Der Stoff, aus dem die Träume sind

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Mit „BOMBYX MORI“ übertitelte die in Polen geborene und in Paris lebende Tänzerin und Choreografin eine Arbeit, die sich auf ein Stück bezieht, das sie bereits vor einigen Jahren über die amerikanische Tanzpionierin Loïe Fuller erarbeitet hatte. Bombyx Mori ist die lateinische Bezeichnung des Seidenspinners, wobei Maciejewska gleich mehrere Bezüge dieses Tieres zu ihrer Choreografie herstellt. Einerseits zeigen die Seidenspinner in ihren unterschiedlichen Stadien auch völlig unterschiedliche Verhaltensweisen. Die Raupe, die sich aus dem Ei bildet und dann kräftig auf Futtersuche ist, umwickelt sich später mit einem Kokon, in dem sie erstarrt, um sich danach als Schmetterling zu präsentieren, der mit völlig neuen Bewegungsmustern aufwartet. Fuller war eine der ersten Tänzerinnen, die den Tanz mit Kostümen und Licht auch außerhalb des eigenen Körpers erweiterten. Bekannt von ihr ist eine Szene, in welcher sie sich mit einem ausladenden Kostüm um die eigene Achse dreht und die Stoffbahnen zum Wirbeln bringt.

Auch Ola Maciejewska griff auf diesen Kostümschnitt zurück, allerdings waren die drei auf der Bühne Agierenden – eine Frau und ein Mann – mit schwarzen Kleidungsstücken ausgestattet. Bei ihr ist es aber weniger das Augenmerk auf das Innen und das Außen der tanzenden Körper, auf das es ihr ankommt. Vielmehr spielt sie mit den schwarzen, bodenlangen, völlig rund geschnittenen Kostümen auf höchst unterschiedliche Art und Weise. Die Seide – die als Grundmaterial für den Stoff dient – auch sie ist ein Hinweis auf den Titel. Ohne sie wären die Figuren, die Formen, die Bilder nicht möglich, welche die Choreografin am laufenden Band produziert.

17 OlaMaciejewska BombyxMori c MartinArgyroglo 04

Ola Maciejewska BOMBYX MORI / Théâtre de la Cité internationale

Vieles davon geschieht auf einer extrem dunklen Bühne, manches Mal geht das Licht ganz aus. Eine höchst eigenwillige Soundmischung konzentriert sich zum Teil nur auf die Wiedergabe auch leisester Atemgeräusche. Im Wechsel der Szenen verwandeln sich Burkas in mittelalterliche Umhänge und Menschen mutieren zu Objekten. Baumstämme verändern beinahe unmerklich ihre Position, wachsen sich zu Monstern aus und fallen wieder ganz in sich zusammen. Das Reich der Schatten durchkreuzen Vögel genauso wie tiefschwarze, hüpfende Gestalten, die frappierend an SpongeBobs aus der gleichnamigen Comicserie erinnern, was im Publikum ad hoc zu Lachern führt. Neben vielem, was nur zu erahnen ist, formieren sich die Tanzenden aber auch zu einem Bild, das ein großes Schiff samt Schiffsschraube beim Durchkreuzen der Meere zeigt.

Neben all der Verwandlung, welche diese Kostüme zulassen, baut Maciejewska aber auch immer wieder jene Bewegungen ein, die von Loïe Fuller überliefert sind. Ein Beugen und Strecken mit einem gleichzeitigen weiten Ausschwingen der Arme sorgt dabei für einen effektvollen Einsatz der hauchdünnen Stoffgebilde. Es ist die Verschränkung der vielen Reflexionsebenen, welche diese Arbeit so reizvoll macht. Wäre man in einem kühlen Raum gesessen anstelle des überhitzten Odeon-Saales, es hätten sich mit Sicherheit noch weitere Kopfbilder entwickeln können.

Glaube, Liebe Hoffnung

Glaube, Liebe Hoffnung

Die schwarze Bühne besteht aus einem nach allen Seiten begrenzten Raum ohne weitere Ausstattung. Einzig eine runde Scheibe schwebt über ihr, aus der Blitze zischen. Der Sound dazu – Untergangsstimmung mit einem Tosen und Dröhnen. Als der Lärm aufhört und die Blitze enden, tritt ein Mann in braunem Mantel mit Kapuze vor das Publikum. Er beginnt mit seinen Fingern langsam zu schnippen und seine Gesten laden die Zuseherinnen und Zuseher bald ein, es ihm gleichzutun. Es dauert nur wenige Sekunden, da hat er die Menschen im Saal in seiner Gewalt.

So einfach ist das, wenn man Gott ist. Oder ist er doch nur einer, der ohne erkennbaren Grund Inhaftierten?

17 UltimaVez MockumentaryofaContemporarySaviour c DannyWillems 02

Foto: Danny Willems

Drei Frauen, drei Männer und ein unerwarteter Besucher

Wim Vandekeybus sorgt in seinem Stück „Mockumentary of a Contemporary Saviour“, das er im Volkstheater im Rahmen von Impulstanz zur Österreichischen Erstaufführung brachte, ordentlich für Verwirrung. Denn neben dem Mann im braunen Kuttenmantel gibt es auch noch Ana. Jene hübsche, groß gewachsene Frau, die behauptet, eine Mutter zu sein. Mutter von einem Jungen, von dem sie getrennt wurde und der außerhalb der erzwungenen Klause lebt. Die weiteren Bewohner – drei Frauen und drei Männer, fügen sich seltsamen Ritualen. Wie die zierliche Jun und der muskelbepackte Hüne Flavio. Jedes Mal, wenn die junge Frau Zuflucht bei diesem Riesen sucht, wird er zum Mörder. Auf vielfache Art und Weise zeigt er an ihr mit Gesten und brutalen Bewegungen, wie man Menschen töten kann. Aber immer wieder steht Jun erneut auf und beginnt ihre Annäherungsversuche abermals.

Plötzlich fällt ein massiger Körper mit einem lauten Knall auf den Boden. Rote Haare, den orangen Overall über dem Bauch offen, liegt er da. Das Publikum braucht einige Sekunden Erholungspause. Und die Menschen in der Gefängnisblase fangen nach dem ersten Schock bald über die Bedeutung des Menschen zu streiten an. Bringt er Segen oder Fluch? Was weiß er über die Außenwelt? Lebt er oder ist er tot? Als sich Walter zu regen beginnt, von seiner brutalen Zeitreise erwacht, gerät er in Panik. Auch er wurde ungefragt in die Szenerie geworfen und will nichts, wie von dort wieder weg.

Ein Psychologe greift ein

Das „in die Welt geworfen Sein“, wie es Martin Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ ausdrückte, bekommt bei Vandekeybus eine visuelle Entsprechung. Und tatsächlich kreist die Arbeit des belgischen Choreografen um das Thema des Existenzialismus, mit einem wichtigen Zusatz: Von Gott befreit ist hier niemand. Alle, die sich auf der Bühne befinden, fühlen sich dort von einer höheren Macht kontrolliert, Gott ausgeliefert. Alle meinen, ohne den Glauben an ihr Auserwähltsein, könnten sie nie gerettet werden.

Erst als Walter mit brachialer Gewalt auf der Bühne landet, verändert sich das Zusammenleben der sechs Menschen in ihrer unfreiwilligen Abgeschiedenheit. Er, der im realen Leben Menschen nur von seinen Bildschirmen aus betreute, aber das wissenschaftliche Handwerkszeug mitbringt, Seelen zu kurieren, greift mit seinen Fragen und Aktionen beinahe unbemerkt, aber umso vehementer in die vorgefundene Gesellschaftsstruktur ein.

„Mockumentary of a Contemporary Saviour“ zeigt sich als eine Mischung von Sprech- und Tanztheater, was vieles, was darin aufgezeigt wird, wesentlich leichter fassbar macht, als wenn es nur durch eine reine Tanzsprache erklärt werden müsste.

Getanzte Emotionen

17 UltimaVez MockumentaryofaContemporarySaviour c DannyWillems 10

Foto: Danny Willems

Großartig zum Beispiel ist jene Szene , in welcher Maria die Geschichte ihrer Männerbeziehungen erzählt. Wie sie sich dabei verbiegt, als ob sie keine Knochen im Leib hätte, wie sie springt und ununterbrochen läuft, wie sie Bewegungen aus der Bodengymnastik einbaut, und dabei dennoch genug Luft zum Reden findet, ist einzigartig und bewundernswert. Der Regisseur gibt allen seinen Tanzenden die Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Manche erhalten ein Solo, andere ein Duett. Maria und Jason überwinden bei einem solchen unter der fachkundigen Anleitung von Walter ihre Abscheu voneinander und verbinden sich zu einem Herz und einer Seele. Sie werden ein Paar, das nur mit Gewalt und unter Geschrei zu trennen ist, aber dennoch wie die beiden Kugelhälften von Platon immer wieder zusammenfinden. Und Yun und Flavio wiederum tanzen das schönste Liebesduett, das in den letzten Jahren im zeitgenössischen Tanz choreografiert wurde. Wie die zarte Asiatin mit dem geschätzt doppelt so großen Mann korrespondiert, wie er sie vorsichtig hochhebt, in seinen Armen wiegt, wie sie bis zu seinem Kopf hochsteigt, um sich in vielen unterschiedlichen Positionen von ihm tragen zu lassen, er sich in einer Szene aber auch an sie festklammert, ist ein ausgesprochener Glücks- und Ausnahmemoment auf der Bühne.

Als schließlich das Kind, dessen Stimme immer wieder in Soundeinspielungen zu hören war, leblos in die Arme seiner Mutter segelt, ist zwar Nietzsches „Gott ist tot“- Behauptung erfüllt. Die Auflösung des Gefängnisses, die Vandekeybus mit diesem Bild zugleich vornimmt – der Himmel sinkt zu Boden und bildet nun keine Begrenzung mehr – wird von den nun Befreiten aber nicht wahrgenommen. Vielmehr machen sie sich nun daran, das Publikum zu missionieren. „Ihr seid auserwählt, ihr müsst glauben“, versuchen sie die Menschen im Saal – zum Teil mit Tuchfühlung – zu überzeugen.

Dass auch Walter von diesem Drang nun besessen ist, zeigt wohl, dass auch Vernunftmenschen nicht davor gefeit sind, sich von der süßen Droge der religiösen Erlösung vereinnahmen lassen.

Für Kindergartenkinder und Philosophen

Glaube, Liebe und Hoffnung sind in der christlichen Überlieferung die drei göttlichen Tugenden. Tugenden, die vom Existenzialismus zumindest zum Teil ad absurdum geführt wurden. Vandekeybus Gesellschaftsspiegel macht aber klar, dass wir heute mehr denn je weit davon entfernt sind, von ihnen zu lassen. Auch wenn wir die Möglichkeit dazu hätten.

Das zutiefst philosophische Stück hat Qualitäten, wie sie sich auch in Kunstwerken von Erwin Wurm finden: Egal ob Kindergartenkind oder Philosoph – alle kommen im Rahmen ihrer Reflexionsmöglichkeiten dabei auf ihre Kosten. Ein buntes, schrilles Spektakel mit herausragenden Ensembleleistungen, das zusätzlich die Möglichkeit bietet, sein eigenes Wertegefängnis zu hinterfragen.

Das Ensemble: Maria Kolegova, Yun Liu, Flavio DÀndrea, Jason Quarles, Anabel Lopez, Said Gharbi, Wouter Bruneel.

Zuerst die Analyse, dann der Tanz

Zuerst die Analyse, dann der Tanz

Das Festival Impulstanz lud Anne Teresa De Keersmaeker und Salva Sanchis mit der Compagnie Rosas ins ausverkaufte Volkstheater. Ihre ursprünglich für zwei Personen angelegte Choreografie „A Love Supreme“, nach dem gleichnamigen Album von John Coltrane, setzten die beiden für vier Tänzer neu auf.

Am Beginn betreten José Paulo dos Santos, Bilal El Had, Jason Respilieux und Thomas Vantuycom die Bühne und beginnen ganz ohne Musik zu tanzen. Ungewöhnlich, erwartet das Publikum doch Coltranes legendäre Komposition aus dem Jahr 1965. Dafür hatte er sich fünf Tage Auszeit von seiner Umwelt genommen und ein Werk geschaffen, dass seiner Zeit weit voraus war.

Vier Instrumente – vier Tänzer

Die Besetzung – Saxophon, Bass, Schlagzeug und Piano, forderte ein Team aus gleichrangigen Musikern. Denn obwohl Coltrane einige wichtige Solopassagen für sein Tenorsaxophon vorgesehen hatte, konnten auch seine Kollegen McCoy Tyner am Klavier, Jimmy Garrison am Bass und Elvin Jones am Schlagzeug ihr solistisches Können vollends einbringen.

Um die nur über knapp eine halbe Stunde dauernde Einspielung auf ein bühnentaugliches Mindestmaß auszudehnen, griffen De Keersmaeker und Sanchis zu einem Trick. Sie stellten – wie angedeutet – der musikalischen Wiedergabe eine stumme Tanz-Szene voran, die sich erst am Ende erklären ließ. Der Choreografie der vier Männer, die sich dabei sowohl synchron als auch in kleinen eigenen Parts  bewegten, folgte ein Solo.

17 Rosas ALoveSupremecAnneVanAerschot 15

Rosas_A Love Supreme (c) Anne Van Aerschot

Die Visualisierung eines kreativen Prozesses

Dabei steht Thomas Vantuycom lange regungslos, blickt bisweilen ins Publikum und durchmisst dann die Bühne, in dem er diese nachdenklich in alle möglichen Richtungen hin beschreitet. An manchen Stellen hält er inne, macht die eine oder andere, kurze Bewegung, um dann wieder regungslos zu verharren.

Wenn man um die Entstehungsgeschichte des Albums weiß, ist es nicht schwer, diese Szene zu interpretieren. Vor allem dann, wenn sich in den darauffolgenden Choreografien herausstellt, dass der Tänzer Coltranes Saxophonpart tanzt. Damit wird klar, dass De Keersmaeker und Sanchis mit dem Solo den Prozess der kreativen Phase verdeutlichten, in welcher Coltrane, abgeschlossen von der Umwelt, ganz für sich allein sein Konzept für „A Love supreme“ erarbeitete.

Es wurde viel darüber geschrieben, dass das Stück für Coltrane einen religiös konnotierten Hintergrund aufweist. Um die Choreografie aber zu verstehen, bedarf es dieses Wissens nicht. Denn De Keersmaeker und Sanchis griffen auf ein sehr simples, aber effektvolles Konzept zurück. Sie schlüsselten jedem Tänzer ein Instrument zu, das sie während der Performance verkörperten. Hat man diese Idee einmal begriffen, wird die Komposition von Coltrane durch ihre Visualisierung kristallklar. Wer ein wenig Kombinationsgabe und ein gutes Auge hatte, konnte auch ein kleines Rebus entdecken – den weißen Streifen auf der schwarzen Hose, der jenen Tänzer markierte, der die Rolle des Piano-Parts einnahm. Ebony and Ivory hatten Paul McCartny und Steeve Wonder die Schwarz-Weiß-Symbolik der Klaviertasten einst besungen.

Die sichtbare Partitur

Die jeweils agierende Hauptstimme tanzt dabei im Vordergrund. Die Begleitstimmen verhalten sich – je nach Notierung – entweder synchron oder werden ebenfalls völlig individuell ausgeformt. Dabei kann man wunderbar jene Partiturteile erkennen, die komplett ausnotiert wurden und in denen sich die vier Stimmen – wie zum Beispiel beim Thema selbst – aufeinander harmonisch beziehen.

Drehungen in verschiedensten Varianten um die eigene Achse, das Hochstrecken und Ausbreiten der Arme sind dabei immer wieder kehrende, stilistische Merkmale. Ein sich Zusammenballen und wieder Auseinanderdriften der Gruppe, ebenfalls.

Besonders der letzte, vierte Satz, den Coltrane als Gebet verstanden wissen wollte, weist eine ganze Reihe von Figuren auf, in welchen die vier Tänzer Körperkontakt haben. Darin zeigen sie eine sich in der Waage haltende Balance von Zug und Gegenzug. Dafür halten sie sich in verschiedenen Formationen an den Händen und legen ihr Gewicht in die entgegen gesetzte Richtung ihrer Partner. Dadurch entstehen – nicht nur wie es in der Musik zu hören, sondern eben auch zu sehen ist – kurze Schwebezustände. In ihnen gibt es kein Oben und kein Unten, keinen Leader und keine Begleitung.

Dieser letzte, besonders ruhige Satz ist zugleich auch jener, welcher am Beginn der Produktion stand. Zu einem Zeitpunkt, da man die einzelnen Bewegungszuschreibungen für die einzelnen Instrumente noch nicht wissen konnte. Es ist jener Satz, in dem Coltrane den Musikern keine Improvisationen zugestand, was in der Choreografie durch den Zusammenhalt der Tänzer klar sichtbar wird.

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass das theoretische Verständnis für die Choreografie zu „A Love supreme“ erst mit der Analyse von Coltranes Musik selbst einhergeht.

Begeisterter, lang anhaltender Applaus für eine Arbeit, die Tanz und Musik gleichermaßen zu ihrem Recht kommen lassen.

Das Leben ist ein Walzer

Das Leben ist ein Walzer

Mit Wucht treibt der Pianist und Performer Guy Vandromme am Bösendorfer-Flügel den „Valse“ von Maurice Ravel voran. Führt ihn von anfänglich lichten Höhen hin zu einem höllischen Gestampfe, welches infernalische Assoziationen zulässt. Während dessen liegt der Choreograf, Tänzer und Theaterschaffende Raimund Hoghe bäuchlings auf der Bühne und rührt sich nicht.

Eine bis zu den Knien aufgekrempelte, schwarze Hose und ein knallrotes Hemd verdeutlichen einen Farbcodex. Mit Rot assoziiert man ad hoc Leiden und Blut, mit Schwarz den Tod. Und so liegt Hoghe sinnbildlich für Millionen Gefallener des ersten Weltkrieges auf der Bühne des Akademietheaters. Im Rahmen von Impulstanz präsentierte er dort seine Österreichische Erstaufführung von „La Valse“.

Die Interpretation dieses Bildes ist zulässig, wenn man die Geschichte von Ravels „La Valse“ kennt. Der Komponist begann mit dem Stück bereits im Jahr 1906 und vollendete es 1920, zwei Jahre nach Beendigung des großen Krieges. Kein Wunder, dass die Komposition, bei der am Ende kein walzerseliges Vergnügen mehr zu verspüren ist, direkt in Verbindung mit den Kriegsgräueln gebracht wird. Ravel diente als Lastwagenfahrer und wusste genau, dass Hunderttausende Menschen den Kriegsgeschehnissen hilflos ausgesetzt waren und daran starben.

17 RaimundHoghe LaValsecRosa Frank.com 01neu

Raimund Hoghe „LA VALSE“ (c) Rosa-Frank.com

Ein Abend voller Musik, Trauer und Schmerz

„Valse“ – der Titel von Raimund Hoghes neuem Stück steht aber nicht nur für Ravels Tonschöpfung, vielmehr ist er programmatisch für die Produktion gewählt. Tatsächlich sind – bis auf ganz wenige Ausnahmen – an diesem Abend ausschließlich Walzer zu hören. Und viele, ja beinahe alle, verbindet der Autor, Tänzer und Choreograf Hoghe mit Wehmut, Schmerz und Trauer. Marion Ballester, Ji Hye Chung, Emmanuel Eggermont, Luca Giacomo Schulte, Takashi Ueno und Ornella Balestra werden dazu mit grauen Decken ausgestattet. Dieses Kostümattribut wird zum Sinnbild für die angesprochenen Emotionen, aber auch zum Sinnbild für den Tod schlechthin. Über die Schulter geworfen oder darin eingehüllt, symbolisieren diese Decken den ersten Wärmeschutz nach der Errettung aus dem Meer. Sie stehen aber auch für die Trauer und jene Menschen, die nicht mehr unter uns sind. Abwesende, mit denen die noch Lebenden gerne tanzen würden.

In vielen Szenen, die Hoghe mit einem Walzer nach dem anderen aneinander reiht, steht das Ensemble, dem Publikum abgewandt, regungslos vor der schwarz verhängten, hinteren Bühnenwand. Alleine, zu zweit oder auch alle. Mehr Verweigerung am Leben und auch am Bühnengeschehen teilzunehmen – außer vielleicht eine komplette Abwesenheit – gibt es nicht.

Die Musik verharrt dabei ganz und gar nicht in einem picksüßen Wiener-Walzer-Zuckerschaum-Sound. Zu hören sind unter anderen die großartige Josephine Baker, Juliette Greco, Patti Page, aber auch historische Aufnahmen aus dem Zigeunerbaron, ein Walzerpotpourri, in dem der Rosenkavalier hervorsticht und, und, und. Noch nie hat man an einem einzigen Abend eine derart große Bandbreite dieses musikalischen Genres präsentiert bekommen. Es ist aber nicht die Musik alleine, die den Abend hoch emotional auflädt.

Interpretationsfeuerwerke am laufenden Band

Trotz oder vielleicht gerade aufgrund seiner durchgehend langsamen Choreografien und mit nur wenigen Requisiten erschuf Hoghe ein gewaltiges Arsenal an Bildmunition, die Interpretationsfeuerwerke in den Köpfen seines Publikums auslösen kann. Dabei verweist er auf ganz persönliche Erlebnisse genauso wie auf aktuelle, zeitgenössische Phänomene. Das Ertrinken von zehntausenden Flüchtlingen im Mittelmeer veranschaulicht er mit einer nassen Bühne, einem kleinen, Handteller großen Boot und sich selbst. Am Bauch liegend und mit den Armen Schwimmbewegungen vollführend, dauert Ravels „Valse“ – dieses Mal in der symphonischen Fassung – eine gefühlte Ewigkeit. Die abermalige Verwendung von Ravels Musik macht im Hinblick auf die allererste Szene mit ihrem Verweis auf den Ersten Weltkrieg Sinn. Nun begleitet Hoghe damit das aktuelle Sterben von Flüchtlingen in großer Zahl im Mittelmeer. Auch wenn nur er alleine auf der Bühne gegen die Gewalt des Meeres anschwimmt.

Mehrfach ist bei verschiedenen Szenenwechsel der Ruf eines Muezzins, begleitet von Gewehrsalven und dem Grollen von großen Waffen, zu vernehmen. Auch das, was derzeit in Syrien passiert, was den Mittleren Osten erschüttert, lässt Hoghe bis auf die Theaterbühne tönen.

17 RaimundHoghe LaValsecRosa Frank.com 05neu

Raimund Hoghe „LA VALSE“ (c) Rosa-Frank.com

Diese dramaturgischen Ideen machen deutlich, warum dieser Abend nichts mit einem fröhlichen Dreivierteltakt-Gedrehe zu tun haben kann. Krieg und der Verlust von Menschen kann nicht schön getanzt werden. Hoghe, der selbst häufig auf der Bühne agiert, tut dies jeweils mit größter Bedachtsamkeit. Ob er sich um die eigene Achse mit verbundenen Augen dreht, einen zu Füsilierenden darstellt, ob er eine seiner Partnerinnen mit einem Rosenschal bezirzt, ob er den einen oder die andere bei ihren Soloauftritten unterstützt – immer tut er dies ohne eine einzige rasche Bewegung. Einzig in jener Szene läuft er kopflos von links nach rechts, vor und zurück über die Bühne, in welchem in einem aufgenommenen Gespräch eine Jüdin über ihr Schicksal nach der Auflösung des KZs berichtet, in dem sie als Deutsche gefangen gehalten wurde. Zurück nach Deutschland war für sie keine Option, die Ausreise nach England musste erst erkämpft werden.

Emotionen, die Geschichten kreieren

Wunderbar ist, dass Raimund Hoghe die Persönlichkeit aller Tanzenden in den Choreografien spürbar werden lässt. Ji Hye Chung und Takashi Uena dürfen dabei auf ihre kulturellen, asiatischen Wurzeln zurückgreifen, Emmanuel Eggermont besticht durch minimalistische, aber höchst ausdrucksstarke Bewegungen. Ornella Balestra wiederum, als Gast im Ensemble, ist von einer Trauer erfasst, die zu Herzen geht. Ein gemeinsamer Auftritt von ihr mit Hoghe, zu einem Song von Josephine Baker, gehört zum Emotionalsten, was der Abend zu bieten hat. Dabei geschieht wenig Tänzerisches. Aber die Hilfestellung, die Hoghe mit Gesten der Tänzerin anbietet, die Blicke, die in die Vergangenheit weisen und die Gesten, die deutlich machen, dass Verlorenes nicht wiederkommt, berühren zutiefst. Es sind Szenen wie diese, die den Zauber von Hoghes Choreografie auf den Punkt bringen.

Trotz aller Interpretationsmöglichkeiten geht es letztlich nicht darum, dem Publikum Geschichten vorzutanzen. Es geht darum, ihm Emotionen anzubieten, mit welchen es selbst Geschichten kreieren kann. Ein großer und berührender Abend.

Am 4. August ist Raimund Hoghe noch einmal bei Impulstanz zu sehen. Seine Solo-Show im Odeon trägt den Titel „Lettere amoroso“ 1999 – 2017.

Die dunkle Seite der Superhelden

Die dunkle Seite der Superhelden

Was bedeutet es, in Kinshasa zu leben? Was bedeutet es, in Europa geboren zu sein und sich nicht um afrikanische Belange zu kümmern? Haben Menschen aus Afrika überhaupt die Möglichkeit, sich zu artikulieren, gegen Systeme zu rebellieren, die ihnen ihre Lebensgrundlage nehmen? Ist die heutige Kunstproduktion von kolonialistischem Gehabe freizusprechen?

„Congo Na Chanel“ stellt all diese Fragen, ohne Antworten darauf zu geben, aus dem einfachen Grund, weil es keine einfachen Antworten auf diese Fragen gibt. Die in Wien lebende Performerin Elisabeth Bakambamba Tambwe, geboren in Kinshasa und aufgewachsen in Frankreich, setzte ihre Produktion an den Schluss der Wiener Festwochen – in dem stimmigen Ambiente des Performeums. Und sie bot all das auf, womit sie jede einzelne ihrer Performances ausstattet:

Überraschungsmomente, solche des Unbehagens, Augenblicke voll Humor, solche, die sprachlos machen, andere, die neue Erkenntnisse bringen und Eindrücke, die zum Weiterdenken und Diskutieren anregen.

Eine Reise nach Kinshasa – oder doch Dakar?

Gemeinsam mit Pierre Emanuel Finzi, Evandro Luis Pedroni, Sebastijan Gec und Prince Zeka schuf sie für das Publikum mithilfe eines Videos die Illusion einer Reise in ein Viertel von Kinshasa, in dem es keine befestigten Straßen, keine prunkvollen Häuser, keine Geschäfte gibt. Wer danach Lust bekommt, sich diese Stadt – die sich allerdings später als Dakar, die Hauptstadt von Senegal entpuppte – anzusehen, dem ist nicht wirklich zu helfen. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass sich der niedrige Lebensstandard, mit dem die Menschen dort zurechtkommen müssen, in absehbarer Zeit nicht verändern wird. In das Video wurden, dank einer Green Box im Raum, immer wieder Live-Auftritte der Performerin und ihrer Crew projiziert.

Tambwe wäre aber nicht Tambwe, hätte sie ihre Produktion nicht dazu genutzt, diese mit einer geballten Ladung Gesellschaftskritik zu versehen. Dabei stellte sie die Frage, ob man sich denn hier in Europa allmorgendlich guten Gewissens in den Spiegel schauen könne, ohne daran zu denken, dass das eigene Wohlergehen auf Kosten der Völker in Afrika zustande kommt. Den kongolesischen Sänger Prince Zeka konfrontierte sie mit dem Vorwurf, warum er sich denn nicht in seinen Songs zu den politisch unhaltbaren Umständen in seinem Land äußert. Nicht zuletzt machte sie klar, dass der europäische Contemporary-dance-circus längst kolonialistische Formen angenommen hat, mit welchen er sich gute Tänzer aus Afrika holt, um sie nach einem Tourjahr, völlig ihrer Mitte beraubt, gnadenlos wieder auszuspucken und fallenzulassen.

Congo na Chanel Fotoneu 26.04

Congo Na Chanel (c) dig-up Production

Das hässliche Afrika

In ihrem Kostüm, das eine völlig deformierte und hässliche Figur zeigte, ließ Tambwe Assoziationen zu einem Afrika zu, das seine – zumindest soziale – Schönheit längst verloren hat. Drei Leinwandhelden – Superman, Batman und The Flash – waren die gesamte Performance über präsent, beobachteten das Treiben zwischen ihr, dem Publikum, dem Sänger, einem Conférencier und einer Übersetzerin und griffen an jenem Punkt in das Geschehen ein, in dem Tambwe von ihrem Kollegen Prince Zeka schließlich Rebellion einforderte. Besitzergreifend zogen die drei ihre Bahnen so durch die Zusehenden, dass diese an die Ränder der Raumes gedrängt wurden. Körperliche Ausgrenzung und Zurückdrängung, die man am eigenen Leib erfährt, und sei es auch nur während der kurzen Zeit einer Performance, bewirkt mehr als so mancher akademische Diskurs über die Besitznahme öffentlichen Raumes, oder auch eines ganzen Landes durch – die Gestalten machten es deutlich – den Westen. Ob Tambwe damit Multis meinte, vom Westen gesteuerte, politische Einflussnahme oder schlicht die Infiltration des westlichen, neoliberalen Lebensstils bleibt offen. Man darf sich aussuchen, was man mag, oder auch andere Assoziationen damit verbinden.

Genauso deutungsoffen war ihr Auftritt, den sie als amorphes Wesen unter einer schwarzen Plastikplane absolvierte. „I love abstract forms in my shows“, erklärte sie an späterer Stelle diese bedrohlich wirkende Szenerie, mit dem Zusatz, dass das Publikum sich dabei denken könne, was es wolle. Dennoch bleiben ihre Settings extrem kontextual und evozieren Gedankengänge, die sich um ihr Hauptthema drehen – die politische, wirtschaftliche und soziale Einflussnahme des Westens auf Afrika. Oder mit weniger Schönsprech ausgestattet: Die Ausbeutung der Länder und Demütigung der verschiedenen Völker Afrikas. Nicht vor hundert oder zweihundert Jahren, sondern heute mehr denn je.

Afrika, du Schöne!

Die Schlussverwandlung, durch die sich Elisabeth Tambwe als hübsche Frau in einem weit schwingenden, weißen Rock zeigen durfte, wurde nach wenigen Augenblicken wieder düster eingefärbt. Während sie zu Beginn zögerlich, dann aber immer lustvoller begann, sich im Kreis zu drehen, formierte sich die männliche Bedrohung. Mit ihrer perpetuierten Ansage „I dont want, I dont want“, während die Superhelden immer näher an sie heranrückten, verstärkte sich ununterbrochen das Gefühl von Erniedrigung, das von den drei Männern ausging. Und tatsächlich endete die Performance damit, dass sie Tambwe mit harrschem „back-back“-Geschrei und körperlicher Nahbedrohung von ihrer Bühne ins Off verdrängten. Das Letzte, was Unterdrücker jeder Couleur brauchen können ist Selbstbestimmung und Freiheit.

„If you want, you can make a selfie with me!“, holte Prince Zeka am Ende der Performance das Publikum wieder zurück ins sorgenfreie Festivaldasein. Es war eine Aufforderung, der viele gerne nachkamen. Wirkte sie doch reinigend, ablenkend und erlösend von einer zuvor bedrohlichen und verwirrenden Situation, die ohne nackten Zeigefinger dennoch einen Berg an Betroffenheit auslöste. Dass die rasch geschossenen Selbstbildnisse auch noch in Jahren einen Erinnerungseffekt auslösen werden, der viel mehr enthält als ein lustiges Grinsen mit einem afrikanischen Sänger, das wird vielen Selfie-isten vielleicht erst viel später bewusst werden und ist zu hoffen. Das Unbewusste siegt oft.

Pin It on Pinterest