, in dem die Holzbläser, aufbauend auf kleinen Tonsequenzen, eine ganz bestimmte Klangfarbe erzeugten. Pesson wiederum trieb die Kunst der Andeutung auf die Spitze. In seinem Werk bestimmten Angedachtes, Rudimente und Ephemeres den Grundcharakter, obwohl auch er, wie schon zuvor bei Kühr beschrieben, einige Überraschungen bereithielt. Ein unerwarteter Vollklang im zweiten Teil, eine Kuckuksimitation, stark rhythmisiertes Luftgebläse oder der Anklang eines kleinen Tanzes reicherten das akustische Geschehen so an, dass die 9 Bagatellen im wahrsten Sinne des Wortes im Flug vergingen.

Das Ensemble Kontrapunkte unter Peter Keuschnig agierte sensibel und – wie auch sichtbar war – voller Spielfreude. Mit der Sopranistin Alda Caiello stand den Musikerinnen für Luigi Dallapicolas Werk „Commiato für Sopran und 15 Ausführende“ eine Sängerin zur Seite die sowohl die Feinnervigkeit als auch die richtige Portion Selbstsicherheit auf die Bühne brachte, die dieses Stück erfordert. Caiello, gefragte Interpretin zeitgenössischer Musik, eröffnete die Klage des Abschiedsgesanges mit klarer und kräftiger Stimme. Wundersam ihre Haltung – mit verschränkten Armen – die sie während der leisen Mittelpassage ständig beibehielt und auch im Schlussteil, in dem abermals die Trauer laut aus ihr herausbricht, nicht änderte. In den Goethe-Liedern für Frauenstimme und 3 Klarinetten – ebenfalls von Dallapiccola – wurde ganz besonders seine extreme Nähe zu Webern deutlich. Eine besondere Herausforderung für die Solistin, die sie herrlich meisterte und vom Publikum auch dementsprechenden Zuspruch erhielt. Mit zwei sehr unprätentiösen Liedern von Anton Webern, die, kaum leise erklungen, auch schon wieder verhaucht waren, und seiner Symphonie in zwei Sätzen, op. 21 von 1928 konnte das Publikum in historische Gefilde eintauchen. Aus diesem – eben dem historischen Blickwinkel – wird deutlich, dass Komponisten wie Webern zu Beginn des 20. Jahrhunderts logischerweise kein anderen Weg geblieben war, als neue Konstrukte um die Atonalität zu kreieren, um einen großen und gänzlichen Bruch mit der Vergangenheit zu erreichen. Nur ansatzweise können wir heute nachvollziehen, wie bleischwer Schönberg, Webern und Berg auf den Schultern ihrer Nachkommenschaft saßen und wie schwer eine Loslösung ihrer Gedanken gewesen sein muss.

Edgar Varèses „Octandre für 7 Bläser und Kontrabass aus dem Jahr 1923, zeigte sich jedoch als verbindendes Glied zu seiner Enkelgeneration. Die Komposition, geschickt an den Schluss des Abends gesetzt, steht in krassem Gegensatz zur 2. Wiener Schule und macht klar, wie groß die Bandbreite moderner Musik auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war. Seine drei ineinander fließenden Sätze variieren von dichten Klangbögen, die kräftig vom Bass unterstützt werden, immer wiederkehrenden kleinen Motiven bis hin zu einer Dramatik in der Trompete und Posaune, die thematisch an den Beginn des Stückes anknüpfen. Größer hätte der Kontrast zu den Webern-Werken wohl nicht sein können und – wie Lothar Knessel, der dieses Konzert ausgewählt hatte trefflich beschrieb: „Schlaglichter: Momentaufnahmen sind das alles, gezielt gezählte Zufälle.“ Wohl dem, der Zufälle so wunderbar ordnen kann.

Abschied für ein Jahr

Abschied für ein Jahr

17 ORF Radio Symphonieorchester Wien c ORF Thomas Ramstorfer

ORF Radio Symphonieorchester Wien (c)ORF Thomas Ramstorfer

Mit einem Konzert, das ein ganz besonderes Hörerlebnis bot. Auf dem Programm standen Bruno Madernas „Quadrivium“ für vier SchlagzeugerInnen und vier Orchestergruppen sowie das „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ für Orchester in 8 Gruppen von Pierre Boulez.

Auf dem Podium bzw. den Parterrelogen und dem Raum für die Stehplätze hatte sich das ORF Radio-Symphonieorchester Wien verteilt und bewies wie immer, welch fulminanten Klangkörper es darstellt. Sein Chefdirigent, Cornelius Meister, musste mit ausladenden Gesten dirigieren, um auch jenen MusikerInnen ihren Einsatz anzuzeigen, die seitlich von ihm oder gar in seinem Rücken platziert worden waren.

In Madernas Werk stehen vier SchlagwerkerInnen mehreren Orchestergruppen gegenüber, die teilweise in Wechselwirkung mit ihnen treten aber auch gemeinsame Klangehäuse erschaffen. Ein nicht enden wollender Schwebezustand – auf- und abbrausende Wellen aber auch kleine, einfache Melodien lassen die HörerInnen in ein komplexes Werk eintauchen, dem es an Schönheit wahrlich nicht fehlt. Mit dem Rituel von Boulez, das dieser kurz nach Madernas Tod seinem Kollegen widmete, bemächtigte sich schließlich der Klang des kompletten Konzertsaales. Die seitlichen und rückwärtigen Platzierungen einzelner Instrumentalgruppen veranlasste das Publikum immer wieder, die Köpfe nach den jeweils aktiven Schallquellen zu drehen. Die kleinen Tonfolgen, die das gesamte Orchester durchlaufen, die ständig wahrnehmbaren Wiederholungen, wirken in keinem Moment monoton, sondern machen die unglaubliche Farbigkeit der einzelnen Instrumente deutlich. Dass Boulez bei dieser Komposition in einer deutlichen Beziehung zu Maderna steht, wurde durch die kluge Auswahl der beiden Stücke deutlich.

Denkt man an das Eröffnungskonzert dieser Saison zurück, das Olga Neuwirth alleine mit ihren Werken bestreiten durfte, kann man feststellen, dass mit diesem und dem Abschlusskonzert die Grundidee des Festivals pointiert zusammengefasst wurde. Wie zwei Pfeiler einer Brücke stand dabei Zeitgenössisches bereits arrivierter Musik des 20. Jahrhunderts gegenüber, musste sich an ihr messen lassen oder aufzeigen, welche Wurzeln und wechselseitigen Beeinflussungen ausschlaggebend sind, aber auch welche Überwindungen von den KomponistInnen gemacht werden, um mit den eigenen musikalischen Ideen zu reüssieren und aus dem bereits Akzeptierten auszubrechen.

Als absoluter Schlusspunkt fungiert am 20.11. eine Ausstellung in der Charim Galerie, in der Valie Export und Olga Neuwirth die ProtagonistInnen darstellen.

Zeitgenössisches mit versteckten historischen Wurzeln

Zeitgenössisches mit versteckten historischen Wurzeln

Das Odeon bot den idealen Rahmen für die Aufführung der Komposition „Construction in space“ für 4 Solistinnen, 4 Ensemblegruppen und Live-Elektronik von Olga Neuwirth. Die Dirigentin Sian Edwards leitete das wie immer beeindruckende Klangforum Wien, das diesmal in einer Aufstellung rund um das Publikum neue Klangerlebnisse ermöglichte.

Klangforum Wien im Odeon anlässlich von Wien Modern

Das Klangforum Wien unter Leitung von Sian Edwards bot ein Stück von Olga Neuwirth im Odeon anlässlich von Wien Modern ((c) Facebook Fanpage Wien Modern)

Ursprünglich als Filmmusik komponiert, modifizierte Neuwirth ihr Werk geringfügig und versah es mit einem neuen Titel, der auch eine ganze Werkserie von Naum Gabo bezeichnet. Ausgehend von Gabos Skulpturen, die in ihrer Entstehungszeit mit völlig neuen Materialen wie z.B. Plexiglas ausgestattet waren und oftmals das Element der Bewegung eingebaut hatten, erscheint das Werk bei Neuwirth als eines, das zuallererst den Raum akustisch neu definiert.

Dabei wechseln 2 ganz unterschiedliche Klangstrukturen beständig einander ab. Das Werk beginnt im Fortissimo und entwickelt einen deutlich hörbaren stampfenden und peitschenden 4/4 Rhythmus, der, so hat es den Anschein, von allen MusikerInnen gleichzeitig performt wird. Abgewechselt wird dieser furiose Einstieg schließlich von einer Art Schwebezustand, der vom Mischpult eingespielt wird, welches inmitten des Raumes – und somit auch inmitten des Publikums aufgestellt ist. 3 Tontechniker sind dort am Werk und erzeugen an ihren Reglern schon nach kurzer Zeit einen fast meditativen Klangraum, der in scharfem Kontrast zum Beginn des Stückes steht. Fast unmerklich schleicht sich jedoch wieder der hastende, energiegeladene Rhythmus ein, der anfangs zu hören war, um danach wieder von dem ruhig gegliederten Teil abgelöst zu werden. Was Neuwirth bei dieser Kompositionstechnik gelingt, ist, dass sie damit unseren Hörsinn – komplett hinters Licht führt. Denn es ist für das Publikum nur schwer, bis gar nicht zu erkennen, ob es gerade einer elektronischen Einspielung oder dem Liveact folgt – hätte es die Augen geschlossen. Allein die Bewegungen der Dirigentin sind ein untrügliches Zeichen für den Einsatz der Elektronik – dann nämlich hat sie nicht zu dirigieren, sondern nur den nächsten Einsatz abzuwarten und das tut sie bewegungslos. Der nächste Coup gelingt Neuwirth mit einer Wiederholung, die verblüffend zur Kenntnis genommen wird. In ihr wird deutlich, wie rasch unser Hören und unser Denken auf bereits einmal erfasste Klangeindrücke aber auch Geräuschszenarien reagiert, diese wiedererkennt und im Wiedererkennen auch neu bewertet. Zugleich aber drängt sich auch die Verbindung an historische Sonatensatzfolgen auf. Diese Form hätte man bis dahin nicht in Zusammenhang mit der dargebotenen Klangkulisse gebracht, was umso mehr überrascht. Ein langer Schlussteil, in welchem durch aufsteigende Tonreihen, die durch das ganze Ensemble laufen, gänzlich neue Klangfärbungen erzeugt werden, lässt das Stück beruhigend ausklingen.

Neuwirth schuf mit „Construction in space“ ein Werk, das Kopf und Emotion in sehr ausgewogener Weise anspricht und sicherlich nach mehrmaligem Hören noch weiterreichende Erkenntnisse verspricht. Sian Edwards führte bei der Wien Modern Aufführung nicht nur die MusikerInnen, sondern auch das Publikum gekonnt durch den Klangkosmos und beeindruckte mit ihrer fast schon beredten Performance, bei der man erkennen konnte, dass sie selbst tief in das Werk eingetaucht war.