Man muss ganz nahe an die Wände und Vitrinen der Ausstellungsräume des Volkskundemuseums in Wien gehen. Nur so kann man sehen, was auf den kleinformatigen Schwarz-Weiß-Fotos zu sehen ist, die im Auge des Zyklons geschossen wurden. Im Zweiten Weltkrieg an den verschiedenen Fronten des „Deutschen Reiches“.
Privates Fotomaterial aus dem Zweiten Weltkrieg
Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende wird nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für jene, die die Gnade der späten Geburt erleben durften, privates Fotomaterial interessant. Material, das zum größten Teil von Soldaten der Deutschen Wehrmacht bei ihren Fronteinsätzen von ihnen selbst geschossen wurde. Oder von jenen Fotografen, welche die Einsätze begleiteten und von Berufs wegen fotografieren mussten. Von diesen Fotos gab es auch die Möglichkeit, Abzüge zu bestellen, um sich später einmal an die verschiedenen Ereignisse erinnern zu können.
Soldaten fotografieren während des Besuchs von Hitler und Mussolini in Uman/Ukraine am 28. August 1941; Archiv Reiner Moneth, Norden
„Zu Beginn des Krieges wurden sowohl die Soldaten, als auch die Bevölkerung, die zuhause geblieben war, aufgerufen, zu fotografieren und sich gegenseitig diese fotografischen Eindrücke zu schicken.“ Petra Bopp, Kuratorin der Ausstellung, die schon 1995 eine erste Ausstellung über die Wehrmacht erarbeitete, hat die verschiedenen Stationen der Ausstellung begleitet. Bereits in Oldenburg, München, Frankfurt/Main, Jena, Peine, in Delft und in Graz, den Städten, in welchen die Ausstellung bis jetzt zu sehen war, wurde die Bevölkerung aufgerufen, Fotoalben mit Kriegsfotografien aus dem Zweiten Weltkrieg, als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Diese Alben, aber auch solche aus Museen und Archiven, bilden die Basis der Ausstellung.
Zeitzeugen erzählen Unerwartetes
Mit insgesamt 12 Zeitzeugen, also Männern, die ihre eigenen Alben zur Verfügung stellten, konnte die Ausstellungsmacherin sprechen. Drei Interviews sind im Volkskundemuseum in Videos zu sehen. Dass es dafür viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen bedurfte, ist klar. „Manche Familienangehörigen haben mir gesagt, dass wir Dinge erfahren hätten, wovon sie keine Ahnung hatten. Das kommt daher, dass wir von außen kommen und ganz andere Fragen stellen“, ergänzte Bopp bei der Präsentation der Ausstellung.
Zu sehen sind auf den Bildern nicht nur Landstriche, Kulturdenkmäler und Menschen in ihrer Heimat oder solche auf der Flucht. Zu sehen sind die Soldaten selbst, mit Kameraden. Aber auch Gefallene oder Erhängte „Feinde“ oder „Kollaborateure“. Eine Fotoserie, betitelt mit „Die Minenprobe“ beginnt mit einer Frau, die bei der Durchquerung einer Furt im Wasser zu sehen ist. „Die Geschichte dieses Fotos ist sehr interessant. Es kam mir in einem Album unter, ohne jegliche Beschriftung, und da das Album anonym war, konnte ich es nicht zuordnen. Da aber das Motiv ungewöhnlich ist, habe ich es mir gut gemerkt.“ Als Bopp bei einem Sammler das gleiche Foto noch einmal fand und auf Anhieb wiedererkannte, hatte sie Glück. Gab es dazu doch eine „Legende“. Ein gedrucktes Papier, das Fotos mit Nummern und Titel versehen hatte, um den Soldaten die Möglichkeit der Nachbestellung zu geben. Der Titel wiederum gab Aufschluss über eine Kriegsverordnung, nach der enge Stellen, Flüsse, Brücken und andere Überquerung von Kriegsgefangenen und Juden zuerst über- oder durchquert werden mussten, um sicher zu gehen, dass sich keine Minen darin befanden.
Aufruf und Fotografierverbot
Das Foto kann stellvertretend für viele gelten, denn das Geschehen, von einem erhöhten Standpunkt aus fotografiert, zeigt nur unter Kenntnis des Sachverhaltes das wahre Grauen dahinter. Stand am Anfang noch der Wunsch, auch seitens der Parteiführung, den Krieg fotografisch umfassend zu dokumentieren, wurde es mit Fortschreiten des Krieges den Soldaten verboten, zu fotografieren. Ein Verbot, das aber zu spät kam. Längst hatten die Eingerückten auch jene Gräueltaten auf ihre Filme gebannt, welche die Deutsche Armee bei ihrem Einmarsch und Rückzug in die verschiedenen besetzten Länder auch an der Zivilbevölkerung begangen hatten.
Sowjetische Soldatinnen, vermutlich vor einem Verhör. Sowjetunion, ohne Datierung. Album anonym, Archiv Reiner Moneth, Norden
Die Titel lassen erahnen, wie die Feindpropaganda bis hin zum letzten Mann wirkte. „Flintenweiber“, so despektierlich ist ein Foto betitelt, das weibliche Soldatinnen der Roten Armee zeigt. Nebeneinander, in Reih und Glied an einer Wand stehend, blicken sie entweder zu Boden oder ernst in die Kamera. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass ihnen eine schwere Zeit bevorstand und weiß nicht, ob sie überlebt haben.
Bopp erzählte auch, dass es Familien gab, durch die ein Riss ging, als sie erfuhren, dass Fotos aus der Vergangenheit eines Familienmitgliedes – meist eines Vaters oder Großvaters – den Weg an die Öffentlichkeit fanden. Ein Zeichen, wie brisant das Thema bis heute geblieben ist und wie sehr es noch einer umfassenden Aufarbeitung bedarf, um zumindest die Enkel- und Urenkelgeneration nicht nur aufzuklären, sondern letztendlich diese durch die Aufarbeitung des Materials mit der Vergangenheit ihrer Vorfahren auch zu befrieden.
Neben den schon angesprochenen Motiven gibt es in der Ausstellung aber auch Fotos aus einem Lager in Ägypten und einem aus Russland. Raritäten, denn diese Lager durften nicht fotografiert werden. Die Herkunft vieler Bilder ist ungeklärt. Viele Fotoalben von Sammlern und Archiven können ihren einstigen Besitzern nicht mehr zugeordnet werden. „Bei unserem Projekt stehen auch die Fragen im Vordergrund: Wie ging man mit den Alben in den Familien um? Wie ist der heutige Blick auf dieses Material?“, erläuterte die Kuratorin ihren Forschungsansatz. Dieser kann nur dann befriedigend bearbeitet werden, wenn die Bevölkerung dabei mithilft und Fotos bringt. Der Aufruf, Alben aus Familienbesitz zu bringen und zur Verfügung zu stellen, gilt nun auch für Wien. Das Material, das sich die Ausstellungsmacher erhoffen, soll dann in einer Abschlussausstellung Anfang nächsten Jahres diese Sammlung ergänzen.
Die Ausstellung, die eine Kooperation mit „eyes on“, dem Monat der Fotografie Wien ist, ist noch bis 19.2.2017 im Volkskundemuseum zu sehen.
Weitere Informationen auf der Homepage des Volkskundemuseums oder bei „eyes on“.
Unausgefüllte Kästchen in einem Kreuzworträtsel waren eine Herausforderung für eine Neunzigährige aus Nürnberg. Dass sie damit völlig unerwartet zum Fast-Medienstar wurde, hatte sie aber nicht geplant. Ihrer Umsicht ist es zu verdanken, dass trotz Interviews bislang weder der vollständige Name noch ein Foto von Frau Hannelore K. im Netz zu finden sind. Jener rüstigen Ex-Zahnärztin, die im Neuen Museum Nürnberg fehlende Suchbegriffe in ein Bild von Arthur Köpcke eintrug. Nicht ahnend, dass sie damit das Kunstwerk beschädigte. Verstand sie doch den Titel des Kreuzworträtsel-Kunstwerkes „insert words“ als Aufforderung, dies auch tatsächlich zu tun.
Immer dann, wenn in den Medien über eine spektakuläre „Kunstvernichtung“ berichtet wird, erhitzen sich die Gemüter. Fühlen sich vor allem jene im Aufwind, die ohnehin schon immer wussten, dass Kunst, die nicht als solche zu erkennen sei, gar keine sein kann. Im Fall von Köpckes Rätselbild liegt die Sache aber anders.
Seit dem Urinal und dem Flaschentrockner von Marcel Duchamp wissen wir, dass nicht nur das Werk alleine bestimmt, ob es der Kunst zuzuordnen ist oder nicht, sondern auch wo und wie es präsentiert wird. Hängt ein Bild – wie in diesem Fall – also in einem Museum an der Wand, kann man davon ausgehen, dass Fachleute es für Kunst erachten. Auch wenn Laien dies oft nicht verstehen können oder auch wollen.
Insofern ist der Akt der alten Dame ein sehr mutiger. Denn Kunst, die im Museum hängt, und das ist wirklich keine Neuigkeit, hat einen gewissen monetären Wert und darf allein schon deswegen nicht beschädigt werden. Andererseits hat die Kunst längst Grenzen überschritten und die Einladung, mit dem Publikum zu interagieren, ist keine Seltenheit mehr. Der Titel des Bildes „insert words“ kann unter diesem Gesichtspunkt ohne Weiteres als direkte Aufforderung verstanden werden, Hand anzulegen und die fehlenden Worte einzutragen. Dafür spricht auch, dass Arthur Köpcke, der bereits 1977 nur 49-jährig verstarb, ein Fluxus-Künstler war. Also jener Kunstrichtung angehörte, für die das Ephemere, das Flüchtige, das Vergängliche in der Kunst ein wesentlicher Bestandteil war.
Der Künstler kann nicht mehr dazu befragt werden, ob nun die Vervollständigung seines Bildes statthaft oder nicht war. Aber eine Ausstellungskritik von Petra Kipphoff in der Zeit aus dem Jahr 1988 könnte dies sogar nahe legen. Der Kunstmarkt an sich hat aber seine Regeln und folgt man diesen, so stellt die Beschriftung des Bildes einen Eingriff von außen dar, der einen Akt darstellt, der nicht vom Künstler gesteuert oder gewünscht war und somit auch nicht ausgeführt werde hätte dürfen.
Ganz knifflig wird es aber, wenn man sich den angeblichen finanziellen Schaden genau anschaut. Das Museum kolportierte eine Summe von einigen Hundert Euro. Eine Restauratorin könne das Bild mit dieser Summe wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzen, wurde an die Öffentlichkeit kommuniziert. Bedenkt man aber, dass dieser Fauxpas medial rund um die Welt ging, ja sich in unglaublicher Geschwindigkeit über die Sozialen Medien noch zusätzlich verbreitete, so darf man mit Fug und Recht behaupten, dass gerade dieses Bild durch diese Aktion einen beträchtlichen Wertzuwachs erhalten hat. Es gelingt selten, einen verstorbenen Künstler oder eine Künstlerin des 20. Jahrhunderts, die nicht durch eine große Retrospektive gewürdigt werden, mit einem Schlag innerhalb und außerhalb des eigenen Landes so bekannt zu machen. Wenn so ein Coup dennoch klappt, dann nur unter beträchtlichem finanziellem und zeitlichem Einsatz. Dafür geht dies aber auch immer mit einem Wertzuwachs der Werke einher. Ich muss keine große Prophetin sein, um das auch in diesem Falle zu prognostizieren. Dazu kommt noch, dass die Zeit des Fluxus im Moment, ganz unabhängig von diesem Ereignis, ohnehin vermehrt in den Fokus der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker gerät. Das hat etwas mit der Tatsache zu tun, dass zeitgenössische Kunst meist erst im Abstand von mehreren Jahrzehnten wissenschaftlich gewürdigt und aufgearbeitet wird.
Dass Köpcke ein Fluxuskünstler war, wissen jetzt auch Menschen, die bislang von Fluxus noch nie etwas gehört haben. Und wer weiß, vielleicht findet sich nun auch rascher jemand, um das gesamte Werk von Arthur Köpcke näher zu untersuchen und zu veröffentlichen. Auch das würde sich wiederum auf den Marktpreis positiv auswirken. Der Leihgeber des Bildes, der ehemalige Galerist René Block sieht die Angelegenheit nicht nur gelassen, sondern realistisch. In einem Interview mit der Zeitschrift Monopol äußerte er sich folgendermaßen: „Und etwas Gutes hat der Fall: Noch nie wurde so viel über Arthur Köpcke geschrieben.“
Von diesem Standpunkt aus gesehen folgte für ihn auf den ersten Schreck eine Wohltat. Denn ohne den munteren Bekritzelungs-Eingriff würden auch heute nur Eingeweihte das Kreuzworträtsel-Bild von Arthur Koepcke kennen.
Wien ist seit wenigen Tagen bis November um eine Attraktion reicher. Ai Weiwei bespielt nicht nur den Garten und das barocke Bassin des Oberen Belvedere sowie den Treppenaufgang der ehemaligen Sommerresidenz von Prinz Eugen. Auch im 21er Haus ist eine im wahrsten Sinn des Wortes raumfüllende Installation von ihm zu sehen. Der chinesische Künstler, der sich in den letzten Jahrzehnten am internationalen Kunsthimmel zu einem Fixstern entwickelte und mit seinem Unternehmen „Fake Studio“ rund um den Globus architektonische Aufträge realisiert, verwirklichte diese erste größere Schau in Österreich in einem Rekordtempo. Innerhalb eines halben Jahres wurde in Zusammenarbeit mit dem Belvedere und dem 21er Haus eine in den öffentlichen Raum übergreifende Ausstellung auf die Beine gestellt, die einen großen künstlerischen Bogen vom Gestern ins Heute spannt.
Ai Weiwei, der von 1981 bis 1993 in New York lebte und dort studierte, wurde in seiner Heimat wegen systemkritischen Verhaltens verfolgt und 2011 ohne Anklage mehrere Monate an einem unbekannten Ort inhaftiert. Danach wurde ihm bis 2015 der Pass entzogen. In dieser Zeit entschloss sich die Berliner Akademie der Künste ihn als Gastprofessor aufzunehmen. Seit Ai Weiwei wieder reisen darf, kommt er dieser Berufung nach. Vertreibung und die damit einhergehenden Erniedrigungen und Repressalien erlitt auch der Vater der Künstlers. Als Kulturfeind wurde dem Schriftsteller Arbeitsverbot auferlegt und er musste mit seiner Familie in die Verbannung in die Mandschurei umsiedeln. Dislozierungen sind ein integraler Bestandteil im Leben von Ai Weiwei und seiner Familie und es ist nicht verwunderlich, dass er sich diesem so schmerzlichen Phänomen in den Werken, die nun erstmals in Wien gezeigt werden, auseinandersetzt.
Die wohl spektakulärste Installation, die Ai Weiwei einem der brennendsten Themen unserer Tage widmete, nennt sich „F Lotus“. In ihr verwendete er 1005 gebrauchte Rettungswesten, die er in das barocke Bassin des Oberen Belvedere-Gartens montieren ließ. Jeweils fünf Westen sind dabei auf einer schwimmenden Kunststoffunterlage so miteinander verbunden, dass sie eine stilisierte Lotusblüte ergeben. Sie verweisen einerseits direkt auf das derzeitige Drama, das sich im Herzen Europas abspielt. Andererseits transportieren sie die Metapher der Lotusblüte, die für absolute Reinheit steht. Die Gesamtmontage der Schwimmwesten ergibt ein großes, kalligrafisch wiedergegebenes F. Das Zeichen, das der Künstler auch für sein in Peking und Berlin befindliches Unternehmen verwendet. „Fake“ wird im Chinesischen wie das englische Wort „fuck“ ausgesprochen und gibt der Installation zugleich mit anderen Assoziationen wie „freedom“ eine enorme Vielschichtigkeit.
Rund um das Bassin ließ Ai Weiwei 12 Bronzen aufstellen. Sie sind eine persönliche Nachempfindung jener Köpfe, die einst im Garten des kaiserlichen Sommerpalasts Yuanming Yuan in Peking standen. Im 18. Jahrhundert erbaut, waren sie Teil einer Wasseruhr mit Menschenkörpern und Tierköpfen, die als Zeitmesser alle zwei Stunden Wasser spien. Nach der Verwüstung durch französische und britische Truppen und der Plünderung des Areals gelangten die Köpfe auf den internationalen Kunstmarkt. Bis auf fünf Stück befinden sich alle wieder in China. Den „Circle of Animals/Zodiac Heads“ hat Ai Weiwei bewusst auf Totem-ähnliche Pfeiler gestellt, um so die Assoziation der barbarischen Zerstörung dieses Kulturgutes zumindest mitschwingen zu lassen. In Wien mutieren sie gerade zu einer unglaublichen, touristische Attraktion.
Mit vielen, wenn nicht sogar allen seiner Arbeiten gelingt ihm die ideelle Transformierung von altem Kulturgut seiner Heimat in die Jetztzeit. Das Anstoßen zum Nachdenken und Informieren über kulturhistorische sowie gesellschaftliche Inhalte, über Philosophie, Moral und Ideologie ist für ihn Teil seiner Arbeit. „Art is a language of communication“ ist ein Zitat von ihm, mit dem er kurz sein Kunstverständnis beschreibt.
Die gesamte Schau trägt den Titel „translocation – transformation“ und präsentiert, erstmals außerhalb Chinas, im 21er Haus die „Wang Family Ancestral Hall“. Es ist eine Ahnenhalle aus der Zeit der späten Ming-Dynastie, ein hölzernes Relikt, das aus 1300 Einzelteilen besteht und in die große Ausstellungshalle mittig eingebaut wurde. Die Familie Wang, bedeutende Teehändler, wurde in der Kulturrevolution vertrieben. Das Relikt der Dynastie wurde in schon halb verfallenem Zustand vom Künstler angekauft und durch seine Verpflanzung in einen Raum, welcher der Kunst gewidmet ist, in einen neuen, spannenden Bezug gesetzt. Dass das 21er Haus selbst nach seinem ursprünglichen Gebrauch als Präsentationsgebäude Österreichs während der Weltausstellung 1958 in Brüssel nicht nur abgebaut und an einem neuen Ort wieder aufgebaut wurde, sondern auch einer neuen Bestimmung zugeführt wurde, zieht eine weitere Interpretationsebene in diese Installation ein. Einige bunt eingefärbte, architektonische Elemente unter dem Dach der Ahnenhalle zeigen einen aktuellen künstlerischen Eingriff Ai Weiweis auf. Es sind Teile, die im Original nicht mehr vorhanden waren und erinnern in ihrer Farbgebung, einem grellen Rosarot, Grün und Gelb an jene bunte Fassung antiker Statuen, die erst im 20. Jahrhundert entdeckt wurden. Die bunten Nachbildungen wollen sich einerseits gar nicht harmonisch in die historische Holzsubstanz einfügen, spannen aber andererseits wieder einen großen Bogen ins Heute.
Umgeben ist das beinahe 500 Jahre alte architektonische Gebilde von einer aus 2 kleinen Teehäusern bestehenden weiteren Boden-Installation, die auf getrockneten Teeblättern steht. Die Häuser selbst bestehen aus sogenannten Pu-Erh-Teeziegeln und stehen ihrerseits nicht nur in direktem Bezug zur Ahnenhalle der Teehändler, sondern auch zu einem Porzellanteppich vor der Ahnenhalle. Dieser besteht aus 2,5 Tonnen porzellanener Schnäbel von antiken Teekannen. Die weißen bis leicht hellbeigen Bruchstücke erwecken in ihrer Anordnung Assoziationen zu kleinen Knochenteilen. Damit wirkt die Arbeit wie ein subtiler Hinweis, eine Metapher auf das Absterben einer jahrhundertelangen Tradition.
Mit weißen, drachenähnlichen Schwebefiguren im Treppenhaus des Oberen Belvedere verweist Ai Weiwei auf den Shanhaijing, einem „Klassiker der Berge und Meere“, der ältesten überlieferten Sammlung der chinesischen Mythologie. Gefertigt aus Bambusstäben und mit Seide beklebt, erscheinen diese ephemeren Skulpturen wie Geistergestalten aus einer längst vergangenen Zeit, die sich bemüßigt fühlen, die Kunstwerke ihres Schöpfers in Wien schützend zu begleiten. So könnte man sich zumindest eine eigene Assoziationskette zu den gezeigten Arbeiten schaffen.
Ein eigener Blog begleitet die Ausstellung und zeigt interessante Videos, in welchen Ai Weiwei selbst zu Wort kommt. Das umfangreiche Rahmenprogramm ist auf der Homepage des 21er Hauses zu finden.
Eine umfangreiche Schenkung ist der Anlass, warum Jim Dine in der Tietze Galerie der Albertina eine Ausstellung eingerichtet wurde. 1935 in Ohio geboren, gehört er zu den Großen der Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert. Und das, weil man ihn der Pop-Art zurechnet, die er eine Zeitlang tatsächlich bediente, zu der er sich selbst aber nicht zählen möchte. Herzen waren es und Werkzeuge wie Sägen oder Hämmer, aber auch sein Bademantel, den er in unzähligen Varianten malte – als Stellvertreter seiner selbst – die ihn bekannt und berühmt machten. Und ihm auch viel Geld einbrachten. Dine, der aus der Happening-Bewegung in die Pop-Art rutschte, wollte zu dieser Zeit tatsächlich auch nichts Anderes, als ein „zeitgenössischer Künstler“ sein, wie er selbst anmerkte. Die leicht fasslichen, bunten Arbeiten, die man von ihm kennt, haben rein gar nichts mit jenem Oeuvre zu tun, das nun Eingang in die Albertina fand.
Insgesamt 230 Selbstportraits von ihm befinden sich nun in Wien, ein ganzes „Archiv“, wie es der Künstler selbst betitelte. 60 davon sind bis 2. Oktober 2016 in der Ausstellung „Jim Dine. I never look away“ zu sehen. Es ist ein Querschnitt, gefertigt in unterschiedlichen Techniken, begonnen von den 50er Jahren bis hin zu einer brandneuen Lithographie, die dem Publikum bis auf wenige Ausnahmen eines zeigen: Das Bild eines ernsten Mannes, der die Betrachtenden stumm anblickt.
Dine, der sich selbst als malender Zeichner tituliert, bedient im Bereich des Selbstportraits einen jahrhundertealten, kunsthistorischen Topos. Begonnen von den ersten Zeichnungen und Gemälden aus der Renaissance, über die Rembrandt´schen Portrait-Ikonen bis herauf zu Künstlern wie Arnulf Rainer, den Dine persönlich kennt und schätzt, erstreckt sich das Feld dieses Genres. Anders als bei der Pop-Art, die sich an Objekten fixiert präsentiert, ist es hier das psychologische Element, das fesselt und fasziniert. Das Arbeiten mit dem Menschen, ganz besonders mit dem eigenen Ich, übt seit Jahrtausenden eine ungebrochene Faszination aus. Sowohl auf die Malenden selbst als auch auf das die Bilder betrachtende Publikum.
Jim Dine „I never look away“ (c) European Cultural News
Es sind mehrere, relativ einfache Gründe, warum Dine ein so umfangreiches Selbstportrait-Werk schuf. Zum einen ist es praktisch, wenn man sein eigenes Modell ist, zum anderen ist es ihm so möglich, nicht nur eine Außen- sondern auch eine Innenschau bei den Sitzungen zu betreiben. Und nicht zuletzt, was Dine besonders wichtig ist, geht es ihm dabei darum, ständig zu überprüfen, ob er tatsächlich das, was er sieht, zeichnet und malt, oder ob er dabei in Interpretationen abgleitet. Die Techniken, die Dine dabei anwendet, sind vielfältig. Zeichnerische und malerische Gesten gibt es auf Papier und Leinwand, Collagen, Fotografien und sogar Porzellan. Es sind nicht viele künstlerische Medien der bildenden Kunst, die er nicht ausprobierte und zum Teil bis zur höchsten Meisterschaft entwickelte. Davon legt ein in der Ausstellung gezeigter Dreiteiler Zeugnis ab. „Dine mit 80 in Paris“ beherrscht zu Recht eine der zentralen Wände der Show. Auf großformatigen Papieren arbeitete er dort mit Kohle, Schleifmaschine und Schleifpapier, aber auch mit Kaffee und anderen Malmitteln und schuf mit ihnen eine großartige Serie, die den 80jährigen Dine monumental mit weißem Bart erst auf den zweiten Blick in verschiedenen Varianten zeigt, die man jedoch selbst erschauen muss. Es ist schnell klar, dass keines dieser Bilder wie das andere ist, aber erst ein genaueres Studium lässt erkennen, wie unterschiedlich, auch in der Technik, diese Bilder gestaltet sind.
Jim Dine „I never look away“ (c) European Cultural News
Obwohl es immer derselbe Mann ist, den man beim Abschreiten der Ausstellung erblickt, so sind es doch große formale Unterschiede, die auffallen. Mit oder ohne angedeutetem Hintergrund, nur bis zum Hals oder dann wieder als Brustbild gestaltet, mit Kopfbedeckung, meistens jedoch ohne, mit wenigen, konzentrierten Strichen gebannt, oder mit Farbe überarbeitet – die Bandbreite, in der Dine sich selbst festhält, ist groß. Das, aber auch die Zeitspanne in der die Bilder entstanden, macht die Ausstellung spannend. Waren es in den 50er Jahren noch farbenfrohe Abstrahierungen, die keine Ähnlichkeit mit dem Portraitierten erkennen lassen, sind es im Laufe der Jahre immer stärkere, realistische Abbildungen seiner äußeren Erscheinung, die sich in den Werken niederschlagen. Beinahe unbarmherzig zeigt er in der Lithographie „Ich in Apetlon“, erst in diesem Jahr geschaffen, die Falten auf seiner Stirn mit schwarzer Farbe tief eingegraben. Hart und ungeschönt heben sie sich vom hellen Untergrund des Papiers ab.
Historische Zitate kann man immer wieder finden, auch wenn sie noch gar nicht so alt sind, wie im Falle des Bildes „Alter Reitersmann“ aus dem Jahr 2008. Die rote Gewandung des Oberkörpers, soutanengleich, und der verschwommene, teils geschlossene Blick erinnern an die Papst-Bilder von Francis Bacon, die ja ihrerseits auf Velázquez referieren. Auf zwei Blättern ist Dine singend wiedergegeben: Einmal betitelt mit „Hard song“, ein anderes Mal aber als „singing hard times“ gekennzeichnet. Hier ist es der geöffnete Mund, die Grimasse, die, ganz anders als in den anderen Darstellungen, nicht einen ernsthaften Mann voller innerer Geheimnisse wiedergibt, sondern einen in Aktion. Messerschmidts Skulpturen kommen einem dabei unweigerlich in den Sinn. Sie sind ebenso unbarmherzige Menschen-Zeugnisse wie einige Bilder von Dine, die gänzlich ohne Eitelkeit die eigene verzogene Physiognomie zu Schau stellen.
Das illustrieren auch die beiden in Sèvre gefertigten Vasen, auf denen Dines Konterfei fratzenartig erscheinen. Als Pinocchio mit der langen Nase, so zeigt er sich auf einer dieser Objekte, die Augen mandelförmig gestaltet. Ein runder Kopf mit einer – durch die Lasur noch betonten – polierten Glatze und einem leicht geöffneten Mund mit einer bedrohlichen Zahnreihe, so stellt er sich auf der zweiten Vase selbst dar. Schonungslos und zugleich auch schonungslos selbstironisch. In einer ausgestellten Vierer-Serie schwebt sein Kopf wie ein Ballon am oberen Bildrand und lässt darunter das weiße Blatt sichtbar. Rasch ausgeführte, zeichnerische Gesten, mit welchen die Gesichter mehr verhüllt als geschärft werden, assoziieren eine Arnulf Rainer ähnliche Ästhetik.
Dass Jim Dine diese Arbeiten der Albertina schenkte, zeugt nicht zuletzt auch von seinem guten Gespür für den Wert dieser Werke. Denn obwohl er mit seinen frühen Bildern internationalen Ruhm erlangte, ist er sich der Qualität gerade dieses „Archivs“ mehr als bewusst. Er weiss, dass sich mit diesem Akt ab nun ein großes Konvolut von ihm in einem Haus befindet, in dem die weltweite Crème de la Crème der Zeichenkunst vereint ist. Schon in den 80er Jahren, noch unter der Direktion von Konrad Oberhuber, wurde ihm eine erste Ausstellung hier ausgerichtet. Darüber hinaus sind es österreichische Drucker, mit welchen er gerne immer wieder zusammen arbeitet und auch die Bekanntschaft mit Arnulf Rainer, die ihn an dieses Land binden. Die Aufnahme in die Albertina bedeutet mehr künstlerische Adelung als jede noch so spektakuläre öffentliche Versteigerung mit einem Ergebnis im sechsstelligen Dollarbereich für eine einziges Bild von ihm. Dines Schenkung ist eine großzügige Geste, die aber nicht zuletzt auch dem Schenkenden zugute kommt und ein Werk zusammenhält, das sich der Kunstmarkt wahrscheinlich liebend gerne einverleibt hätte. Eine wohl durchdachte Aktion, die allen Beteiligten, nicht zuletzt auch dem österreichischen Staat, eine Win-Win-Situation ermöglichte.
Das Untergeschoß des Leopold Museums ist bis Februar 2016 mit einer One-man-Schau bestückt. „Sengl malt“ ist an der Wand in roten Lettern als Titel zu lesen. Und kleiner darunter: Eine Retrospektive. Sowohl die Headline als auch der Untertitel stimmen nicht ganz.
Denn erstens malt Peter Sengl im Museum selbst nicht, was man vielleicht mit der Aussage assoziieren könnte und zweitens ist die Schau nicht nur eine Retrospektive. Sie zeigt auch sieben neue Arbeiten, die allesamt in einer Auseinandersetzung mit wichtigen Werken der Sammlung Leopold entstanden sind.
Peter Sengl, Jahrgang 45, ist Maler und Zeichner und vereint diese beiden Grundaussagen der bildenden Kunst meist in ein und demselben Blatt oder auf ein und derselben Leinwand. Das grafische und das malerische Element bedingen sich bei ihm. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar.
Die Bilder des Künstlers sind, und das ist im heutigen Kunstbetrieb wahrlich schon eine Ausnahme, auf den ersten Blick als von seiner Hand erkennbar. Somit hätte Sengl jenes Kriterium erfüllt, das einen Künstler dazu befähigt, mit höheren Weihen ausgezeichnet zu werden, als da allen voran der internationale Kunstmarkt wäre. Das ist ihm aber bislang versagt geblieben. Schuld daran sind zwei Umstände. Sengl begann in einer Zeit mit seiner Malerei, als diese gerade ganz und gar nicht en vogue war. Seit den späten 60er Jahren herrschte Aufbruchstimmung in den Ateliers weltweit – weg von der Malerei, hin zu Objekten, Konzepten und Medienkunst. Dass der Künstler Österreicher ist, kann man als zweiten Hemmschuh für eine internationale Karriere betrachten. Denn wäre er in Großbritannien oder den USA tätig und auch in derselben Weise mit Galerien verbunden wie dies in Österreich der Fall ist, Sengl hätte gewiss einen Bekanntheitssprung nach oben erleben dürfen. Aber was nicht ist, kann ja vielleicht noch werden.
Denn das, was Sengl zeigt, entspringt einer ganz eigenen Bilderwelt. Wesen, Hybride zwischen Mensch und Maschine, eingespannt in Sachzwänge im wahrsten Sinne des Wortes, bevölkern die Malgründe in den unterschiedlichsten Konstellationen. Männer, Frauen, Kinder, Gerippe, Tiere, Maschinenwesen und alles dazwischen scheinen einer eigenen Sengel´schen Kompositionsregie entsprungen. Bunt, figurativ, lesbar und doch nicht zu enträtseln sind seine Arbeiten. Titel wie „Katzverbesserte-Karo-Hutterz“ oder „Sackaufbläser im Blumenkranz“ wären es wert, von Kolleginnen und Kollegen der Literaturwissenschaft näher unter die Lupe genommen zu werden. Andere wieder, wie „Die 2 FRIDASFRIDAPUPPENHALTUNG“ ergänzen und erweitern die Darstellung, auf der Sengl tatsächlich Frida Kahlo in zwei verschiedenen Varianten präsentiert. Es wäre nicht richtig, Sengl als Surrealisten zu bezeichnen, denn sein Universum ist aus mannigfachen Impulsen, die er nicht nur seiner Fantasie, sondern zu großen Teilen der Realität abringt, geschaffen. Die Freude am Fabulieren, am Zeichnen und am Malen, daran, wilde Farbkombinationen auszutesten, die niemanden ruhig lassen, scheint Sengl besonders wichtig. Immer wieder blitzen Zitate anderer Künstlerkollegen auf. Wie im Bild „Ursprünglicher Hochmützenmasochist“, das eine deutliche Anspielung auf die Papstbilder von Francis Bacon beinhaltet. Oder „Mit neunzylindrischer Aufhellung“ – der Titel eines Werkes, in dem Peter Sengl Egon Schiele in jener berühmten Position wiedergibt, in der ihn Josef Trčka fotografierte. Wobei er damit diese Fotoserie als gleichwertig mit dem malerischen Werk Schieles apostrophiert. Nicht zu Unrecht. Das über Egon Schiele sich drohend aufgeschraubte Gerippe kündet von einem nahen Tod, den dieser selbst offenbar noch nicht wahrzunehmen imstande ist.
Die neuesten Bilder sind ebenfalls intensive Auseinandersetzungen mit Künstlerkollegen, wenngleich in einem ganz anderen Geist. Sengl nimmt sich dabei Ikonen der Sammlung Leopold vor, Egger-Lienz, Klimt, aber auch Richard Gerstl oder Oskar Kokoschka. Ohne jegliche Berührungsängste kopierte Sengl die Werke, um sich dann zusätzlich stets in derselben Pose, sitzend, auf ihnen einzuschreiben. Es ist jene Pose, in welcher er von seiner Frau Susanne Lacomb-Sengl fotografiert wurde. Nachdenklich, den Kopf in beide Hände gestützt, sieht er die Betrachtenden mit offenem Blick an. Und doch in sich gekehrt. Mal mit kariertem Anzug und gestreifter Krawatte, demselben Outfit, das Sengl anlässlich der Pressekonferenz trug, dann wieder ganz in Schwarz, mit weißem Hemd. Stets blitzen seine Maßschuhe vor Sauberkeit. Erwin Wurm schuf in seinen „50 Philosophenportraits“ eine Parallele, in welcher der Künstler stets in nachdenklicher Haltung gezeichnet, über einen bestimmten Philosophen reflektiert. Sind bei Wurm diese nicht sichtbar, sondern nur im Titel zu erahnen, agiert Sengl mit der kompletten Wiedergabe der Werke. Seine darauf angebrachten Selbstportraits fungieren zugleich als Signatur, die keinen Zweifel lässt, dass es sich bei diesen Arbeiten nicht um Kopien handelt, die man dem Kunstmarkt unterjubeln könnte. Mit seinem Abbild drückt er jedem einzelnen der Bilder einen zusätzlichen Stempel auf und dokumentiert damit gleichzeitig, dass sein künstlerisches Selbstbewusstsein ordentlich ausgeprägt ist. Die formale Einschreibung seiner Person erfolgt stets in Übereinstimmung mit der schon vorhandenen Farbpalette. Braun-orange bei Egger-Lienz, blau bei Walde, weiß bei Kokoschka – wobei hier auch der Titel erahnen lässt, mit welchen Gedanken Sengl rang, als er sich an diese Arbeit machte. „Die Vielfarbigkeit des OK weiss aussitzen.“ „Kokoschka war für mich am schwersten“, so Sengl, was auch damit zusammenhängt, dass ihn dieser Maler bislang am allerwenigsten berührte und nahestand. Interessant, dass ein und das selbe Motiv, das Selbstportrait des Malers, je nach Kontext des Vorbildwerkes, zum Nachdenken, Grübeln oder auch Lachen anregt. Wie zum Beispiel in der Arbeit „Die Zukunft merkt man sich besser als die Vergangenheit“, in der ganz in der Manier von August Walla zusätzliche fantastische Beschriftungen, aber auch die Sengel´sche Pose mit Teufelshörnchen der Abbildung einen Extra-Kick verleihen. Die Referenz an den Gugging-Künstler erlaubt hier eine augenzwinkernde Abwandlung der sonst so strengen Sitzhaltung. Oder auch das Zitat jenes Bildes von Alfons Walde, in dem dessen Sonntagsbäuerinnen ihren Blick förmlich belustigt auf den im Schnee sitzenden Sengl richten. Wobei das Sitzen mehr einem Art Schwebezustand gleicht, denn es sind Gestänge oder auch Kluppen, die den Künstler in der jeweiligen Position hilfreich verharren lassen. Auch hier, sogar bei sich selbst, schlägt sein unerbittlicher Sachzwang zu.
Bewundernswert, wie es ihm gelang, mit dieser Serie – beinahe trickreich – eine zusätzliche Bedeutungsebene zu schaffen. Bei zukünftigen Studien der Originale wird man mit Vehemenz Sengls Interpretation aus dem Kopf verbannen müssen.
Obwohl sein Werk mehrere Tausend Papierarbeiten umfasst, wurde das Hauptaugenmerk der Ausstellung auf Gemälde gelegt. Carl Aigner, der für die Auswahl verantwortlich ist, konnte aus dem Vollen schöpfen und Werke aus dem Besitz des Künstlers mit Leihgaben ergänzen. Mit „Sengl malt“ wird dem aus der Steiermark gebürtigen Künstler alleine schon aufgrund des musealen Umfeldes, das Elisabeth Leopold mit einem „Museum des Expressiven“ beschrieb, eine Zuschreibung zuteil, die gerechtfertigt ist. Vielleicht verschaffen die internationalen Kontakte der Ausstellungsverantwortlichen Peter Sengl jenen Schub nach außen, der längst notwendig und fällig ist.
„Bildende Kunst“ ist der mehrdeutige Titel der Schau im Arnulf-Rainer-Museum. Markus Lüpertz erhielt eine Carte blanche und nutzte diese meisterhaft. Zu sehen noch bis 11. Oktober 2015.
In den letzten Jahren gibt es einen Trend im Kulturgeschehen, der sich Carte blanche nennt. Dabei werden Events wie Theater- und Tanzproduktionen, aber auch Ausstellungen oder Literaturveranstaltungen nicht von den Veranstaltern programmiert in deren Räumlichkeiten die Aufführungen oder Shows stattfinden. Diese Aufgabe übernehmen Personen, die dazu eingeladen werden und die dafür keinerlei Vorgaben erhalten. Einzige Herausforderung ist, die „weiße Karte“ selbst mit Inhalt zu füllen.
Markus Lüpertz, deutscher Großmeister der zeitgenössischen Plastik nach 1945, erhielt eine solche von Arnulf Rainer. Damit durfte er im Arnulf-Rainer-Museum in Baden nach Herzenslust schalten und walten und dabei sein Werk in Beziehung zu Arbeiten seines Gastgebers setzen. Heraus kam eine Schau, die lebendig und ästhetisch zugleich wirkt wie selten eine zuvor.
Lüpertz griff dafür in die Vollen und hat aus seinem Refugium in der Toskana neben kleinen Statuetten auch eine große Skulptur nach Baden gesandt, die im historischen Bad in Einzelteilen zerlegt, die Halle und die angrenzenden Räume belebt. Beeindruckend, wie wunderbar die Fassung des riesenhaften Hermes mit der eleganten Farbgebung der Eingangshalle harmoniert. Leichte Pastelltöne wie ein helles Rosa, Blau und Grün, ungewöhnlich für plastische Arbeiten des 20. Jahrhunderts, schmiegen sich nicht nur an den Stein, sondern korrespondieren aufs Feinste mit der Innenraumgestaltung. Die in verschiedene Bestandteile zersägt wirkende Figur strahlt trotz ihrer Immobilität eine unglaubliche Lebendigkeit aus. Die Hand, deren Finger nach oben zeigen, ein Bein mit Fuß, das so positioniert ist, dass man förmlich darüber stolpern muss, der wache Blick des Antlitzes unter dem geflügelten Helm – all das wirkt nicht seziert und leblos, sondern in höchstem Maße viral.
Der nach einem kleinen Durchgang angrenzende Raum, in dem sich eine Reihe von geöffneten aber auch verschlossenen Kabanen befinden, beherbergt eine Reihe von zierlichen Statuetten. Die rohe, ungestüme Art in der sie gefertigt sind, harmoniert mit den harten Farbaufträgen. An verschiedenen Attributen ist erkennbar, dass es sich um mythologische Figuren aus der Antike handelt. Götter und Getier, das punktuell beleuchtet, auf Sockeln erhöht, in der intimen Umgebung von ehemaligen Umkleidekabinen eine zarte Magie ausstrahlt. Man hat den Eindruck auf intime Situationen zu blicken, die sich jederzeit hinter geschlossenen Türen verändern könnten. Die Fenster des Hauses wurden für diese Schau mit grauen, bodenlangen Stoffbahnen verhängt, sodass kein Tageslicht die Räume erhellt. Umso mehr wirkt die punktuelle Beleuchtung.
Wie aus Raum und Zeit gefallen wirkt die Präsentation im Hauptraum. Jenem Platz, in dem die Fundamente des historischen Bades mit Glas bedeckt, noch immer beeindruckend wirken. Bevor man dieses jedoch betritt, korrespondiert der offene Leib eines mächtigen Achills mit zarten, weiblich anmutenden Übermalungen von Rainer. Die Figur, schwarz, körperhaft, umflattert von einem grün-rosa Gewirke, ist der schwebende Kontrapunkt zur unbeweglichen Masse der in der Mitte des Leibes gekappten Lüpertz-Figur. Das weibliche und das männliche Prinzip – aus der Sicht von Lüpertz – verdichtet sich in diesem Durchgangsraum zu einer klaren Aussage. Die beiden Arbeiten bilden den Auftakt für jene Assoziationskaskaden, die sich im Bad durch die ausgestellten Werke wie von selbst ergeben. Eine römische Schönheit steht einem Titan der abendländischen Kultur gleich in zweifacher Ausfertigung gegenüber. Beethoven, einmal mit Blick gegen den Himmel, und einmal mit wilder Mähne, umrahmt die Rainer´sche Göttin, die hoheitsvoll die Blicke entgegennimmt. Daraus ergibt sich eine subtile Ménage- à-trois. Diese Beziehung enthält Eifersucht, Koketterie, Abweisung, argwöhnische Beobachtung und all das, was die eigene Vorstellungskraft noch bereithält. Was hier gilt, ist die Beziehungen der Werke untereinander auszuloten, nicht sich der Betrachtung von singulären Kunstwerken zu widmen. Das Weglassen der Beschriftungstafeln, das in vielen Ausstellungen mehr Unmut als Freude erzeugt, wirkt hier förderlich. Beflügelt das eigene Kopfkino, ohne es mit Zahlen, Daten und Fakten zu belästigen. Ein Mann ist ein Mann, eine Frau eine Frau, ihr künstlerisches Erscheinungsbild wandert unweigerlich durch die Netzhaut in das eigene vorhandene Gedankenkonstrukt. Gerade diese Art von nonverbaler Kommunikation, die hier zwischen den Kunstwerken wie von selbst abläuft, lässt Rainers Arbeiten neben jenen von Lüpertz frei und ungezwungen stehen. Lüpertz legte bei einigen seiner Skulpturen vor Ort noch Hand an, verfeinerte die Fassungen, passte sie der Umgebung an, um Harmonie zu erreichen. Daraus entstand eine Ästhetik, die Leichtigkeit verströmt. Ein Atemhauch scheint einen von Raum zu Raum zu tragen. Die Umgebung verbreitet keinen sakralen, aber einen antiken Charakter. Die Hügel von Rom, die ruppige Felsmasse der Akropolis, das flirrende Licht über der Ägäis, all das wird in diesen Räumen fühlbar. Die Stille in den Räumen, so man das Glück hat nicht von einer Besuchergruppe umgeben zu sein, fördert die Schönheit dieser imaginären Kommunikation.
Im zweiten Kabanenflügel gibt es eine Abwandlung zur Präsentation des gegenüberliegenden Raumes. Es sind nicht mehr nur Skulpturen von Lüpertz, sondern ihre Korrespondenz mit dahinter positionierten Übermalungen, die sich in historischen Büchern befinden, die hier auf das Publikum warten. Wie zufällig aufgeschlagene Seiten entpuppen sich als bewusst ausgesuchte Motive, die sich in einem motivischen Konnex zu den vor ihnen platzierten Skulpturen befinden. Der bleiche Tod, blutrot eingerahmt, Fleisch und Geist zugleich, an der Kippe vom Leben in die Verwesung. Eine Frauengestalt, was trägt sie, eine zusammengesunkene Figur findet Halt in ihren Armen? Schwer lasten die dunkelblauen bis schwarzen Akzentuierungen auf ihr. Freiheit ist eine Illusion. Die Bücher, die Rainer auszugsweise übermalt hat, finden sich in seiner umfangreichen Bibliothek meist ein zweites Mal ohne künstlerische Eingriffe. Wenn möglich, kauft er immer 2 Stück, was bei historischen Ausgaben nicht leicht ist. Eines zum Arbeiten, eines zum Archivieren.
Vor einem übermalten Bacchuskopf, grün wie die Trauben und rot wie der Wein, ein Löwe von Lüpertz. Gelängt, ruhig abwartend. Daneben wieder Beethoven, mit rotem Tuch und blauem Vogel. Wie gehören sie zusammen? Rhythmisierend danach ein Lüpertz-Adler, stoisch, selbstvergessen. Belastet einzig durch seine symbolträchtige Vergangenheit als Herrschaftssymbol. Ein klein wenig Blau noch am Gefieder, aber Rot und Gelb dominieren. Wo sind seine guten Zeiten geblieben? Ein antiker Männerakt auf dem Papier dahinter, pur, unbearbeitet. Das Muskelspiel dem Vogel würdig. Oder umgekehrt? Die Bezüge geraten ins Schwanken, je nachdem wie man sich den Bezugspunkten nähert. Ein Kampf auf Leben und Tod mit einem Löwen. Rot, was sonst, der Begleiter. Ein Mädchen mit einer Amphore auf dem Kopf. Ihr Drehmoment in schwarzer Geste eingefangen. Kein Schatten, sondern ein sichtbar gemachtes Bewegungsmoment ergänzt die ursprüngliche Darstellung.
Im Stundenbad schließlich die abgetrennten Gliedmaßen des Hermes vor und neben Flora und Zephir von Josef Klieber aus dem 18. Jahrhundert. Blau ein Stumpf, eine Verniedlichungsgeste, die nicht beschönigen kann, was an Brutalität dahintersteckt. An der Wand Rainer´sche Bearbeitungen von Muskelsträngen der Brust, Nervenbahnen, bedrohlich freigelegt. Nichts Göttliches mehr, keine Leichtigkeit die hier den Ton angibt. Irdisches, Körperhaftes, Schwere und Schmerz.
Das Erdgeschoß wäre Ausstellung genug, aber Lüpertz nutzt auch die höheren Etagen. Hölderlin im Zwischengeschoß, schmunzelnd, gegenüber einer Reihe von Übermalungen, die keine wirkliche Dekodierung mehr zulassen. Wo endet hier das Sehen, wo muss das Spüren beginnen? Hölderlin, blutrot die Lippen, hoch die Stirn, verschlossen der Mund, nicht gewillt zu sprechen. Der Kragen grün getupft, so viel Würde muss noch bleiben. Wenige Stufen höher, in einer Triade, ganz hoch oben angeordnet, wie einst in seinem Turmzimmer über dem Neckar, noch einmal der Dichter. Erhoben in den Himmel, göttergleich, und doch ist es nicht die Antike, sondern der Bildungsolymp, aus dem er in den Raum blickt. Verblasst in Steinguss und Bronze, die Farbe nur mehr rudimentär, versehen mit einem unerhörten Ewigkeitsanspruch, der sich nie einlösen lässt, präsentiert sich das Serienportrait. Nacktes Fleisch, das durch Rainers malerische Gesten erst freigelegt wurde, zieht die Blicke magisch an. Gucklochartige Momentaufnahmen von Brust und Po und dazu noch gratis ein Gesicht. Wie jenes aus dem zentralen Baderaum, diesmal jedoch nur im Profil. Und doch herrscht hier eine andere Stimmung. Einsamkeit macht sich breit, gefroren erscheinen aufkeimende Ideen, die Körper nur ein Abbild des Möglichen. Graue Stoffbahnen verwehren hier wie dort jeden Ausblick, aber hier möchte man sie gerne wegziehen. Tote Blicke erwidern nicht, kommunizieren nicht. Vorbei ist hier das Flüchtige, der schöne Schein. Was bleibt, ist Isolation hoch Drei. Mitteilslosigkeit, die bedrückt und flüchten macht.
Die Arbeiten von Lüpertz und Rainer sind nicht trotz, sondern wahrscheinlich wegen ihrer unterschiedlichen Kunstauffassungen geeignet wie kaum andere, einander zu ergänzen. Es ist keine Gegenüberstellung, die hier stattfindet, vielmehr ein In-Beziehung-Setzen von künstlerischen Positionen, die sich gegenseitig respektieren, erweitern, neue Liaisonen eingehen. „Bildende Kunst“, so lapidar der Titel auch klingen mag, eröffnet hier Positionen, die sich vielleicht tatsächlich erst durch eine umfassende humanistische Ausbildung erschließen. Wer sie hat, darf sich glücklich schätzen. Wer nicht, findet reichlich Anhaltspunkte zum Weiterschauen, Weiterlesen, Weiterdenken, zum Weiterbilden. Einfach schön.