In jedem österreichischen Fernsehkanal erleben die ZuschauerInnen eine wahre Inflation an Wahlsendungen, in welchen die Kandidatinnen und Kandidaten für die kommende Nationalratswahl Rede und Antwort stehen müssen. Ob gegenüber Journalisten, in Duellen oder vermeintlich gemütlich in einem schicken Oldtimer sitzend. Was die Sendezeiten betrifft, so hat es den Anschein, als würden die Wählenden umfassend informiert werden, sieht man sich aber die Inhalte an, die dabei vermittelt werden, wäre man besser bedient, sich die Wahlprogramme der einzelnen Parteien ordentlich durchzulesen. Wer aber macht das schon?
Wie ist eigentlich der Befindlichkeitszustand der Bevölkerung einzustufen, wenn es darum geht, ihren Wohlfühlfaktor in Bezug auf die Politik abzufragen? Neben allerlei Umfragen, die je nach Auftraggeber logischerweise divergieren, gibt es auch eine brandaktuelle künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema. Einer, der sich die Situation in unserem Land genauer angeschaut hat, ist Jèrôme Junod. Als künstlerischen Tausendsassa kann man den 1979 in Lausanne Geborenen getrost bezeichnen, denn vor seiner Ausbildung zum Regisseur am Max Reinhardt Seminar, schloss er eine Klavierausbildung ab und absolvierte als Draufgabe noch ein Magisterstudium in Philosophie, Geschichte und Indologie. Dass er all diese Vorbildungen in seine Arbeit als Autor und Regisseur in sein Werk „Jetzt Aber – Postdemokratische Variationen“ einfließen hat lassen, kann man überdeutlich spüren. Denn es ist nicht nur eine spezielle Analyse der derzeitigen gefühlten Politikverdrossenheit, sondern auch der fulminante musikalische Ansatz, in welchen Junod diese Befindlichkeiten verpackt hat. An jenem Abend, an welchem ich der Aufführung im Salon5 beiwohnen durfte, musste der Autor und Regisseur in Personalunion sogar noch für einen kurz zuvor verhinderten Schauspieler einspringen, was eine neue, zusätzliche Tätigkeitserweiterung für ihn bedeutete. Aufgebaut aus insgesamt 11 Teilen, ist jeder Einzelne mit einem musikalischen Begriff überschrieben. So folgt dem Präludium eine Fuge und eine Fantaisie, dieser wiederum ein Kanon, ein Trio, ein Walzer, eine Sarbande und eine Phase und endet schließlich mit einem Duett, einem Chor und einer Coda. Wobei sich die musikalische Struktur rein in der Rhythmik der Sprache ausdrückt und nicht zusätzlich melodisch unterstützt wird. Literatur vom Feinsten also, deren grandios kunstvolle Form, soviel sei vorweggesagt, den Inhalt nicht überdeckt, was für sich gesehen schon ein Kunststück ist.
Zwei Männer (Junod und Schwanda) und zwei Frauen (Weber und Staduan) breiten in diesem Stück die ganze Palette an Zuständen aus, die Menschen derzeit befällt, wenn sie sich mit Politik beschäftigen oder diese sogar ausüben. So werden dabei pseudo-demokratische Versammlungen simuliert, in welchen die Phrasendreschereien fröhliche Urstände feiern. Es werden soziale Missstände angeprangert, um im selben Atemzug die Ausreden parat zu haben, die rechtfertigen, warum man dagegen doch nicht angehen kann. Es kommt zu euphorischen Zusammenrottungen, in welchen jeder und jede sich gegenseitig bestärkt „jetzt aber“ etwas zu verändern, jedoch vor lauter Euphorie, außer dem Lippenbekenntnis des Aufbruchs, nichts übrig bleibt. Junod beleuchtet auch eine typisch wienerische Auseinandersetzung mit dem Thema Politik. Darin spielt Martin Schwanda einen Maggiflascherl haltenden Besserwisser, der beim Schlürfen seiner Suppe in breitestem Wiener Jargon die typischen Parolen eines Stammtischpolitikers von sich schleudert. Dabei beginnt er sich so in Rage zu reden, dass die junge Wirtin – Petra Staduan, genervt, weil sie von ihrem Handydisplay aufschauen muss – ihn mit „gib a Ruah und iss dei Suppn!“ zur Raison rufen muss. Herrlich, wie Doina Weber dabei langsam im Hintergrund als betrunkene Lokalbesucherin von ihrem Barstuhl rutscht und zeitweilig, wie ein Affe, unter dem Tresen hängen bleibt. Aber nicht nur die Befindlichkeit des Wahlvolkes wird unter die Lupe genommen. In einer fiktiven Parteisitzung erhält man tiefe Einblicke, warum Veränderungen ganz schlecht bewertet werden, bergen sie doch immer die große Gefahr, Rückwirkungen auf die eigene einzementierte Machtposition zu haben. Und so bleibt jene Frage, welche die Sitzung eröffnen sollte „Jemand eine Idee?“ eine rein rhetorische. Das an diese Szene anschließende Zeitungsballett, bei welchem die vier SchauspielerInnen nebeneinander auf Barhockern aufgefädelt, gleichzeitig eine chinesische Zeitung umblättern, und beim Anblick diverser Artikel in ein- und dieselben gestischen Äußerungen wie Erstaunen, Ärger, oder ungehemmtes Lachen verfallen – ohne auch nur ein Wort dabei zu sprechen – hat nicht nur Erheiterungswert, sondern birgt auch eine große Portion Erkenntnismöglichkeit. Zu sehen, wie sehr die Leserinnen und Leser beim gleichen Artikelstudium ein und demselben Gefühlsschema folgen, macht überdeutlich, wie manipulativ die Medien eingesetzt werden können, wenn man nur auf der richtigen Klaviatur zu spielen weiß. Neben der geballten Portion politischer Verbalerotik geht es schließlich aber auch zur Sache. Nach einem Hasscrescendo, in welchem deutlich wird, dass es jetzt genug sei, fliegen die Barhocker und türmen sich schließlich mit allerlei anderen Requisiten zu einem Revolutionswall auf. Der anschließende Trauergesang danach macht deutlich, dass der politische Ausbruchsversuch, die Auflehnung, die in gewalttätigen Aktionen endete, mit Opfern zu beklagen war. Was für das Establishment bleibt, ist aber immer noch die Bedrohung der Werwölfe, jenes Wahlvolkes, das wehmütig wütend wird über die wässrigen Wahlversprechen, bei denen sie nur Wischi-Waschi-Worte erhalten und danach die Wahl als Witz apostrophieren wollen. Junods postdemokratisch dunkelste Vision ist jedoch jener Abgesang, der die musikalische Bezeichnung Coda trägt. Da erinnern sich die Alten an Zeiten, in denen sie noch Träume hatten. Gebrechlich im Seniorenheim vereint, bleibt ihnen aber nichts als diese Erinnerung, die durch die Melodie einer kleinen Spieldose begleitet wird. Es ist die „Internationale“, die zu hören ist. Von ganz weit weg scheint sie noch ins Jetzt zu wehen, verstümmelt, kaum erkennbar, ein Relikt aus einer Zeit, in der ein Klassenkampf noch Sinn zu machen schien.
Doina Weber beeindruckt mit einer starken Bühnenpräsenz und enormer Spielfreude und bildet ein spielerisch-qualitativ perfektes Duo mit Martin Schwanda. Immer wieder im Salon5 präsent, gelingt ihm in jeder Rolle ein überzeugender Auftritt. Typen, wie jene des Stammtischpolitikers, scheinen ihm wie auf den Leib geschrieben zu sein. Petra Staduan erzeugt in der Rolle der jungen Veränderungswilligen, der klar gemacht wird, dass nichts verändert werden darf, prompt Mitleid und darf im Gegensatz dazu aber auch jene junge Frau mimen, die mit ihren heftig skandierten Parolen nicht unmaßgeblich zum revolutionären Ausbruchsakt beiträgt.
Der Salon5 würde seinen Namen zu Unrecht tragen, würde das Publikum nach der Aufführung einfach nach Hause entlassen werden. In entspannter Atmosphäre führte die „Gastgeberin“ Anna Maria Krassnigg als Draufgabe noch ein Gespräch mit Thomas Weber, dem jungen Herausgeber mehrerer Online- und Printmedien wie „thegap“. Darin wurde besonders betont, dass sich unsere Gesellschaft mitten im Informationswandel befindet. Die Printmedien, neben dem Fernsehen Hauptträger von Informationen, werden zunehmend vom Internet abgelöst. Dessen ungeahnten Möglichkeiten bieten aber nicht nur Gefahren – wie es viele Menschen empfinden. Es bietet auch die unglaubliche Möglichkeit der Vernetzung und des raschen Kommunikationsaustausches mit jenen, die an der Macht sitzen. Facebook und Twitter sei Dank. So zumindest die Meinung von Thomas Weber. Webers positiver Zukunftsblick war erfrischend, erzeugte zugleich aber wieder viele Fragen, die eine Beschäftigung mit dem Thema weit über den Theaterabend selbst evozieren. Ein Qualitätsbeweis für die Arbeit des Salon5, der für das Publikum eben nicht nur gutes Theater bereithält.
Schade, dass diese Produktion es nicht bis in einen Fernsehsender geschafft hat. Bietet sie doch die Chance der politischen Selbsterkenntnis und damit auch die Möglichkeit zur ganz persönlichen wie immer auch gearteten politischen Aktivierung. Keine Ahnung wie? Wahlprogramme lesen wäre da zum Beispiel einmal ein Anfang. Damit wäre schon viel geholfen.
Hinweis: Am 29. 10. startet im Salon5 ein neues Format. In der LiteraTurnhalle (I) wird in drei Produktionen der „Gier nach dem Leben“ nachgespürt. Anschließende Salon-Talks selbstverständlich wieder inbegriffen.