„Bildende Kunst“ ist der mehrdeutige Titel der Schau im Arnulf-Rainer-Museum. Markus Lüpertz erhielt eine Carte blanche und nutzte diese meisterhaft. Zu sehen noch bis 11. Oktober 2015.
In den letzten Jahren gibt es einen Trend im Kulturgeschehen, der sich Carte blanche nennt. Dabei werden Events wie Theater- und Tanzproduktionen, aber auch Ausstellungen oder Literaturveranstaltungen nicht von den Veranstaltern programmiert in deren Räumlichkeiten die Aufführungen oder Shows stattfinden. Diese Aufgabe übernehmen Personen, die dazu eingeladen werden und die dafür keinerlei Vorgaben erhalten. Einzige Herausforderung ist, die „weiße Karte“ selbst mit Inhalt zu füllen.
Markus Lüpertz, deutscher Großmeister der zeitgenössischen Plastik nach 1945, erhielt eine solche von Arnulf Rainer. Damit durfte er im Arnulf-Rainer-Museum in Baden nach Herzenslust schalten und walten und dabei sein Werk in Beziehung zu Arbeiten seines Gastgebers setzen. Heraus kam eine Schau, die lebendig und ästhetisch zugleich wirkt wie selten eine zuvor.
Lüpertz griff dafür in die Vollen und hat aus seinem Refugium in der Toskana neben kleinen Statuetten auch eine große Skulptur nach Baden gesandt, die im historischen Bad in Einzelteilen zerlegt, die Halle und die angrenzenden Räume belebt. Beeindruckend, wie wunderbar die Fassung des riesenhaften Hermes mit der eleganten Farbgebung der Eingangshalle harmoniert. Leichte Pastelltöne wie ein helles Rosa, Blau und Grün, ungewöhnlich für plastische Arbeiten des 20. Jahrhunderts, schmiegen sich nicht nur an den Stein, sondern korrespondieren aufs Feinste mit der Innenraumgestaltung. Die in verschiedene Bestandteile zersägt wirkende Figur strahlt trotz ihrer Immobilität eine unglaubliche Lebendigkeit aus. Die Hand, deren Finger nach oben zeigen, ein Bein mit Fuß, das so positioniert ist, dass man förmlich darüber stolpern muss, der wache Blick des Antlitzes unter dem geflügelten Helm – all das wirkt nicht seziert und leblos, sondern in höchstem Maße viral.
Der nach einem kleinen Durchgang angrenzende Raum, in dem sich eine Reihe von geöffneten aber auch verschlossenen Kabanen befinden, beherbergt eine Reihe von zierlichen Statuetten. Die rohe, ungestüme Art in der sie gefertigt sind, harmoniert mit den harten Farbaufträgen. An verschiedenen Attributen ist erkennbar, dass es sich um mythologische Figuren aus der Antike handelt. Götter und Getier, das punktuell beleuchtet, auf Sockeln erhöht, in der intimen Umgebung von ehemaligen Umkleidekabinen eine zarte Magie ausstrahlt. Man hat den Eindruck auf intime Situationen zu blicken, die sich jederzeit hinter geschlossenen Türen verändern könnten. Die Fenster des Hauses wurden für diese Schau mit grauen, bodenlangen Stoffbahnen verhängt, sodass kein Tageslicht die Räume erhellt. Umso mehr wirkt die punktuelle Beleuchtung.
Wie aus Raum und Zeit gefallen wirkt die Präsentation im Hauptraum. Jenem Platz, in dem die Fundamente des historischen Bades mit Glas bedeckt, noch immer beeindruckend wirken. Bevor man dieses jedoch betritt, korrespondiert der offene Leib eines mächtigen Achills mit zarten, weiblich anmutenden Übermalungen von Rainer. Die Figur, schwarz, körperhaft, umflattert von einem grün-rosa Gewirke, ist der schwebende Kontrapunkt zur unbeweglichen Masse der in der Mitte des Leibes gekappten Lüpertz-Figur. Das weibliche und das männliche Prinzip – aus der Sicht von Lüpertz – verdichtet sich in diesem Durchgangsraum zu einer klaren Aussage. Die beiden Arbeiten bilden den Auftakt für jene Assoziationskaskaden, die sich im Bad durch die ausgestellten Werke wie von selbst ergeben. Eine römische Schönheit steht einem Titan der abendländischen Kultur gleich in zweifacher Ausfertigung gegenüber. Beethoven, einmal mit Blick gegen den Himmel, und einmal mit wilder Mähne, umrahmt die Rainer´sche Göttin, die hoheitsvoll die Blicke entgegennimmt. Daraus ergibt sich eine subtile Ménage- à-trois. Diese Beziehung enthält Eifersucht, Koketterie, Abweisung, argwöhnische Beobachtung und all das, was die eigene Vorstellungskraft noch bereithält. Was hier gilt, ist die Beziehungen der Werke untereinander auszuloten, nicht sich der Betrachtung von singulären Kunstwerken zu widmen. Das Weglassen der Beschriftungstafeln, das in vielen Ausstellungen mehr Unmut als Freude erzeugt, wirkt hier förderlich. Beflügelt das eigene Kopfkino, ohne es mit Zahlen, Daten und Fakten zu belästigen. Ein Mann ist ein Mann, eine Frau eine Frau, ihr künstlerisches Erscheinungsbild wandert unweigerlich durch die Netzhaut in das eigene vorhandene Gedankenkonstrukt. Gerade diese Art von nonverbaler Kommunikation, die hier zwischen den Kunstwerken wie von selbst abläuft, lässt Rainers Arbeiten neben jenen von Lüpertz frei und ungezwungen stehen. Lüpertz legte bei einigen seiner Skulpturen vor Ort noch Hand an, verfeinerte die Fassungen, passte sie der Umgebung an, um Harmonie zu erreichen. Daraus entstand eine Ästhetik, die Leichtigkeit verströmt. Ein Atemhauch scheint einen von Raum zu Raum zu tragen. Die Umgebung verbreitet keinen sakralen, aber einen antiken Charakter. Die Hügel von Rom, die ruppige Felsmasse der Akropolis, das flirrende Licht über der Ägäis, all das wird in diesen Räumen fühlbar. Die Stille in den Räumen, so man das Glück hat nicht von einer Besuchergruppe umgeben zu sein, fördert die Schönheit dieser imaginären Kommunikation.
Im zweiten Kabanenflügel gibt es eine Abwandlung zur Präsentation des gegenüberliegenden Raumes. Es sind nicht mehr nur Skulpturen von Lüpertz, sondern ihre Korrespondenz mit dahinter positionierten Übermalungen, die sich in historischen Büchern befinden, die hier auf das Publikum warten. Wie zufällig aufgeschlagene Seiten entpuppen sich als bewusst ausgesuchte Motive, die sich in einem motivischen Konnex zu den vor ihnen platzierten Skulpturen befinden. Der bleiche Tod, blutrot eingerahmt, Fleisch und Geist zugleich, an der Kippe vom Leben in die Verwesung. Eine Frauengestalt, was trägt sie, eine zusammengesunkene Figur findet Halt in ihren Armen? Schwer lasten die dunkelblauen bis schwarzen Akzentuierungen auf ihr. Freiheit ist eine Illusion. Die Bücher, die Rainer auszugsweise übermalt hat, finden sich in seiner umfangreichen Bibliothek meist ein zweites Mal ohne künstlerische Eingriffe. Wenn möglich, kauft er immer 2 Stück, was bei historischen Ausgaben nicht leicht ist. Eines zum Arbeiten, eines zum Archivieren.
Vor einem übermalten Bacchuskopf, grün wie die Trauben und rot wie der Wein, ein Löwe von Lüpertz. Gelängt, ruhig abwartend. Daneben wieder Beethoven, mit rotem Tuch und blauem Vogel. Wie gehören sie zusammen? Rhythmisierend danach ein Lüpertz-Adler, stoisch, selbstvergessen. Belastet einzig durch seine symbolträchtige Vergangenheit als Herrschaftssymbol. Ein klein wenig Blau noch am Gefieder, aber Rot und Gelb dominieren. Wo sind seine guten Zeiten geblieben? Ein antiker Männerakt auf dem Papier dahinter, pur, unbearbeitet. Das Muskelspiel dem Vogel würdig. Oder umgekehrt? Die Bezüge geraten ins Schwanken, je nachdem wie man sich den Bezugspunkten nähert. Ein Kampf auf Leben und Tod mit einem Löwen. Rot, was sonst, der Begleiter. Ein Mädchen mit einer Amphore auf dem Kopf. Ihr Drehmoment in schwarzer Geste eingefangen. Kein Schatten, sondern ein sichtbar gemachtes Bewegungsmoment ergänzt die ursprüngliche Darstellung.
Im Stundenbad schließlich die abgetrennten Gliedmaßen des Hermes vor und neben Flora und Zephir von Josef Klieber aus dem 18. Jahrhundert. Blau ein Stumpf, eine Verniedlichungsgeste, die nicht beschönigen kann, was an Brutalität dahintersteckt. An der Wand Rainer´sche Bearbeitungen von Muskelsträngen der Brust, Nervenbahnen, bedrohlich freigelegt. Nichts Göttliches mehr, keine Leichtigkeit die hier den Ton angibt. Irdisches, Körperhaftes, Schwere und Schmerz.
Das Erdgeschoß wäre Ausstellung genug, aber Lüpertz nutzt auch die höheren Etagen. Hölderlin im Zwischengeschoß, schmunzelnd, gegenüber einer Reihe von Übermalungen, die keine wirkliche Dekodierung mehr zulassen. Wo endet hier das Sehen, wo muss das Spüren beginnen? Hölderlin, blutrot die Lippen, hoch die Stirn, verschlossen der Mund, nicht gewillt zu sprechen. Der Kragen grün getupft, so viel Würde muss noch bleiben. Wenige Stufen höher, in einer Triade, ganz hoch oben angeordnet, wie einst in seinem Turmzimmer über dem Neckar, noch einmal der Dichter. Erhoben in den Himmel, göttergleich, und doch ist es nicht die Antike, sondern der Bildungsolymp, aus dem er in den Raum blickt. Verblasst in Steinguss und Bronze, die Farbe nur mehr rudimentär, versehen mit einem unerhörten Ewigkeitsanspruch, der sich nie einlösen lässt, präsentiert sich das Serienportrait. Nacktes Fleisch, das durch Rainers malerische Gesten erst freigelegt wurde, zieht die Blicke magisch an. Gucklochartige Momentaufnahmen von Brust und Po und dazu noch gratis ein Gesicht. Wie jenes aus dem zentralen Baderaum, diesmal jedoch nur im Profil. Und doch herrscht hier eine andere Stimmung. Einsamkeit macht sich breit, gefroren erscheinen aufkeimende Ideen, die Körper nur ein Abbild des Möglichen. Graue Stoffbahnen verwehren hier wie dort jeden Ausblick, aber hier möchte man sie gerne wegziehen. Tote Blicke erwidern nicht, kommunizieren nicht. Vorbei ist hier das Flüchtige, der schöne Schein. Was bleibt, ist Isolation hoch Drei. Mitteilslosigkeit, die bedrückt und flüchten macht.
Die Arbeiten von Lüpertz und Rainer sind nicht trotz, sondern wahrscheinlich wegen ihrer unterschiedlichen Kunstauffassungen geeignet wie kaum andere, einander zu ergänzen. Es ist keine Gegenüberstellung, die hier stattfindet, vielmehr ein In-Beziehung-Setzen von künstlerischen Positionen, die sich gegenseitig respektieren, erweitern, neue Liaisonen eingehen. „Bildende Kunst“, so lapidar der Titel auch klingen mag, eröffnet hier Positionen, die sich vielleicht tatsächlich erst durch eine umfassende humanistische Ausbildung erschließen. Wer sie hat, darf sich glücklich schätzen. Wer nicht, findet reichlich Anhaltspunkte zum Weiterschauen, Weiterlesen, Weiterdenken, zum Weiterbilden. Einfach schön.