Medardo Rosso und seine Nachfolger

Medardo Rosso und seine Nachfolger

Medardo Rosso ist einer jener Künstler, der große Auswirkungen auf die Kunst des 20. Jahrhunderts hatte, jedoch von der kunstinteressierten Allgemeinheit bis heute meist unter dem Radar läuft. Geboren 1858 in Turin, gestorben 1928 in Mailand, war er nicht nur ein Individualist, was den Umgang mit Materialien betraf. Auch seine politische Meinung als „europäischer Anarchist“, dem Nationalstaaten ein Gräuel waren, war nicht gerade maingestreamt.

Nichtsdestotrotz oder besser gesagt, gerade deshalb, ist sein Werk außerordentlich und kann, was seine Ausstrahlung betrifft, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Im mumok sind insgesamt ca. 50 Plastiken, sowie ca. 250 Fotografien, Collagen und Zeichnungen in einer umfassenden Werkschau von ihm zu sehen. Im Erdgeschoß darf man zuallererst aber in einen Teil seiner Fotografien Einblick nehmen, die seine Arbeiten stets begleiteten. Dabei fällt auf, dass viele von ihnen beschnitten sind, kein Normmaß aufweisen und die Plastiken von Rosso nicht nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen. Es ist vor allem die unterschiedliche Beleuchtung, welche die einzelnen Arbeiten im wahrsten Sinn des Wortes in verschiedenem Licht zeigen. Sie erhalten dadurch immer wieder neue Wahrnehmungsaspekte, ein Umstand, den Rosso beabsichtigte und der ihn offenbar auch faszinierte. Bei der Betrachtung der Vitrinen, in welchen die Fotos lichtgeschützt zu sehen sind, ist eine gewisse Obsession unverkennbar. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Fotografie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch etwas war, was nicht jedem und jeder zugängig war: Zu teuer war eine Kamera, zu kompliziert das Entwicklungsverfahren, das man selbst durchführen musste, unerschwinglich die Kosten für die Materialien.

Einige Motive wurden vielfach von Rosso fotografiert, darunter ‚Ruffiana‘ oder auch das feine Jungen-Gesichtchen ‚Ecce puer‘. Letzteres evoziert bei vielen Betrachtenden ad hoc Beschützerinstinkte, ein Indiz, dass die Arbeit mit einer hohen, dennoch aber subtilen emotionalen Ausdruckskraft ausgestattet ist. Bei der vollplastischen Ausführung der ‚Ruffiana‘, zu Deutsch ‚Kupplerin‘ werden automatisch Bezüge zu den Charakterköpfen von Franz Xaver Messerschmidt virulent. Der geöffnete Mund, bei Portraits lange Zeit ein absolutes No-go, sowie die Hervorhebung eines bestimmten affekthaften Zustandes überlappen sich hier mit Messerschmidts Ideen. Tatsächlich beeindrucken alle Werke von Rosso auch auf den Fotos durch ihre Lebendigkeit, die man wenige Schritte weiter, im zweiten Teil des großen Saales, direkt am plastischen Objekt betrachten kann.

european cultural news.com medardo rosso und seine nachfolger Medardo rosso ruffiana bronzo

Sailko, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

In diesem, von einem durchsichtigen Vorhang abgeteilten Raum, wurden seine Plastiken auf Sockel gestellt, viele von ihnen ohne Glasschutz. Dabei fällt auf, dass die meisten von ihnen nicht vollplastisch ausgearbeitet wurden. Ihre Rückseite ist unbehandelt, Armierungen bleiben sichtbar und der Werkstoff, aus dem die Plastiken geschaffen wurden, tritt hier besonders in den Vordergrund.

Ob Gips oder Wachs, beide Materialien waren und sind bis heute für viele Kunstschaffende noch Zwischenstadien auf dem Weg zu fertigen Plastiken. Für Medardo Rosso jedoch waren sie Hauptträger seiner Ideen. Das Unfertige, aber auch der Gattungsbegriff des Bozzettos, des Entwurfes, können benannt werden, wenn es um die Charakterisierung seiner Arbeiten geht. Und tatsächlich vermitteln diese immer das Gefühl, aus dem Moment heraus entstanden zu sein, mit der Absicht, dieses ständig sich wandelnde Momenthafte dennoch festzuhalten.

Dazu kommt, dass Wachs, mit dem Rosso arbeitete, ein Material ist, das eine beinahe fleischliche Qualität aufweist. Es lässt sich nicht nur leicht formen, sondern alle Dellen, Vertiefungen und Erhöhungen lassen sich sinnlich nachspüren, ohne dass man die Plastiken berühren muss. Nichts, was der Künstler schuf, hatte den Anspruch von Monumentalität oder Ewigkeit, wenngleich das, was in Wien zu sehen ist, dennoch einen Ewigkeitsanspruch in der westlichen Kunstgeschichte erheben darf.

Medardo Rosso entschied sich bewusst, sogenannte „arme“ Materialien zu verwenden. Er wollte einen Gegenpol zu jenen Werken schaffen, die in Bronze gegossen, letztlich erstarren und nur mit Mühe für lebendig gehalten werden können.

Besonders bemerkenswert sind eine Reihe kleiner Bleistiftskizzen des Künstlers im 2. Stockwerk, in welchem die Ausstellung ihre Fortsetzung findet. Zum Teil an der Kippe zur Abstraktion, zum Teil aber gut lesbar, sind sie wahre Schätze des rasch Hingeworfenen, augenblicklich Festgehaltenen. Die hohe künstlerische Qualität rührt nicht allein vom flüchtigen Moment, in welchem sie entstanden, sondern auch aus der Sicherheit der Strichführung, der Beherrschung von Licht und Dunkelwiedergabe und der Konzentrierung auf das jeweilige Motiv. Ob elegante Damen, Männer im Park oder ein Pferd, eingespannt in ein Fuhrwerk – immer zeichnet Rosso strichsicher in kleinem Format, so als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als dem Augenblick einen visuellen Ausschnitt zu entreißen, um diesen festzuhalten.

Neben diesem Zeichenkabinett ergänzen 50 zeitgenössische Arbeiten und solche aus dem vorigen Jahrhundert die Schau. Dabei sind große Namen wie Francis Bacon, Louise Bourgeois oder Edgar Degas ebenso vertreten, wie solche, die meist nur Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern bekannt sind. Die Auswahl wurde angesichts der verwendeten Materialien getroffen – Wachs ist häufig ein Thema. Aber auch die Momentaufnahme und der Bezug zu einer starken Körperlichkeit sind bei vielen Werken zu erkennen. Obwohl die Auswahl großzügig gestaltet und auch gut in Szene gesetzt wurde, sind es doch die Arbeiten von Medardo Rosso selbst, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Noch zu sehen bis 23. Februar 2025.
Ein ausführlicher Katalog mit vielen Abbildungen begleitet die Ausstellung, die vom 29. März bis 10. August 2025 ins Kunstmuseum Basel weiterwandert.

3 mal ig

3 mal ig

3 Tage – 2 Künstler

Beide haben künstlerische Werdegänge beschritten, die stark mit der Wirtschaft verzahnt sind, dennoch sind sie ihrer eigenen Handschrift immer treu geblieben.

Soltys (geb. 1956) war von 1980 bis 1985 Lehrbeauftragter an der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Graz (Abteilung Bühnenbild) und von 1986 bis 2007 Leiter für Bühnenbild der Werkstätten der VEREINIGTEN BÜHNEN GRAZ. Seit 1989 ist er Mitglied des Künstlerkollektivs Intro Graz Spection und arbeitet seit dem Jahr 2007 freischaffend.

Andreas Quella-Gratze (geb. 1962) studierte Bühnenbild in Graz und kam dabei erstmals mit Herbert Soltys als Lehrer in Kontakt. Danach arbeitete er als Freelancer im Bereich Malerei und Grafik und unterstütze Sepp Zotter von Beginn seiner Karriere als Chocolatier. Seit vielen Jahren fungiert er als dessen Art Director und wurde mit der Gestaltung der Schokoladeschleifen weit über Österreich hinaus bekannt.

european cultural news.com 3 mal ig IMG 8619

Foto: European Cultural News

Im Laufe der Jahre verloren sich Soltys und Quella-Gratze aus den Augen, fanden aber durch Helmut Kocher, Inhaber einer Spenglerei und Dachdeckerei, wieder zusammen. Der Unternehmer ist leidenschaftlicher Kunstförderer und bescherte dem kunstinteressierten Publikum in Graz ein besonderes Event. Die Galerie Sommer, die über 10 Jahre neben dem Standort in der Liebenauer Hauptstraße auch in der Stempfergasse eine Niederlassung hatte, schloss diese mit 17. Juni. Die letzten drei Tage im altehrwürdigen Palais Kazianer wurden dank Helmut Kocher für ein Sonderevent genutzt.

In zwei Räumen standen sich die Arbeiten von Herbert Soltys und Andreas Quella-Gratze gegenüber. Großformatig sind jene von Soltys, der es über Jahrzehnte hin gewohnt war, mit enormem Malgerät riesige Leinwände zu bearbeiten. Kleinformatig präsentierte hingegen Quella-Gratze seine Arbeiten. Ob unterwegs oder zu Hause, er hat immer neben sich Papier liegen, um plötzliche Einfälle festzuhalten.

Beide treffen sich in zwei Stilkriterien sowie zum Teil auch inhaltlich. Zum einen arbeiten sie mit einer Farbenvielfalt, die unbekümmert, ja oft provokant nebeneinandersetzt, was gerade gefällt. Überdies verwenden sowohl Soltys als auch Quella-Gratze malerische und grafische Elemente und zeigen so, dass sie mit Farbe und Linie gleichermaßen umzugehen wissen. Inhaltlich treffen sich die Künstler in der permanenten Beschäftigung mit dem Menschen in all seinen Bewegungen oder auch statischen Momenten.

Quella-Gratze greift oft zu fließenden Formen, in welchen sich seine Körper auflösen und schweben. Grazil erscheinen sie immer und mischen sich mit deutlich erkennbaren Menschenwesen. Seine Bilder erzählen Geschichten, die viele Interpretationen offen lassen. Er selbst hingegen komponiert sie mit einer ganz bestimmten Idee. Wer nachfragt, ist im Vorteil, denn dann hat man das Glück, durch seine Erklärungen auch in seine kreative Gedankenwelt einzutauchen. Seine Bilder sind in dem Sinn keine Suchbilder, aber man sucht in seinen Bildern dennoch stets einen Sinn. Vieles, was man erblickt, scheint Traumszenen entnommen, oft punktet er mit einer hochästhetischen Komposition, der nichts mehr hinzuzufügen oder wegzunehmen ist.

Soltys hingegen betreibt in seinem jüngsten Zyklus kunsthistorische Aufklärungsarbeit. „Der Frühling“ von Botticelli tummelt sich neben einer Miniatur von Günter Brus, eingefasst in einem goldenen Barockrahmen. Joseph Beuys blickt fröhlich aus einem Bild und hält in einer seiner Hände eine kleine Tanz-Figurine, ganz so, als hätte er die Skulptur von Degas gerade aus einem Museum entwendet. Die Porträts blicken die Betrachtenden durchgehend direkt an, suchen deren Blick geradezu. Die kunsthistorischen Referenzen sind für den Künstler Fingerzeige, dass das Gestern ins Heute reicht und das Heute durch das Gestern eine neue Zukunft schafft.

Neben einer fulminanten Vernissage, bei welcher die Räumlichkeiten der Galerie förmlich aus ihren Nähten platzten, durften die Besucherinnen und Besucher am letzten Tag einen weiteren Höhepunkt erleben. Herbert Soltys hatte während der kurzen Ausstellungsdauer ein Bild angefertigt, auf dem viele einzelne Porträts zu erkennen sind. Den letzten Schliff verpasste er seiner Arbeit vor Publikum. Andreas Quella-Gratze überarbeitete dieses anschließend mit seiner eigenen Handschrift partiell und nach der zweifachen Signatursetzung übergaben die beiden Künstler das Werk Helmut Kocher als „Dankeschön“ für seinen Einsatz und seine Unterstützung.

european cultural news.com 3 mal ig IMG 9204

von links nach rechts: Herbert Soltys, Andreas Quella-Gratze, Nicole Sommer, Helmut Kocher (Foto:ECN)

‚3 mal ig‘ vereinte nicht nur zwei unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten mit ihren Werken auf harmonische Weise. Die Aktion machte auch deutlich, dass Kunstschaffende auch abseits von der sonst mehr als bekannten Rivalitätsgeste miteinander kooperieren können. Mit der Tatsache, dass es dafür einen kunstsinnigen Katalysator benötigte, nämlich Helmut Kocher, der selbst für die Kunst der beiden brennt, schließt sich der Kreis: Kunst und Wirtschaft stehen sich nicht diametral gegenüber. Im besten Fall ergänzen sie sich für beide Seiten auf das Zufriedenstellendste.

Kein Kaffee, dafür umso mehr Licht

Kein Kaffee, dafür umso mehr Licht

Ab und zu sind es kleine Events, die überraschen. Ein solches ist derzeit im „Festivalzentrum Hornig Areal“ zu sehen. Einem Gebäudekomplex, in welchem früher Kaffee geröstet wurde und das nun eine temporäre, kulturelle Zwischennutzung erfährt. Anlässlich des „Designmonat Graz“, das den Titel „What now!?“ trägt und in den Hallen rund um das Hauptgebäude angesiedelt ist, wird in der Schau „As found – Potenzial des Vorgefundenen“ ins ehemalige Haupthaus eingeladen.

The Space in Light Miribung Patrick und Hamedinger Philipp

The Space in Light – Miribung Patrick und Hamedinger Philipp

net. estat. primigeni.

net. estat. primigeni.
Hausmann Max und Ulbing Daniel

Studierende der Fakultät für Architektur an der TU Graz haben sich mit dem leer stehenden Gebäude beschäftigt und sein Innerstes sowohl nach ästhetischen als auch technisch-architektonischen Besonderheiten unter die Lupe genommen. Nach einer ersten Bestandsaufnahme wurden insgesamt acht Beiträge erarbeitet, die sich mit dem Thema von Gefundenem auseinandersetzen.

european cultural news.com kein kaffee dafuer umso mehr licht IMG 8705

Hinters Licht führen
Anagnostopoulos Robert und Höll Lena

european cultural news.com kein kaffee dafuer umso mehr licht IMG 8716

Chroma Crossing
Sebastian Schmidt und Dolores Miranda

So klein die Schau auch ist, so überraschend ästhetisch präsentieren sich die Arbeiten, die starke künstlerische Momente aufweisen. Weitab von architektonisch-mathematischen Tüfteleien bestechen die Werke durch ihre Schönheit, die mithilfe von Lichtinstallationen in den abgedunkelten Räumen perfekt zur Geltung kommen.

Rothenwänder Lena Sophia

The Frame – Rothenwänder Lena Sophia

Over Head Lay Kahr Lea Sophie und Ulbing Aldo

Over Head Lay
Kahr Lea Sophie und Ulbing Aldo

Dass sich das Gefundene normalerweise auf den Müllhalden von Graz wiederfindet, leuchtet ein. Hier aber werden einem alten Beamer, Glasfaserkabeln, Plastiknetzen oder kleinen Holzstäben neues Leben eingehaucht, das im wahrsten Sinn des Wortes verzaubert.

Die Kooperation des „designforum Steiermark“ mit der Grazer Hochschule bietet über die Win-win-Situation der beiden Institutionen hinaus noch weitere Vorteile. Neben der Projektarbeit selbst, in welcher die Studierenden in relativ kurzer Zeit ihre Projekte erarbeiten und abliefern mussten, ist es auch die neue Nutzung des Areals, dessen Baulichkeiten man nun erstmals einer Öffentlichkeit präsentiert. Die Nähe der Helmut-List-Halle verstärkt den Eindruck, dass sich der Bezirk Lend entlang der Achse der Waagner-Biro-Straße in einem starken Wandel befindet. Weg von einer reinen Industrienutzung hin zu einem Wohngebiet mit verstärkter, kultureller Infrastruktur.

Demon RadioAußen bunt und innen tiefschwarz

Demon Radio
Außen bunt und innen tiefschwarz

Ein Ort, der erstmals bespielt wurde, ist ein ehemaliges Call-Center in Mariatrost. Der leerstehende Bau, von welchem früher aus einem Großraumbüro telefoniert wurde, erfuhr eine Umwandlung zum „Demon Radio“. Einem Ort, in dem sich das Dämonische in vielen Arten finden lässt.

Die Vier von der Tankstelle

2023 09 21 Steirischer Herbst 00787 full

Jos de Gruyter & Harald Thys, Die Vier von der Tankstelle (2023), Installationsansicht, Demon Radio, Foto: steirischer herbst / kunst-dokumentation.com, mit freundlicher Genehmigung der Künstler

Schon am Parkplatz, vor der Ausstellungslocation, erwartet das Publikum eine irritierende Installation: „Die Vier von der Tankstelle“ von Jos de Gruyter & Harald Thys. Seinen Titel erhielt das Werk in Anlehnung an den Film „Die Drei von der Tankstelle“ aus dem Jahr 1930, der von der NS-Zensur auf die Liste der verbotenen Filme gesetzt worden war. In dem Auto sitzen nicht drei Personen, sondern vier uniformierte Dobermänner. Hunde, die scharf abgerichtet, gerne im Umfeld von Personen auftauchen, die einen besonderen „Schutz“ benötigen. Die Nummerntafel des alten Mercedes ist dechiffrierbar, trägt sie doch verbrämt jenes Datum, an welchem Hitler 1938 die Menschenmassen in Klagenfurt begeisterte. Die beiden Künstler, die in Brüssel leben, lassen bei dieser Installation offen, ob die vier Insassen jemanden jagen oder ob sie auf der Flucht sind. Somit öffnet das Kunstwerk unterschiedliche Interpretationsfenster – eine Zugangsweise, die für die Ausstellung „Demon Radio“ signifikant ist. Die Arbeit korrespondiert mit jenen im Innenbereich – vorrangig mit jener über den ehemaligen deutschen Jazz-Experten Dr. Schulz-Köhn.

Ein zweiter künstlerischer Beitrag des Duos im Inneren der Ausstellungshalle trägt ebenfalls tierische Züge. Micro Mundo 3, 4, 5, 8 und 10, in diesem Jahr entstanden, sind kleine, surreale Terrarien, in welchen sich Nagetiere, Reptilien und anderes Getier mit menschlichen Köpfen tummeln. Faszinierend und abstoßend zugleich präsentieren sie sich den Betrachtenden und stellen ad hoc die Frage nach Genmanipulation und Mutationen, die der Mensch so nicht beabsichtigt hat.

Ein Jazzsammler, SA- und NS-Mitglied

Der Deutsche, Dietrich Schulz-Köhn, war ein Liebhaber und Kenner von Jazzmusik. Er vermachte dem Institut für Jazzforschung in Graz, zu dessen Mitbegründern er zählte, seine Sammlung von Jazz-Schallplatten, die er vor, während und nach dem 2. Weltkrieg gesammelt hatte. Selbst Mitglied der SA und der NSDAP, war er während des Krieges als junger Mann in Frankreich stationiert und konnte dort aufgrund seiner guten Kontakte zum amerikanischen Feind schnellstmöglich an die Neuerscheinungen kommen, für die er sich so interessierte. In der Ausstellung sind nicht nur einige seiner Schallplatten zu sehen, sondern es ist auch ein Radio-Mitschnitt zu hören. Als Moderator vieler Jazz-Sendungen im WDR und anderen Radiosendern gestaltete er eine Reihe von Sendungen zu diesem Thema. In jenem Beitrag, der in der Ausstellung zu hören ist, kann man gut nachvollziehen, wie nach dem Krieg bei Schulz-Köhn eine Art Dislozierung zum eigenen Tun während des Krieges stattgefunden haben musste. Spricht er doch dort über die Restriktionen während der Nazi-Herrschaft so, als wäre er nie Teil dieses Mörderregimes gewesen, sondern vielmehr von einem Sender außerhalb Deutschlands beauftragt worden, über dieses Thema zu sprechen.

In der Kontextualisierung mit den anderen Beiträgen, die sich in dieser Ausstellung noch befinden, wird deutlich, dass das Dämonische im Menschen ein Phänomen ist, das zeitabhängig unterschiedlich bewertet wird.

Serene Velocity in Practice: MC510 Signs & Wonders (Prerequisite for CS183 How to Build the Future) (2017–23)

sh23 Michael Stevenson promo 3

Serene Velocity in Practice (Foto: mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

Gegenüber des kleinen Zimmers, in welchem die Radiosendung läuft, hat Michael Stevenson, mit Stoffbahnen begrenzt, eine Art Raum im Raum gestaltet. In diesem empfand er das Setting eines praktischen Kurses über Gesundbeten und Exorzismus, den der Kirchengründer John Wimber von 1982 bis 1985 am Fuller Theological Seminary in Pasadena unterrichtete, nach. Die künstlerische Verfremdung, die dort vorgenommen wurde, verschärft noch den beklemmenden Eindruck, dass man sich in einem Surroundig befindet, in welchem Menschen psychische Gewalt angetan wurde.

Indischer Freiheitskämpfer und aktuelle Nationalismen

Insgesamt vier Videobeiträge laden ein, sich dem Dämonenhaften auf völlig unterschiedliche Art und Weise gegenüberzustellen. Die indische Theatermacherin Zuleikha Chaudhari schuf einen Film über Subhas Chandra Bose, einen Kämpfer gegen die englische Kolonialmacht. Er hatte sich in den 30er-Jahren die Unterstützung von Hitler erhofft und war deshalb nach Berlin gereist. Auf dieser Reise, aber auch anderen, die danach folgen sollten, als er unverrichteter Dinge Deutschland wieder verließ, nahm er unterschiedliche Identitäten mit unterschiedlichen Nationalitäten an. Ähnlich wie bei Schulz-Köhn ist man verblüfft, wie sehr in gewissen Lebensabschnitten Realität und Ideal auseinanderklaffen, sich zum Teil sogar ins Gegenteil verkehren. Zusätzlich vermischt die Künstlerin in dem Video auch Mitschnitte von Vorlesungen über den Nationalismus, die bei Teach-ins während der Studentenbewegung 2016 an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi gehalten wurden.

Mechanisches und zutiefst Menschliches

Der israelitische Künstler Dani Gal wurde vom Steirischen Herbst mit zwei Auftragsarbeiten bedacht. In seinem Film „Book of the Machines“ werden anhand von Nahaufnahmen von mechanischen Puppen aus dem 19. Jahrhundert, die menschliche Züge tragen und sich so benehmen wie Menschen, Fragen gestellt, die deckungsgleich mit jenen sind, die sich unsere Gesellschaft im Moment angesichts der allgegenwärtigen KI-Anwendungen stellen muss.

Book of the Machines, mit freundlicher Genehmigung des Künstler

Extrem berührend ist sein Film „Dark Continent“ geworden, der eine Fallstudie aus dem Buch Schwarze Haut, weiße Masken (1952) des Psychiaters und antikolonialen Autors Frantz Fanon nachstellt: Darin geht es um ein Mädchen, das im Alter von 12 Jahren nervöse Ticks zu entwickeln begann. Sie landete letztlich in einer Nervenheilanstalt, in welcher der leitende Primar in seiner abschließenden Diagnose Freud zitierte und meinte, dass die Sexualität von Frauen ein schwarzer Kontinent sei. Während des Filmes erfährt man, dass schon bald nach der Kolonialisierung in Afrika Buschtrommeln verboten worden waren, schlicht aus dem Grund, weil man damit über große Distanzen Nachrichten übermitteln konnte und somit die Gefahr von Revolten nicht auszuschließen war. Der Vater des jungen Mädchens, selbst ehemals in Afrika eingezogen, legte abends Musik auf, in welchem diese Trommeln zu hören waren. Eine eindeutige Bildsprache, die auf einen grausamen Zug des Mannes rückschließen lässt und die Fantasie, die man als Zusehende selbst entwickelt, lassen am Ende des Filmes an einen Kindesmissbrauch innerhalb der eigenen Familie denken. Die perfide Art, wie das Trommeln der schwarzen Bevölkerung, die als rückständig und bedrohlich dargestellt wird, aufgezeigt wird, macht sprachlos.

In der Koppelung mit den Ausdrücken, mit welchen Schulz-Köhn die schwarzen Jazzer aus Amerika im NS-Diktum erwähnte, gelingt auch hier ein Brückenschlag zwischen den einzelnen künstlerischen Beiträgen. Das Kuratorenteam rund um Ekaterina DegotDavid Riff, Pieternel Vermoortel, Gábor Thury und Barbara Seyerl – hat hier ganze Arbeit geleistet.

Anna Engelhardt und Mark Cinkevic Trailer, mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen

Mit einem Video von Anna Engelhardt und Mark Cinkevic (Russland und Belarus), in welchem sie auf die dämonische Macht von russischen Hightech-Stützupunkten in besetzten Staaten verweisen, reicht der Bogen des Ausstellungsthemas in unsere Gegenwart.

Genauso wie eine Klang-Installation von Anton Kats, in welcher er sich an seine Kindheit und den Krieg in Cherson erinnert, eingesprochen von einer ruhigen Frauenstimme (Susanne Sachsse) auf dem Soundlayer „Palladium“ von Weather Reports. Jener einflussreichen Jazzband, die vom Österreicher Joe Zawinul gegründet wurde. Ausgerechnet in der UDSSR hatte Palladium Kultstatus. Fein und schön anzuhören, fließend und harmonisch täuscht die Musik und überdeckt das Grauen, das ihr in dem Text additiv zugeführt wurde.

Was von außen bunt beflaggt, sich als Spaßszenerie geriert, ist im Inneren voll von dunklen Flecken, die es wert sind, aufgedeckt zu werden.
Der Eintritt zur Ausstellung ist dank eines großzügigen Sponsor-Angebotes der AK-Steiermark gratis.

Ways of freedom – Jackson Pollock bis Maria Lassnig

Ways of freedom – Jackson Pollock bis Maria Lassnig

Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen Künstlerinnen und Künstler dort, sich von der darstellenden Malerei abzuwenden. Zugleich aber werden auch Arbeiten von hochrangigen österreichischen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt, die nach dem 2. Weltkrieg expressiv-abstrakt arbeiteten und sich damit auch ihre eigenen Plätze in der Kunstgeschichte eroberten.

IMG 4352 1

„St. Stephan“ von Wolfgang Hollegha (Foto: ECN)

Die Chefkuratorin und Direktorin der Albertina modern gestaltete eine Ausstellung, in der eines der zentralen Werke sogar von einem österreichischen Künstler stammt. „St. Stephan“ von Wolfgang Hollegha ist wandfüllend in einem der mittleren Säle so prominent platziert, dass man den Eindruck gewinnen kann, dass sich rund um sein Werk vieles andere fügt. Der präzise Farbauftrag – Rot auf weißer Leinwand – vermittelt zugleich eine frei inspirierte, gestische Arbeit als auch ein enormes Gespür für Ästhetik und Reduktion.

In vielen Räumen sind Gegenüberstellungen gelungen, die formal wunderbar zueinanderpassen. So zum Beispiel in jenem, in welchem Bilder von Maria Lassnig neben und gegenüber von solchen von Wolfgang Hollegha oder Helen Frankenthaler hängen. Letztere ist unter anderen auch mit einem atemberaubenden, großen Querformat vertreten. Die Farbschichtungen auf über vier Metern Länge beeindrucken, da sie trotz der Größe nichts an Leichtigkeit eingebüßt haben.

Neben den bekannten Namen wie Pollock, Rothko, Motherwell und Newman entdeckt man auch weniger Bekanntes. Judit Reigel, Debora Remington oder Mary Abbott sind drei von insgesamt 13 Künstlerinnen, welche in der Ausstellung eine verdiente Würdigung erfahren.

Die Wandtexte geben einen schönen Querschnitt und Überblick über die Systematik der Arbeiten: In ihnen werden die Begriffe Action painting, All-over-Strukturen, Farbfeldmalerei oder auch Soak-Stain-Technik erklärt. Neben rein materialtechnischen Erläuterungen erhält man auch einen Überblick über die Blütezeit der Aktionsmalerei in Österreich und über die Malergruppe um die Galerie St. Stephan.

Die Schau verdeutlicht, wie groß die Bandbreite in der abstrakten Malerei von Beginn an angelegt war. Das Erkennen von Handschriften macht Spaß und zeugt von einer gelungenen Auswahl der Bilder. Ein Katalog zur Ausstellung ist sowohl im Shop als auch online erhältlich.

Wie klingt ein Ort?

Wie klingt ein Ort?

Kann man den Klang eines Ortes erkennen? Gibt es neben Sehens- auch Hörenswürdigkeiten? Der Kulturwissenschaftler und Kurator Thomas Felfer ist dieser Frage nachgegangen und hat Geräusche, Klänge und Gespräche eines Ortes erfasst und nun in Graz, im Museum für Geschichte hörbar gemacht. Die Ausstellung „The sound of St. Lambrecht. Der Klang eines Ortes“ ist eine Ausstellung der anderen Art. Denn viel mehr als man sehen kann, kann man hören.

Wie Sprachaufnahmen von Interviews mit Einwohnern von St. Lambrecht, schon vor Jahrzehnten aufgenommen. Stilecht hat man die Möglichkeit, diese kurzen Gesprächsausschnitte von Kassetten abzuspielen. Junges Publikum wird vielleicht die Inbetriebnahme des Kassettenrekorders vor Herausforderungen stellen. All jene, die damit aber groß geworden sind, dürfen sich auf reminiszenzhafte Gefühle freuen. Ähnliches kann man auch beim Auflegen und Hören von Schallplatten verspüren, zu welchem man sich bequem in 50er-Jahre-Fauteuils setzen kann.

Die kleinen Kassetten-Interviewschnipsel behandeln Themen wie Essen, einen Hausbau, aber lustigerweise auch „Fensterln“, wobei Ungeübte wegen des starken Dialektes nicht jedes Wort verstehen werden. Es geht aber laut dem Ausstellungsmacher gar nicht darum, alles genau zu verstehen. Das Einlassen auf eine ungewöhnliche Sprachmelodie steht vielmehr im Vordergrund – eben hören, wie man „woanders“ spricht.

Neben Sprachaufzeichnungen ist es auch möglich, in die Akustik von Räumen eintauchen. Das Stift St. Lambrecht selbst bot hierfür eine wunderbare Soundkulisse. Das metallene Geräusch eines schweren Schlüssels, der ein Schloss aufsperrt, wird abgelöst vom Knarzen einer Türe, die geöffnet wird und im nächsten Moment hört man das Hallen von Schritten in einem großen Raum. Ein kleiner Rundgang durch das Stift wurde auditiv aufgenommen und kann so ohne visuelle Eindrücke nachverfolgt werden. Ganz nebenbei beginnt man zu verstehen, oder besser – zu hören, dass blinde Menschen auf diese Art und Weise einen Eindruck von Räumen bekommen.

Ein Höhepunkt der Ausstellung wird jedoch bildgewaltig präsentiert. Die Geschichte der Glockenschmelze von St. Lambrecht im 1. Weltkrieg kann man mithilfe einer Virtual-Reality-Brille nicht nur nachhören, sondern auch sehen. Hoch oben im Kirchturm steht man der Glocke plötzlich gegenüber und erlebt mit, wie diese darüber berichtet, wie sie per Dekret abgenommen und zu Verteidigungszwecken eingeschmolzen werden musste. Der Moment in welchem sie plötzlich und unerwartet, in unzählige Teile gesprengt, zu Boden fällt, ist hochemotional. Selten wartet eine Museumsschau mit so einem beeindruckenden Moment auf.

Es war eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema der Einschmelzung von 70 % aller Glocken in Österreich während der beiden Weltkriege, die Thomas Felfer als Ausgangsbasis für diese Ausstellung diente.

MFG Sound of St Lambrecht 041

Bild: Universalmuseum Joanneum / J.J. Kucek

Sie wurde im Spätsommer 2022 einen Monat lang im ehemaligen Stiftsspital in St. Lambrecht gezeigt und steht, laut Leiterin des Museums für Geschichte, Bettina Habsburg-Lothringen, am Beginn einer Reihe. In dieser sollen mehrmals pro Jahr weitere „Schaufenster“ in die Region gezeigt werden. Das Interessante der Schau „The sound of St. Lambrecht“ ist, dass sie nicht nur ein regionales Thema aufgreift. Vielmehr sensibilisiert sie die Besuchenden Geräusche und Klänge, Lautes und Leises, kaum Hörbares, aber auch laut Lärmendes mit einem neuen Fokus wahrzunehmen.