Es gibt Menschen, die stürzen sich bewusst, sozusagen sehenden Auges, in immer neue Wagnisse. Dabei nehmen sie in Kauf, gnadenlos zu gewinnen oder zu verlieren. Menschen, die das am Theater tun, stehen in der Öffentlichkeit, und das bedeutet, dass ihre Wagnisse vor allem im Zeitalter der elektronischen Revolution so lange jederzeit wieder abrufbar bleiben, wie eben die elektronischen Medien diese archivierten Ereignisse weiter aus den Tiefen ihrer Speicher zur Verfügung stellen. Nach unserem heutigen Technik- und Zeitverständnis also offenbar für alle kommenden Generationen. Wenn man sich der Tragweite dieser allumfassenden und jederzeit wieder abrufbaren, archivierten Wagniseinlassungen bewusst wird, bekommt eine jede solche noch zusätzliches Gewicht.
Anna Maria Krassnigg ist einer jener Menschen, der sich heroengleich von einem theatralischen Wagnis ins nächste stürzt und mit dieser unerschrockenen Haltung Wind in die Wiener Theaterszene bringt. Ihr neuestes Projekt „LiteraTurnhalle“, das in dieser Herbstsaison dreiteilig unter dem Motto „Gier nach Leben“ im Salon5 gezeigt wird, ist tatsächlich ein Wagnis. Wird doch dem Publikum zugemutet, nur Literaturauszüge kredenzt zu bekommen, um den Appetit der Zuseherinnen und Zuseher anzustacheln, nach den Vorführungen selbst zu den präsentierten Büchern zu greifen. Rein theoretisch könnte dieses Konzept ein Rohrkrepierer sein, rein praktisch ist es eines der Besten im Bereich des Cross-over-Theaters der jüngsten Zeit.
Mit „Zerline“ steht noch bis 27.11. ein Abend auf dem Programm, der all das bietet, was gutes Theater bieten soll. Einen interessanten Stoff, eine anregende Regie- und Bühnengestaltung sowie herausragende Schauspielerinnen und Schauspieler. Was den Stoff selbst betrifft, so war der charismatische deutsche Regisseur Klaus Michael Grüber, der die Theaterszene auch in Frankreich gehörig durcheinanderwirbelte, einer der Ersten, der die Tiefe der Hauptfigur erkannte und mit Jeanne Moreau als Verkörperung der alten Zofe 1986 in Paris eine theatralische Sternstunde produzierte. Krassniggs Idee, in der LiteraTurnhalle „handverlesene literarische Kost- und Sonderbarkeiten“ zu präsentieren geht im Fall der Zerline über Grübers Inszenierung hinaus. Dabei wird im Salon5 zweigeteilt Hermann Brochs Werk „Die Schuldlosen“ vorgestellt. Der Roman, der 1950 erschienen ist, behandelt in elf Erzählungen die Geschichte der starken, urwüchsigen Magd Zerline und zeigt dabei zugleich den Übergang der aristokratischen Herrschaft zur Demokratie auf. Hannah Arendt bezeichnete kurz nach Erscheinen des Romanes diesen als „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“, wobei man ihr nach dem Abend im Salon5 uneingeschränkt zustimmen kann. Großen Anteil daran hat Marlena Keil in der Rolle der gealterten Zofe, die Herrn A. (gemeint ist der sich als Edelsteinhändler ausgebende Herr Andreas) die Liebesgeschichte ihres Lebens erzählt, die zugleich eng verwoben mit der Geschichte ihrer Herrschaft selbst ist.
Marlena Keil, die sich diese Rolle auch als Abschlussarbeit am Max Reinhardt Seminar ausgesucht hatte, brilliert darin in allen nur denkbaren Facetten. Körperlich und seelisch zutiefst präsent gelingt ihr das größte Kunststück, das auf der Bühne auch nur gelingen kann: In keinem einzigen Augenblick lässt sie es zu, dass die Gedanken des Publikums abschweifen oder sich auch nur für Sekunden erholen können von der berührenden, naiven und zugleich doch so gewitzten Figur der Zerline, die selbst so gerne Kinder gehabt hätte, aber nur dazu bestimmt war, die Tochter der Frau Baronin zu erziehen. Ausgerechnet jenes Kind, dass diese von Zerlines Liebhaber bei einem „Badeaufenthalt“ empfangen hatte. Keil verkörpert diese willensstarke Frau in ihrem Monolog in unterschiedlichen Lebensphasen, sowohl als junges, begehrenswertes Geschöpf als auch als Alte, auf ihr Leben Zurückblickende in einem Guss. Wie sie sich zu Beginn zeitlupengleich aus einem alten Schiffskoffer robbt, in welchem sie zuvor schon unsichtbar beinahe eine Stunde verharrt hatte, ist alleine körperlich schon bewunderungswürdig. Ganz tief jedoch kratzt sie in jenen Momenten an den Emotionen der Zusehenden, in welchen sie klar zum Ausdruck bringt, dass ihre Liebe von Beginn an ob des Standesunterschiedes zum Scheitern verurteilt war. Ihre zur Schau getragene Innerlichkeit wirkt dabei genauso echt wie ihre Tränen, ihre Verachtung sitzt fest verankert in ihrem spöttischen Blick und ihre Hilflosigkeit unterstreicht sie nur durch zarte Gesten ihrer Hände. Dabei wird ihre Ausdrucksstärke und Wandelbarkeit zusätzlich unterstützt durch die feine, behutsame und äußerst kluge Regie von Matthias Rippert, der äußerst gekonnt zur Untermalung und emotionalen Verstärkung Hintergrundmusik einsetzt. Für die Aufführung im Salon5 wurde die ursprüngliche Fassung aus der Regieklasse des Max Reinhardt Seminars neu inszeniert und mit einem ersten Teil versehen. „Der verlorene Sohn“ – ein atmosphärisches Vorspiel nennt sich dieses. Darin lässt Martin Schwanda als Herr A. und Gioia Osthoff, die Hildegard, die Tochter der Baronin W. verkörpert, in einer halb szenischen, halb gelesenen Fassung den Ort des Geschehens vor dem geistigen Auge des Publikums erscheinen. Als entschlossener zukünftiger Mieter sitzt bei Schwanda jede noch so kleine Geste, jedes Augenzwinkern und jeder behutsame Schritt, um das Gelesene körperlich nachvollziehbar zu machen. Krassniggs Vorliebe für diesen Schauspieler, der zu den Wandelbarsten gehört, die derzeit auf den Wiener Bühnen immer wieder zu sehen ist, wird abermals verständlich. Gioia Osthoff bringt nicht nur durch ihre jugendlich-erotische Ausstrahlung das Publikum zum Staunen. Vor allem ihre authentische Interpretation der frechen und charakterstarken unverheirateten Aristokratin lässt keinen Zweifel an einer hervorragenden Besetzung. Nicht zuletzt hat Lydia Hofmann abermals ihren Beitrag zum Gelingen dieses Abends geleistet. Ihre atmosphärische Bühnengestaltung überrascht durch witzige Konterkarierungen – bei welchen Korn- und Mohnblumen zu weißen Lilien mutieren und das Bildnis des verstorbenen Barons metapherschwanger als Hirschgeweih erscheint.
Wer dem Zauber dieses Abends nicht vollends erliegt, der sollte in Zukunft das Theater per se meiden. Wer sich aber in eine andere Zeit, eine andere Welt und in eine andere Seele davontragen lassen möchte, dem sei diese Produktion dringend und wärmstens empfohlen.
Es gibt Bühnenbildnerinnen, die bestimmte Regisseurinnen und Regisseure quasi „gebucht“ haben. Eine solche ist die aus Bayern stammende Lydia Hofmann, die – wie viele ihrer Landsfrauen – im kulturellen Bereich in Wien ihren Lebensmittelpunkt gefunden haben.
Als Absolventin der Meisterklasse für Bühnenbild der Akademie für bildende Künste arbeitet sie in Wien kontinuierlich mit Anna Maria Krassnigg aber auch mit Jérôme Junod in Deutschland zusammen. Und auf die Frage, wer denn eigentlich ihre Lieblingsregisseurinnen und -regisseure seien kommen auch prompt diese beiden Namen. Was denn eigentlich ihr Lieblingsprojekt gewesen ist, möchte ich auch gerne wissen: „Eigentlich immer das Aktuelle“ kontert die junge Frau sofort. „Außer, es läuft nicht wirklich rund. Das ist mir aber erst ein einziges Mal passiert, das war in Süddeutschland. Da hat die Regisseurin noch während der Proben alles insgesamt drei Mal umgeschmissen und ich musste jeweils die neue Bühnenbildproduktion stoppen. Das war für mich ein absolutes „Nie-wieder“-Erlebnis. Aber tatsächlich war eines meiner Lieblingsprojekte meine Diplominszenierung „Gefährliche Liebschaften“ am Max-Reinhardt-Seminar. Dafür hab ich Kostüme aus Metall gemacht. Also nicht gerade schauspielerfreundlich. Aber ich bin ja ein fairer Mensch und hab zuvor alles selbst getestet. Da hatte ich zum Beispiel Flügelschrauben als Verzierungen eingebaut und musste aber darauf achten, dass die Kostüme leicht an- und auszuziehen waren. Das war wirklich eine schöne Anfangserfahrung.
Was machen Sie, wenn Sie, wie gerade erwähnt, andere Vorstellungen haben als die Regisseurin oder der Regisseur?
Normalerweise weiß man schon beim ersten Gespräch, ob man gut miteinander kann oder nicht. Wenn es gut geht, dann geht man mit seiner Vorstellung von einer bestimmten Mitte aus und tastet sich von der weiter vor. Man kann sich seine Partner aber nicht immer aussuchen und als junge Bühnenbildnerin nimmt man klarerweise erst einmal jeden Auftrag an, den man bekommt.
Wie kamen Sie zu diesem Beruf?
Meine Eltern waren beide Lehrer für Bildende Kunst und haben sich an der Akademie in München kennengelernt. Ich habe mich immer auch schon für Bildende Kunst interessiert und ging dann ganz unbedarft mit 17 in die Akademie nach München und wollte mich dort einschreiben. Da hat man mir erst einmal gesagt, dass ein Abitur vorweg eine günstige Sache wäre – was ich dann halt auch gemacht habe.
Lydia Hofmann lacht noch im Nachhinein über ihre ungestüme Unbedarftheit. Aber aus diesem Hinweis geht sehr schön ihre Zielstrebigkeit hervor, für die es eigentlich kein Wenn und Aber in Bezug auf ihre Berufswahl gab.
Ich war auch Mitglied einer Theatergruppe und habe dort auch schon Bühnenbild gemacht. Das Schöne daran ist, das man dabei auf nichts verzichten muss. Malerei, Skulptur, Theater und Literatur, alles was ich gerne mag kann ich dabei vereinen. Es ist toll, dass man Sachen live einbauen kann, bis hin zu Gerüchen und Geschmäckern und ich finde es schön, dass dabei immer eine Geschichte erzählt wird.
Gerüche und Geschmäcker baute Lydia Hofmann erst in einer der jüngsten Produktionen von Anna Maria Krassnigg ein, nämlich am Auftaktabend der Serie in der „LiteraTurnhalle“ im Salon5. Bei der Vorstellung von Büchern Wilfried Steiners unter dem Motto „Triptychon der Künste“ trat die couragierte Allrounderin nicht nur als Bühnenbildnerin auf, die dem Abend eine stimmungsvolle sphärische Ummantelung beisteuerte. Zugleich war sie auch Köchin und Servierdame in drei verschiedenen Outfits, die jeweils zum vorgestellten Buch passten. Dabei reichte sie drei Mal drei Gerichte jeweils in den Farben Schwarz-Rot und Weiß, was sich, wie schon erwähnt, auch in ihrer Garderobe widerspiegelte.
Mir gefällt dieses neue Format, in dem Literatur vorgestellt wird, sehr. Das ist keine klassische Lesung, wie man sie kennt und bei der man manches Mal ganz schön Durchhaltevermögen braucht. Vielmehr wird in einer szenischen Einbettung erzählt, gespielt und gelesen. Am zweiten Abend, an welchem die Hochstaplernovelle vorgestellt wurde, habe ich den Raum mit vielen Tischchen ausgestattet, sodass das Publikum als „Jagdvieh“ des Hochstaplers fungierte. Auch an diesem Abend hatte ich mehrere Aufgaben und trat sogar als eine der Figuren nämlich „Denise“ auf. Es schadet ja nicht, wenn man den Beruf von allen Seiten her einmal selbst kennenlernt!
Wie viele Produktionen pro Jahr schaffen Sie denn?
Also fünf bis sechs pro Jahr würde ich schaffen, es kommt aber darauf an, ob sie parallel laufen. Dann benötigt man schon eine Assistenz, das ist alleine nicht mehr machbar. In diesem Sommer habe ich ja bei den Wiener Festwochen „Die Kinder von Wien“ gemacht und gleichzeitig das „Kätchen“ in St. Gallen mit Jérôme. Wobei ich bei der Inszenierung in Wien auch für die Technik verantwortlich war und auch schon mal auf dem Dach herumgekrabbelt bin, um es zu verdunkeln.
Ihr handwerkliches Geschick und Ihr technisches Wissen, woher kommt das?
Mein Vater hatte eine große Liebe und Affinität zur Technik. Am Vormittag unterrichtete er Bildende Kunst und am Nachmittag war er Naturwissenschaftler. Er war Amateurfunker und hat im Wohnzimmer gerne gelötet. Im Garten hatte er einen 6m hohen Parabolspiegel, weswegen wir auch einmal eine Hausdurchsuchung hatten. Die Leute aus dem Dorf hatten uns angezeigt und Angst, wir wären sogenannte „Schläfer“. Bei der Hausdurchsuchung haben sie dann den Fernseher aufgeschraubt und nur Elektroschrott und die Kinder Walky-Talkies von meinem Bruder und mir mitgenommen. Das war richtig absurd. Am Ende haben wir alles wiederbekommen, inklusive einer Entschuldigung, aber vergessen habe ich diese Aktion nicht.
Sie kochen auch gerne und leidenschaftlich.
Ja, das habe ich schon mit 8 Jahren angefangen. Meine Mutter hat mir immer gezeigt wie was geht und ich habe oft mitgeholfen und als ich acht Jahre alt war, musste meine Mutter mittags nach der Arbeit immer zu meinen Großeltern, weil es ihnen gesundheitlich nicht mehr gut ging. Da habe ich begonnen, für meinen Bruder, meinen Vater und mich zu kochen. Mein erstes Gericht waren Calamari und Backkartoffeln. Die liebte ich sehr. Ist mir auch gut gelungen, nur waren die Portionen doch zu klein. Die hatte ich an meinem Kinderappetit bemessen. Ich habe mich immer gefreut, mit meinen Eltern nach München zu fahren. Darauf, dass wir uns eine Ausstellung ansahen und danach in ein Lebensmittelgeschäft gingen. Je exotischer das war, umso lieber war es. Und ich mag es noch heute mir Dinge anzusehen und zu kaufen, die ich nicht kenne. Wenn ich mit meiner Mutter beim Metzger war, habe ich immer auf Teile gezeigt, die ich noch nicht gegessen hatte und gesagt: Kenn ich nicht, will ich! So kam es schließlich dann auch einmal zu einer Hirnsuppe. Ich kenne mich in vielen unterschiedlichen Küchen aus, esse prinzipiell alles und denke mir gerne neue Sachen aus. Am liebsten habe ich es, wenn ich mir Zeit nehmen kann, um lustige Menüfolgen auszudenken, Freunde einzuladen und den Abend dann unter ein Thema zu stellen. Mit Petra Stadler habe ich vor Kurzem erst einen Gesangsabend gemacht und zu jedem ihrer Lieder einen eigenen Gang serviert. Diese Art von Kochevent macht mir richtig Spaß, denn da kann ich gleichzeitig kochen und inszenieren!
Fernsehsendungen, bei welchen Bücher vorgestellt und besprochen werden, gehören zu Dauerbrennern im ansonst so schnelllebigen medialen Business. Das literarische Quartett war ein Paradebeispiel für ein solches Format.
Nun gibt es ein wesentlich Zeitgemäßeres, eines, das sich eine Frau ausgedacht hat, der man getrost den Beinamen Literatur-Missionarin geben kann. Sie hat ihren Beruf nicht nur entsprechend gewählt, sondern ist darüber hinaus ständig auf der Suche nach altem und neuem Lesenswertem und wird nicht müde, ihre Entdeckungen einem breiteren Publikum bekannt zu machen.
Anna Maria Krassnigg nutzt dafür den Salon5 im Brick-5 in der Fünfhausgasse 5 in Wien. Mittlerweile ist der Salon5 längst aus seinen Kinderschuhen entwachsen und hat das Glück in seinem 6. Bestandsjahr ein unglaublich treues und interessiertes Publikum „sein Eigen“ zu nennen. Die Regisseurin zieht für die Literaturvermittlung alle Register und nutzt jede Möglichkeit, die sich ihr dabei bietet. Sie brennt vor allem für zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller aber auch solche des 20. Jahrhunderts und weiß geschickt ihren Enthusiasmus aufs Publikum überschwappen zu lassen.
Mit der letzten großen Produktion „Kinder von Wien“ spielte sie bei hoher Auslastung während der Wiener Festwochen ein Stück von Robert Neumann, einem in Wien fast in Vergessenheit Geratenen, der es tatsächlich Wert ist, wieder entdeckt zu werden.
Nun hat sich Krassnigg aber ganz abseits von kostenintensiven, schwerfälligen und aufwendigen Theaterproduktionen etwas ganz Neues einfallen lassen, um ihr Publikum zusätzlich mit ihren Literaturviren zu infizieren. „LiteraTurnhalle“ so nennt sich das neue Format, das am 29.10. seine Premiere feierte. Unter diesem Generaltitel werden noch zwei weitere Abende gestaltet, in welchen Krassnigg mithilfe einzelner Mitwirkender ihres Ensembles unbekannte Bücher präsentiert. Dabei schlüpft sie selbst in die Rolle der Moderatorin und baut in einer zarten, feinen Regie rund um die Hardfacts eine szenische Umsetzung, in welcher auszugsweise so richtig Appetit auf das jeweilige literarische Werk gemacht wird.
Den Auftakt zu dieser spannenden Serie machte die Vorstellung „Triptychon der Künste“ in der drei Bücher von Wilfried Steiner präsentiert wurden. Bekannt ist der Schriftsteller einem größeren Publikum aber eher als künstlerischer Leiter des Posthofs in Linz, verantwortlich für die Sparten Tanz, Theater, Comedy und Literatur.
Der großzügige Raum im Brick-5 – die ehemalige Turnhalle des jüdischen Sportvereins „Makkabi XV“ – von dem auch der Serientitel „LiteraTurnhalle“ abgeleitet wird – war von der Bühnenbildnerin Lydia Hofmann in einen zauberhaften, atmosphärischen Raum verwandelt worden, in dem man sich fühlte, als säße man in einem altvertrauten Wohnzimmer. Die junge Kreative sorgte nicht nur für das besondere Raumfeeling, sondern verwöhnte die Gäste auch kulinarisch. Jede einzelne „Buchinszenierung“ wurde von ihr mit drei kleinen Speisen in den Farben Schwarz-Weiß-Rot begleitet und Aufmerksame werden auch bemerkt haben, dass sich sogar das Outfit von Hofmann bei jedem servierten Gang farblich veränderte. Eine kleine, feine Geste mit unglaublicher Wirkung. Vom ausgelösten Wohlfühlfaktor ganz zu schweigen. Bücher vorzustellen, bedeutet bei Anna Maria Krassnigg aber nicht selbige vor eine Kamera zu halten und mehr oder weniger geistreich darüber zu schwadronieren. Bücher vorzustellen bedeutet im Format „LiteraTurnhalle“ vor allem eines: Szenisch einzutauchen in ein neues Universum. Menschen, die darin vorkommen, eine Stimme zu verleihen und die Zuseherinnen und Zuseher mit einem Einstieg ins jeweilige Geschehen so anzufixen, dass ihnen danach der Kauf der jeweiligen Bücher zur Suchtbefriedigung dient.
Martin Schwanda schlüpfte sowohl in die Rolle des sitzen gelassenen Arthur Valentin als auch von Siegmund Freud und evozierte beim Publikum just in jener Szene lautes Gelächter, in welcher er das Trennungsgespräch von Valentin mit seiner Frau wiedergab. In einem herrlichen „Pas de deux“ mit Anna Maria Krassnigg eröffnete sich jener seelische Abgrund, in den der Protagonist blickte, als er die Hiobsbotschaft der Trennung erhielt. Entnommen ist die Szene aus dem Buch „Bacons Finsternis“, in welchem sich Steiner der Kunst der Malerei widmet. Horst Schily brillierte kurz darauf mit einer überaus virtuosen Bildbeschreibung, garniert mit persönlichen Empfindungen von Arthur Valentin, in welcher es dem Autor gelang, Malerei so anschaulich und furios zugleich zu beschreiben, dass man auf der Stelle ein starkes Verlangen hat, das beschriebene Bild selbst zu betrachten. Zu allem Überfluss treibt den Antiquariatsbesitzer Valentin nach einer langen Lethargie ein Ungeist an, der dazu führt, dass sich aus der Liebesentzugsgeschichte ein veritabler Krimi entwickelt.
Mit dem Titel „Der Weg nach Xanadu“ spürte Steiner einer literarischen Fährte nach und lässt seinen Hauptprotagonisten, Prof. Alexander Markowitsch, einem Literaturprofessor, eine emotionale Hochschaubahn erleben. Kirstin Schwab verkörperte an diesem Abend ebenfalls mehrere Figuren aus Wilfried Steiners Büchern, wobei sie als intelligente Studentin Markowitsch in wenigen Szenen an diesem Abend völlig aus der Fassung brachte. Eine geschickte Lichtregie und wenige Handgriffe an den Outfits der Beteiligten machten die sekundenschnelle Verwandlung von einer Gestalt in die nächste möglich und auch gut nachvollziehbar.
In der letzten Rolle mimte Schwab eine Schriftstellerin, deren Werk am Theater aufgeführt werden soll und für dessen dramaturgische Umsetzung ein gewisser Herr Pinetti zuständig ist. „Die Anatomie der Träume“ – das jüngste Buch von Wilfried Steiner, wurde an diesem Abend schon vor seinem Erscheinen 2014 präsentiert und man darf sich schon auf ein Feuerwerk an Informationen und kreativen Ideen rund um Siegmund Freud und seine illustren Patienten freuen. Horst Schily als Gustav Mahler war es vergönnt sozusagen aus erster Hand die Werkzeuge der Psychoanalyse zu erleben und evozierte mit Martin Schwanda als weltberühmter Therapeut vor dem geistigen Auge des Publikums einen Spaziergang, bei dem es mehr auf die Introspektion des Komponisten als den Naturgenuss ankam.
Nach diesen so kurzweiligen und zugleich extrem bereichernden Dramolettchen kam auch der Autor selbst zu Wort. Nicht nur mit einem Foto auf dem Buchdeckel, sonder leibhaftig stellte er sich den Fragen von Anna Maria Krassnigg, der es gelang, Wilfried Steiner für die Zuseherinnen und Zuseher „greifbarer“ zu machen. Seine Rolle am Theater kam dabei ebenso zur Sprache wie sein Schreibrhythmus und die Wortmeldung des Kabarettisten Werner Brix, setzte dieser Begegnung noch eine kleine Krone auf. Dass er lange nicht gewusst hätte, dass Steiner auch Schriftsteller sei, meinte er bei einem kurzen Einwurf. Dass er aber, seit er seine Bücher gelesen habe, den Theatermann Steiner als jemanden zu schätzen gelernt hätte, in welchem sich ein unglaublicher Kosmos befände, der für ihn eine enorme Bereicherung darstellte. Live-Statements wie dieses gibt’s im herkömmlichen Buchpräsentationsformat nicht, was einen zusätzlichen Pluspunkt für die LiteraTurnhalle ergibt.
Wichtig zu erwähnen: Es ist ratsam, für die beiden nächsten Vorstellungen rasch Karten zu besorgen. Das Platzangebot ist beschränkt – ermöglicht aber gerade dadurch ein unwiederbringliches, exklusives Literaturerlebnis.
Zur Entdeckung von Robert Neumann lädt Krassnigg am 1. und 2. November. Wer Martin Schwanda in seiner Paraderolle des Hochstaplers „Lord Chesterton“ erleben möchte, dem sei dieser Termin wärmstens empfohlen.
Und ab dem 20. November steht die Vorstellung von „Zerline“ von Hermann Broch auf dem Programm. Hier agiert Schwanda nicht nur in einer szenisch eingerichteten Leserolle, sondern Krassnigg schiebt auch noch eine Produktion aus ihrer Regie-Klasse des Max Reinhardt-Seminars nach, die für den Salon5 inszeniert wurde.
Die LiteraTurnhalle wird sich in dieser Saison mit Sicherheit als ein „must-see“ für Wiener Lesewütige etablieren – das steht nach dem ersten fulminanten Durchgang fest.
In jedem österreichischen Fernsehkanal erleben die ZuschauerInnen eine wahre Inflation an Wahlsendungen, in welchen die Kandidatinnen und Kandidaten für die kommende Nationalratswahl Rede und Antwort stehen müssen. Ob gegenüber Journalisten, in Duellen oder vermeintlich gemütlich in einem schicken Oldtimer sitzend. Was die Sendezeiten betrifft, so hat es den Anschein, als würden die Wählenden umfassend informiert werden, sieht man sich aber die Inhalte an, die dabei vermittelt werden, wäre man besser bedient, sich die Wahlprogramme der einzelnen Parteien ordentlich durchzulesen. Wer aber macht das schon?
Doina Weber ist im Salon5 in dem Theaterstück „Jetzt aber – postdemokratische Variationen“ zu sehen. (Foto: Christian Mair)
Wie ist eigentlich der Befindlichkeitszustand der Bevölkerung einzustufen, wenn es darum geht, ihren Wohlfühlfaktor in Bezug auf die Politik abzufragen? Neben allerlei Umfragen, die je nach Auftraggeber logischerweise divergieren, gibt es auch eine brandaktuelle künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema. Einer, der sich die Situation in unserem Land genauer angeschaut hat, ist Jèrôme Junod. Als künstlerischen Tausendsassa kann man den 1979 in Lausanne Geborenen getrost bezeichnen, denn vor seiner Ausbildung zum Regisseur am Max Reinhardt Seminar, schloss er eine Klavierausbildung ab und absolvierte als Draufgabe noch ein Magisterstudium in Philosophie, Geschichte und Indologie. Dass er all diese Vorbildungen in seine Arbeit als Autor und Regisseur in sein Werk „Jetzt Aber – Postdemokratische Variationen“ einfließen hat lassen, kann man überdeutlich spüren. Denn es ist nicht nur eine spezielle Analyse der derzeitigen gefühlten Politikverdrossenheit, sondern auch der fulminante musikalische Ansatz, in welchen Junod diese Befindlichkeiten verpackt hat. An jenem Abend, an welchem ich der Aufführung im Salon5 beiwohnen durfte, musste der Autor und Regisseur in Personalunion sogar noch für einen kurz zuvor verhinderten Schauspieler einspringen, was eine neue, zusätzliche Tätigkeitserweiterung für ihn bedeutete. Aufgebaut aus insgesamt 11 Teilen, ist jeder Einzelne mit einem musikalischen Begriff überschrieben. So folgt dem Präludium eine Fuge und eine Fantaisie, dieser wiederum ein Kanon, ein Trio, ein Walzer, eine Sarbande und eine Phase und endet schließlich mit einem Duett, einem Chor und einer Coda. Wobei sich die musikalische Struktur rein in der Rhythmik der Sprache ausdrückt und nicht zusätzlich melodisch unterstützt wird. Literatur vom Feinsten also, deren grandios kunstvolle Form, soviel sei vorweggesagt, den Inhalt nicht überdeckt, was für sich gesehen schon ein Kunststück ist.
Zwei Männer (Junod und Schwanda) und zwei Frauen (Weber und Staduan) breiten in diesem Stück die ganze Palette an Zuständen aus, die Menschen derzeit befällt, wenn sie sich mit Politik beschäftigen oder diese sogar ausüben. So werden dabei pseudo-demokratische Versammlungen simuliert, in welchen die Phrasendreschereien fröhliche Urstände feiern. Es werden soziale Missstände angeprangert, um im selben Atemzug die Ausreden parat zu haben, die rechtfertigen, warum man dagegen doch nicht angehen kann. Es kommt zu euphorischen Zusammenrottungen, in welchen jeder und jede sich gegenseitig bestärkt „jetzt aber“ etwas zu verändern, jedoch vor lauter Euphorie, außer dem Lippenbekenntnis des Aufbruchs, nichts übrig bleibt. Junod beleuchtet auch eine typisch wienerische Auseinandersetzung mit dem Thema Politik. Darin spielt Martin Schwanda einen Maggiflascherl haltenden Besserwisser, der beim Schlürfen seiner Suppe in breitestem Wiener Jargon die typischen Parolen eines Stammtischpolitikers von sich schleudert. Dabei beginnt er sich so in Rage zu reden, dass die junge Wirtin – Petra Staduan, genervt, weil sie von ihrem Handydisplay aufschauen muss – ihn mit „gib a Ruah und iss dei Suppn!“ zur Raison rufen muss. Herrlich, wie Doina Weber dabei langsam im Hintergrund als betrunkene Lokalbesucherin von ihrem Barstuhl rutscht und zeitweilig, wie ein Affe, unter dem Tresen hängen bleibt. Aber nicht nur die Befindlichkeit des Wahlvolkes wird unter die Lupe genommen. In einer fiktiven Parteisitzung erhält man tiefe Einblicke, warum Veränderungen ganz schlecht bewertet werden, bergen sie doch immer die große Gefahr, Rückwirkungen auf die eigene einzementierte Machtposition zu haben. Und so bleibt jene Frage, welche die Sitzung eröffnen sollte „Jemand eine Idee?“ eine rein rhetorische. Das an diese Szene anschließende Zeitungsballett, bei welchem die vier SchauspielerInnen nebeneinander auf Barhockern aufgefädelt, gleichzeitig eine chinesische Zeitung umblättern, und beim Anblick diverser Artikel in ein- und dieselben gestischen Äußerungen wie Erstaunen, Ärger, oder ungehemmtes Lachen verfallen – ohne auch nur ein Wort dabei zu sprechen – hat nicht nur Erheiterungswert, sondern birgt auch eine große Portion Erkenntnismöglichkeit. Zu sehen, wie sehr die Leserinnen und Leser beim gleichen Artikelstudium ein und demselben Gefühlsschema folgen, macht überdeutlich, wie manipulativ die Medien eingesetzt werden können, wenn man nur auf der richtigen Klaviatur zu spielen weiß. Neben der geballten Portion politischer Verbalerotik geht es schließlich aber auch zur Sache. Nach einem Hasscrescendo, in welchem deutlich wird, dass es jetzt genug sei, fliegen die Barhocker und türmen sich schließlich mit allerlei anderen Requisiten zu einem Revolutionswall auf. Der anschließende Trauergesang danach macht deutlich, dass der politische Ausbruchsversuch, die Auflehnung, die in gewalttätigen Aktionen endete, mit Opfern zu beklagen war. Was für das Establishment bleibt, ist aber immer noch die Bedrohung der Werwölfe, jenes Wahlvolkes, das wehmütig wütend wird über die wässrigen Wahlversprechen, bei denen sie nur Wischi-Waschi-Worte erhalten und danach die Wahl als Witz apostrophieren wollen. Junods postdemokratisch dunkelste Vision ist jedoch jener Abgesang, der die musikalische Bezeichnung Coda trägt. Da erinnern sich die Alten an Zeiten, in denen sie noch Träume hatten. Gebrechlich im Seniorenheim vereint, bleibt ihnen aber nichts als diese Erinnerung, die durch die Melodie einer kleinen Spieldose begleitet wird. Es ist die „Internationale“, die zu hören ist. Von ganz weit weg scheint sie noch ins Jetzt zu wehen, verstümmelt, kaum erkennbar, ein Relikt aus einer Zeit, in der ein Klassenkampf noch Sinn zu machen schien.
Doina Weber beeindruckt mit einer starken Bühnenpräsenz und enormer Spielfreude und bildet ein spielerisch-qualitativ perfektes Duo mit Martin Schwanda. Immer wieder im Salon5 präsent, gelingt ihm in jeder Rolle ein überzeugender Auftritt. Typen, wie jene des Stammtischpolitikers, scheinen ihm wie auf den Leib geschrieben zu sein. Petra Staduan erzeugt in der Rolle der jungen Veränderungswilligen, der klar gemacht wird, dass nichts verändert werden darf, prompt Mitleid und darf im Gegensatz dazu aber auch jene junge Frau mimen, die mit ihren heftig skandierten Parolen nicht unmaßgeblich zum revolutionären Ausbruchsakt beiträgt.
Der Salon5 würde seinen Namen zu Unrecht tragen, würde das Publikum nach der Aufführung einfach nach Hause entlassen werden. In entspannter Atmosphäre führte die „Gastgeberin“ Anna Maria Krassnigg als Draufgabe noch ein Gespräch mit Thomas Weber, dem jungen Herausgeber mehrerer Online- und Printmedien wie „thegap“. Darin wurde besonders betont, dass sich unsere Gesellschaft mitten im Informationswandel befindet. Die Printmedien, neben dem Fernsehen Hauptträger von Informationen, werden zunehmend vom Internet abgelöst. Dessen ungeahnten Möglichkeiten bieten aber nicht nur Gefahren – wie es viele Menschen empfinden. Es bietet auch die unglaubliche Möglichkeit der Vernetzung und des raschen Kommunikationsaustausches mit jenen, die an der Macht sitzen. Facebook und Twitter sei Dank. So zumindest die Meinung von Thomas Weber. Webers positiver Zukunftsblick war erfrischend, erzeugte zugleich aber wieder viele Fragen, die eine Beschäftigung mit dem Thema weit über den Theaterabend selbst evozieren. Ein Qualitätsbeweis für die Arbeit des Salon5, der für das Publikum eben nicht nur gutes Theater bereithält.
Schade, dass diese Produktion es nicht bis in einen Fernsehsender geschafft hat. Bietet sie doch die Chance der politischen Selbsterkenntnis und damit auch die Möglichkeit zur ganz persönlichen wie immer auch gearteten politischen Aktivierung. Keine Ahnung wie? Wahlprogramme lesen wäre da zum Beispiel einmal ein Anfang. Damit wäre schon viel geholfen.
Hinweis: Am 29. 10. startet im Salon5 ein neues Format. In der LiteraTurnhalle (I) wird in drei Produktionen der „Gier nach dem Leben“ nachgespürt. Anschließende Salon-Talks selbstverständlich wieder inbegriffen.