Die schönste Liebesgeschichte

Es gibt Menschen, die stürzen sich bewusst, sozusagen sehenden Auges, in immer neue Wagnisse. Dabei nehmen sie in Kauf, gnadenlos zu gewinnen oder zu verlieren. Menschen, die das am Theater tun, stehen in der Öffentlichkeit, und das bedeutet, dass ihre Wagnisse vor allem im Zeitalter der elektronischen Revolution so lange jederzeit wieder abrufbar bleiben, wie eben die elektronischen Medien diese archivierten Ereignisse weiter aus den Tiefen ihrer Speicher zur Verfügung stellen. Nach unserem heutigen Technik- und Zeitverständnis also offenbar für alle kommenden Generationen. Wenn man sich der Tragweite dieser allumfassenden und jederzeit wieder abrufbaren, archivierten Wagniseinlassungen bewusst wird, bekommt eine jede solche noch zusätzliches Gewicht.

Anna Maria Krassnigg ist einer jener Menschen, der sich heroengleich von einem theatralischen Wagnis ins nächste stürzt und mit dieser unerschrockenen Haltung Wind in die Wiener Theaterszene bringt. Ihr neuestes Projekt „LiteraTurnhalle“, das in dieser Herbstsaison dreiteilig unter dem Motto „Gier nach Leben“ im Salon5 gezeigt wird, ist tatsächlich ein Wagnis. Wird doch dem Publikum zugemutet, nur Literaturauszüge kredenzt zu bekommen, um den Appetit der Zuseherinnen und Zuseher anzustacheln, nach den Vorführungen selbst zu den präsentierten Büchern zu greifen. Rein theoretisch könnte dieses Konzept ein Rohrkrepierer sein, rein praktisch ist es eines der Besten im Bereich des Cross-over-Theaters der jüngsten Zeit.


Mit „Zerline“ steht noch bis 27.11. ein Abend auf dem Programm, der all das bietet, was gutes Theater bieten soll. Einen interessanten Stoff, eine anregende Regie- und Bühnengestaltung sowie herausragende Schauspielerinnen und Schauspieler. Was den Stoff selbst betrifft, so war der charismatische deutsche Regisseur Klaus Michael Grüber, der die Theaterszene auch in Frankreich gehörig durcheinanderwirbelte, einer der Ersten, der die Tiefe der Hauptfigur erkannte und mit Jeanne Moreau als Verkörperung der alten Zofe 1986 in Paris eine theatralische Sternstunde produzierte. Krassniggs Idee, in der LiteraTurnhalle „handverlesene literarische Kost- und Sonderbarkeiten“ zu präsentieren geht im Fall der Zerline über Grübers Inszenierung hinaus. Dabei wird im Salon5 zweigeteilt Hermann Brochs Werk „Die Schuldlosen“ vorgestellt. Der Roman, der 1950 erschienen ist, behandelt in elf Erzählungen die Geschichte der starken, urwüchsigen Magd Zerline und zeigt dabei zugleich den Übergang der aristokratischen Herrschaft zur Demokratie auf. Hannah Arendt bezeichnete kurz nach Erscheinen des Romanes diesen als „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“, wobei man ihr nach dem Abend im Salon5 uneingeschränkt zustimmen kann. Großen Anteil daran hat Marlena Keil in der Rolle der gealterten Zofe, die Herrn A. (gemeint ist der sich als Edelsteinhändler ausgebende Herr Andreas) die Liebesgeschichte ihres Lebens erzählt, die zugleich eng verwoben mit der Geschichte ihrer Herrschaft selbst ist.

Marlena Keil, die sich diese Rolle auch als Abschlussarbeit am Max Reinhardt Seminar ausgesucht hatte, brilliert darin in allen nur denkbaren Facetten. Körperlich und seelisch zutiefst präsent gelingt ihr das größte Kunststück, das auf der Bühne auch nur gelingen kann: In keinem einzigen Augenblick lässt sie es zu, dass die Gedanken des Publikums abschweifen oder sich auch nur für Sekunden erholen können von der berührenden, naiven und zugleich doch so gewitzten Figur der Zerline, die selbst so gerne Kinder gehabt hätte, aber nur dazu bestimmt war, die Tochter der Frau Baronin zu erziehen. Ausgerechnet jenes Kind, dass diese von Zerlines Liebhaber bei einem „Badeaufenthalt“ empfangen hatte. Keil verkörpert diese willensstarke Frau in ihrem Monolog in unterschiedlichen Lebensphasen, sowohl als junges, begehrenswertes Geschöpf als auch als Alte, auf ihr Leben Zurückblickende in einem Guss. Wie sie sich zu Beginn zeitlupengleich aus einem alten Schiffskoffer robbt, in welchem sie zuvor schon unsichtbar beinahe eine Stunde verharrt hatte, ist alleine körperlich schon bewunderungswürdig. Ganz tief jedoch kratzt sie in jenen Momenten an den Emotionen der Zusehenden, in welchen sie klar zum Ausdruck bringt, dass ihre Liebe von Beginn an ob des Standesunterschiedes zum Scheitern verurteilt war. Ihre zur Schau getragene Innerlichkeit wirkt dabei genauso echt wie ihre Tränen, ihre Verachtung sitzt fest verankert in ihrem spöttischen Blick und ihre Hilflosigkeit unterstreicht sie nur durch zarte Gesten ihrer Hände. Dabei wird ihre Ausdrucksstärke und Wandelbarkeit zusätzlich unterstützt durch die feine, behutsame und äußerst kluge Regie von Matthias Rippert, der äußerst gekonnt zur Untermalung und emotionalen Verstärkung Hintergrundmusik einsetzt. Für die Aufführung im Salon5 wurde die ursprüngliche Fassung aus der Regieklasse des Max Reinhardt Seminars neu inszeniert und mit einem ersten Teil versehen. „Der verlorene Sohn“ – ein atmosphärisches Vorspiel nennt sich dieses. Darin lässt Martin Schwanda als Herr A. und Gioia Osthoff, die Hildegard, die Tochter der Baronin W. verkörpert, in einer halb szenischen, halb gelesenen Fassung den Ort des Geschehens vor dem geistigen Auge des Publikums erscheinen. Als entschlossener zukünftiger Mieter sitzt bei Schwanda jede noch so kleine Geste, jedes Augenzwinkern und jeder behutsame Schritt, um das Gelesene körperlich nachvollziehbar zu machen. Krassniggs Vorliebe für diesen Schauspieler, der zu den Wandelbarsten gehört, die derzeit auf den Wiener Bühnen immer wieder zu sehen ist, wird abermals verständlich. Gioia Osthoff bringt nicht nur durch ihre jugendlich-erotische Ausstrahlung das Publikum zum Staunen. Vor allem ihre authentische Interpretation der frechen und charakterstarken unverheirateten Aristokratin lässt keinen Zweifel an einer hervorragenden Besetzung. Nicht zuletzt hat Lydia Hofmann abermals ihren Beitrag zum Gelingen dieses Abends geleistet. Ihre atmosphärische Bühnengestaltung überrascht durch witzige Konterkarierungen – bei welchen Korn- und Mohnblumen zu weißen Lilien mutieren und das Bildnis des verstorbenen Barons metapherschwanger als Hirschgeweih erscheint.

Wer dem Zauber dieses Abends nicht vollends erliegt, der sollte in Zukunft das Theater per se meiden. Wer sich aber in eine andere Zeit, eine andere Welt und in eine andere Seele davontragen lassen möchte, dem sei diese Produktion dringend und wärmstens empfohlen.

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