Wir möchten unsere Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen

Wir möchten unsere Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen

Wir möchten unsere Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen

Bernhard Günther (Foto: nafezrerhuf.com)

27.

Oktober 2017

Ein Gespräch von Michaela Preiner mit Bernhard Günther, dem künstlerischen Leiter von Wien Modern, über den Geist des Festivals, herausragende Produktionen dieser Saison, gängige Vorurteile und einen riesigen Skandal.

Wien Modern feiert mit 6 großen Produktionen und gut 3 Dutzend kleineren seine 30. Ausgabe. Grund genug, Bernhard Günther, seit vorigem Jahr künstlerischer Leiter, ein wenig über die Konzeption des Festivals für zeitgenössische Musik und die Highlights dieser Saison zu befragen.

Könnten Sie kurz skizzieren, was den Geist von Wien Modern auszeichnet?

Wien Modern wurde erfunden, damit man durch das Festival einen Einstieg in die zeitgenössische Musik findet. Der Ausgangspunkt von Claudio Abbado 1988 war ja die Überzeugung, dass diese Musik in die großen Säle gehört und das Vertrauen darauf, dass sie diese auch füllen kann. Am Anfang von Wien Modern steht die Behauptung: Diese Musik eignet sich für viel mehr Menschen, als man glaubt.

Wien hat unter den Städten wie Paris, Warschau, Straßburg, Berlin, die große Festivals für zeitgenössische Musik veranstalten, tatsächlich ein besonders großes, musikbegeistertes Publikum. Wir zählen zwischen 500 und 700 Menschen, die zu unserem Stammpublikum gehören, regelmäßig einen Generalpass kaufen und in viele Veranstaltungen gehen. Aber insgesamt ist ein Festival, das nur zeitgenössische Musik präsentiert und wie im letzten Jahr damit 27.000 Leute erreicht, wahrscheinlich weltweit einzigartig. Das gibt es so nur in Wien, und das spricht für die Stadt und den Grad ihrer Neugier und Musikbegeisterung. Deswegen ist in Wien ein so großes Ausrufezeichen für die zeitgenössische Musik, wie Wien Modern es ist, am richtigen Ort.

Wenn jemand ein Konzert besuchen möchte, aber keine Ahnung von zeitgenössischer Musik hat, wo soll er oder sie anfangen im diesjährigen Programm zu suchen?

Wir haben heuer im Jubiläumsjahr sehr viele große Produktionen. Beispielsweise die sechs großen Veranstaltungen, die ganz in der Tradition des Kunstvertrauens von Claudio Abbado stehen. Das trauen wir uns, weil wir von dieser Musik begeistert sind und glauben, dass sich die Begeisterung mit noch viel mehr Menschen teilen lässt, als sich ohnehin schon interessieren.

Das diesjährige Generalthema ist „Bilder im Kopf“. Hat man nicht ohnehin bei jedem Musikhören Bilder im Kopf?

600 Bilder im Kopf Abbildung Meyers grosses Konversationslexikon 1905

Bilder im Kopf (© Meyers großes Konversations-Lexikon 1905)

Der Titel richtet sich auch an die Menschen, die noch das Klischee von der trockenen, komplizierten, grauen Materie „zeitgenössische Musik“ mit sich herumtragen. Die neue Musik ist ja über Jahrzehnte hinweg in einem sehr technikorientierten, expertenlastig herüberkommenden Diskurs kommuniziert worden. Da gibt es beispielsweise das Stichwort des „Bilderverbots“, das tatsächlich in der deutschsprachigen Musik des 20. Jahrhunderts eine Rolle gespielt hat. Da wurde diskutiert, dass zeitgenössische Musik nicht bildhaft sein dürfe, die Konstruktionsmerkmale standen im Vordergrund, Sinnlichkeit, Assoziationen und Phantasie kamen dabei nicht vor. Der Versuch, diese wilden Assoziationen, die beim Hören von Musik in vielen Fällen in Gang gesetzt werden, in der Kiste zu halten, ist aber nicht ganz gelungen. Ein paar dieser großen Momente in der Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte, in denen sich die Bildhaftigkeit wieder freigekämpft hat, zeigen wir heuer im Festival.

Das größte und am umfangreichsten zu erlebende dieser Beispiele ist zugleich auch – in rein musikalischen Metaphern gesprochen – das farbenprächtigste: Ab den 1970er Jahren entstand in Paris die sogenannte „Musique spéctrale“. Die Spektralmusik hatte mit mehreren Dingen zu tun: Einerseits sagte sich eine damals junge Komponistengeneration in Frankreich: „Diese technische Konzeption von Boulez bis Barraqué, der entspricht nicht unserer Vorstellung von Musik.“ Sie haben sich dann neu auf das Phänomen des Hörens fokussiert. Darauf, den Klang als etwas sehr Konkretes zu vermitteln und nicht als etwas, worüber man theoretische Beschreibungen abliefert, oder als etwas, das man quasi mit Hilfe von Konstruktionsplänen erzeugt. Es ging ihnen wirklich um die physische Qualität des Klangs an sich. Und gleichzeitig kamen damit auch Titel in die Musik zurück, wie man sie vielleicht zuletzt bei Debussy hatte, zum Beispiel „Treize couleurs du soleil couchant“ – „Dreizehn Farben der Abendsonne“ oder „La barque mystique“ – „Das mystische Boot“. Die Spektralmusik war tatsächlich einer der großen Befreiungsschläge für die Musik des 20. Jahrhunderts, mit großen Folgen für die Musik des 21. Jahrhunderts. Das ist eine Musik, die vollkommen anders klingt als die Nachkriegsavantgarde. Eine Musik, die wir in vielen sehr spannenden Werken im Festival präsentieren.

20171103 Burning Bright Hugues Dufourt Foto Christophe Daguet

Burning Bright/Hugues Dufourt (Foto: Christophe Daguet)

In welchen Programmpunkten kann man das hören?

Zu Beginn bei „Burning Bright“ im Museumsquartier, am 3. November mit den „Percussions de Strasbourg“: Sechs Schlagzeuger spielen auf hunderten von Instrumenten aus allen Kontinenten in einem wunderschönen Bühnenaufbau und Lichtdesign von Enrico Bagnoli ein abendfüllendes Schlagzeugstück von Hugues Dufourt. Zentrales Bühnenelement ist ein Wasserspiegel, in den man durch diese Klangwelt wirklich eintaucht. Dufourt hat sich lange damit beschäftigt, welche Schlagzeuginstrumente irgendwo auf der Welt neu entwickelt worden sind, die er nicht schon vorher in seinem vor 40 Jahren ebenfalls für die „Percussions de Strasbourg“ geschriebenen ersten abendfüllenden Stück verwendet hatte, und er schuf damit ein Werk mit einer unglaublichen Klangsinnlichkeit. Die Bühne von Enrico Bagnoli in Verbindung mit dieser Musik haben etwas, das es sehr einfach macht, einen Einstieg in die „Musique spéctrale“ zu finden. Bagnoli hat Licht und Bühne für die berühmte Ring-Inszenierung mit Barenboim an der Scala gemacht. Ich habe ihn mit Dufourt in meiner früheren Funktion als Leiter des Festivals „rainy days“ in Luxemburg zusammengebracht und bin über diese Kombination sehr glücklich.

Der Besuch von „Burning Bright“ lohnt sich allein schon deswegen, weil die Aufführung ein Schritt der Weiterentwicklung vom „bloßen“ Konzert hin zu einer theatralen Form ist. Natürlich ist es rein instrumental, aber das Visuelle bekommt plötzlich dieselbe Aufmerksamkeit wie die Klangqualität. Beides fügt sich zu einer Art Gesamtkunstwerk zusammen, das gut dazu geeignet ist, einen Einstieg in diese Klangwelt zu finden.

Warum gibt es in diesem Jahr einen Frankreich-Schwerpunkt?

In diesem erwähnten Öffnen der zeitgenössischen Musik gab es immer wieder ganz große Impulse aus Frankreich. Die erwähnte „Musique spéctrale“ zählt dazu, die „Musique acousmatique“ oder die „Musique concrète“, auch der Umgang mit Filmmusik, wie man sie am 31. Oktober von Philippe Schoeller für den Film von Abel Gance „J`accuse“ erlebt. Was in Frankreich entstanden ist, ist in erstaunlicher Weise komplementär zu dem, was in Wien selbstverständlich ist. Wir zeigen dieses Mal einen vollkommen anderen Blick auf das Feld der zeitgenössischen Musik. Da ist Frankreich aus Wiener Sicht ein idealer Ohrenöffner, weil diese Musik teilweise eine so andere Ästhetik hat, als wir es aus der Wiener Tradition gewohnt sind – um es auf einen vereinfachten Nenner zu bringen.

Das merkt man eben beispielsweise an der vollkommenen Ungeniertheit, mit der orchestrale Farben gehandhabt werden. Gérard Grisey trägt in seinem Hauptwerk „Les Espaces acoustiques“ – ein weiterer der ganz großen Momente der „Musique spèctrale“ – an manchen Stellen einfach unverschämt dick auf. Das ist großartig, das hat etwas extrem Wohltuendes. Beispielsweise ist am Ende von „Modulations“, dem vierten der sechs Teile, ein unglaubliches Pulsieren des Orchesterklanges zu hören. Das hat tatsächlich eine extrem erfrischende Qualität in die neue Musik gebracht. Ich will in keiner Weise behaupten, dass das in Wien jetzt neu und noch nie da gewesen wäre. Es gehört ja sogar zu einer guten alten Wien-Modern-Tradition, einmal pro Jahrzehnt „Les Espaces acoustiques“ live in Wien zu spielen. Aber ich habe mir beim Lesen der Kritiken aus Salzburg, wo es heuer im Sommer aufgeführt wurde, wieder gedacht, dass diese Musik doch noch nicht genug bei uns angekommen ist. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir inzwischen einen anderen Blick auf diese Musik haben können als vor 10 Jahren, weil mit jedem Jahrzehnt der Entfernung sich der Blick darauf schärft, was denn eigentlich die besondere Innovation gerade dieser Musik war.

Die zeitgenössische Musik, die wir heute haben, hat in ihrer enormen Breite, gerade wenn man zum ersten Mal hineinschnuppert, etwas Überwältigendes und Unübersichtliches. Deswegen bin ich sehr dankbar dafür, dass Wien Modern so ein großes Festivalformat ist, in dem man dann auch einmal einen Schritt zurücktreten und tatsächlich mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten einen neuen Blick auf ein Meisterwerk werfen kann. Das tun wir an mehreren Stellen.

An welchen noch?

20171102 Das Floss der Medusa Hans Werner Henze Foto Archiv

Das Floß der Medussa – Hans Werner Henze (Foto: Archiv – Wien Modern)

Eines der größten Beispiele ist Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Es war 1968 ein unerhörter Skandal, die Uraufführung ging in Hamburg in einem Tumult unter. 1971 fand dann die umjubelte Uraufführung in Wien statt. Das Werk hat erheblich dazu beigetragen, dass Henze mit seiner damals bekennend linkspolitischen Art, sich als Komponist in der Gesellschaft zu äußern, einen schweren Stand hatte. Wenn man das Werk aber heute anschaut, mit der Distanz von fast 50 Jahren, ist es absolut visionär. Wir haben im Katalog versucht, die damaligen Konflikte ein wenig sichtbar zu machen. Beispielsweise hat der „Spiegel“ 1988 Henze nicht dafür angegriffen, dass er – mit der Widmung an Che Guevara und dem Skandieren von Ho-Chi-Minh-Rufen am Schluss – zu linkslastig wäre, sondern dafür, dass seine Musik zu bürgerlich sei. Jetzt haben wir innerhalb dieses einen Werkes eine sehr komplexe, widersprüchliche Gemengelage: Ist es jetzt zu radikal oder zu rückwärtsgewandt? In der Aufregung rund um die Jahre der Uraufführung ist beträchtlicher Staub aufgewirbelt worden, der sich inzwischen gelegt hat. Man kann heute tatsächlich das Werk anschauen als das, was es ist: Ein großer Wurf eines Künstlers, der Ungerechtigkeiten seiner gegenwärtigen Gesellschaft wahrnimmt und der dazu Stellung nehmen und im Prinzip die Welt verbessern möchte.

Das ist ja ein absolut aktuelles Thema.

Vor Kurzem hat sogar der Internationale Währungsfonds dazu Stellung genommen, dass die Vermögen zu ungleich verteilt sind. Ganz davon abgesehen, dass man fast jeden Tag von auf dem Meer untergehenden Flüchtlingen hört, womit man wieder bei der Ursprungsgeschichte wäre, die Henze aufgegriffen hat, nämlich dem Untergang des Floßes der Fregatte Medusa im Jahre 1816. Das Thema ist tatsächlich heute von einer offensichtlichen Aktualität.

Gibt es heute wieder Musik, die sich politisch äußert?

Ich glaube, für die neue Musik ist schon viel gewonnen, wenn man spürt, dass sie von Menschen gemacht wird, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Von Menschen, die sich Gedanken über unsere Welt, wie sie aktuell ist, machen, und die mit ihrer Kunst sich dazu äußern wollen. Damit ist ja nicht Parteipolitik gemeint, das kann schlicht und einfach ein Nachdenken über die Gesellschaft sein, über aktuelle oder ewige Fragen, die den Künstlern und Künstlerinnen am Herz liegen. Ich denke, im Vergleich zu diesem technischen, akademischen, abgehobenen Klischee, das sich manche noch von der neuen Musik machen, zeigt das gesellschaftliche Engagement und das Stellen wirklich zeitgenössischer Fragen in dieser Gegenwartsmusik, dass wir es hier durchaus mit einem sehr lebendigen Kunstbereich zu tun haben. Das sind genauso inmitten der Gesellschaft lebende Künstlerinnen und Künstler, wie es auch Theatermacher, MalerInnen oder TänzerInnen sind. Die Musik stellt die Fragen mit ihren Mitteln, aber ich finde es wichtig, dass man spürt, dass dieser Kunstbereich etwas zu sagen hat und sich zu den Fragen der Gegenwart artikuliert.

Gibt es etwas, worauf Sie selbst in diesem Programm besonders stolz sind?

Das große Wagnis, das wir heuer eingehen, ist tatsächlich diese Kombination großer Produktionen, von denen man gar nicht glauben möchte, dass ein Festival mit einem Budget in der Größenordnung von rund 1/60 der Salzburger Festspiele oder 1/15 der Wiener Festwochen so etwas zustande bringt. Die Kombination von „Floß der Medusa“ mit dem RSO, „J´accuse“ mit den Symphonikern, dem Eötvös-Portrait mit dem Klangforum Wien, dem Claudio Abbado-Konzert mit jungen Musikern der Musikuniversität Wien und des Conservatoire de Paris, „Les éspaces acoustiques“, und schließlich die herausragende Olga-Neuwirth-Produktion „Le encantadas“ mit dem Ensemble intercontemporain unter seinem Chefdirigenten Matthias Pintscher – diese 6 Produktionen zum 30. Jubiläum sind für mich tatsächlich das, worauf ich heuer stolz bin. Dass Wien Modern in der Lage ist, ein solches Paket zu schnüren – ich hoffe sehr, dass das tatsächlich auf viele, begeisterte Zuhörer trifft.

Könnten Sie auch ein einzelnes Konzert herausheben?

Wenn ich einen Moment gezielt herausgreifen soll, in dem das Festival etwas Besonderes wagt – ein Experiment mit durchaus offenem Ausgang –, dann ist es im Abbado-Konzert die Uraufführung von Iris ter Schiphorst, die sich wiederum ein sehr aktuelles Thema ausgesucht hat. Ich habe sie vor rund 2 Jahren auf das Thema „Bilder im Kopf“ angesprochen und sie gefragt, ob sie sich dafür interessiere, ein neues Orchesterstück dazu zu schreiben. Sie hat darüber nachgedacht und gesagt, das, was sie interessiere, sei ein Experiment rund um die Frage: Wie entstehen eigentlich die Bilder in unseren Köpfen? Dazu hat sie sich konkret ein Thema ausgesucht, das vor zwei Jahren schon aktuell war und jetzt brandaktuell ist: Was richtet es mit unserer Wahrnehmung an, wenn wir ein und denselben Text – in dem Fall altarabische Gedichte aus dem 6. Jhdt. nach Christus, in denen es darum geht, dass die Welt auf dem Kopf steht und nur tiefer Humanismus uns da heraushelfen kann – einmal von einer wie gewohnt aussehenden, westlichen Solistin gesungen hören und ein anderes Mal von einer Sängerin, die als verschleierte arabische Frau auftritt. Was passiert da in unseren Köpfen? Wir befinden uns heute inmitten einer öffentlichen Debatte um ein Verschleierungsverbot, das sich fast jeden Tag medial darin äußert, dass die Polizei irgendwelche Plüschhasen oder eine junge Studentin mit einem modischen Schal auf der Straße anhält. Das Thema ist gerade in aller Köpfe und löst ganz unterschiedliche Dinge aus. Das künstlerisch zu untersuchen ist tatsächlich ein Experiment, auf dessen Ausgang ich sehr gespannt bin.

Das Programm von Wien Modern finden Sie hier: Programm

Sie machen uns eine Freude, wenn Sie den Artikel mit Ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden teilen.

Zuallererst muss ich eine gute Person sein

Zuallererst muss ich eine gute Person sein

Lemi Ponifaso wurde 1964 in Samoa geboren. Einzig seine grau melierten Haare deuten auf sein Alter hin. Die herzliche und offene Art, mit der Ponifasio einem begegnet und sein Lachen vermitteln aber eher das Gefühl, jemandem gegenüber zu sitzen, der noch sehr jugendlich ist.

Der Tänzer, Choreograf, Regisseur, Künstler und Designer lässt sich nicht in eine bestimmte Schublade stecken. Und er will alle diese Zuschreibungen nicht gelten lassen. Nach Jahren als Tänzer gründete er 1995 seine eigene Gruppe namens MAU. Die Menschen, mit denen er zusammenarbeitet, kommen wie er nicht vom Theater oder vom Tanz, sondern stammen aus seiner Communitiy – oft mit maorischen Wurzeln.

Er gastiert in den großen Metropolen der Welt, Hamburg, New York, Paris und pendelt dennoch ständig zu seiner Homebase Auckland, nach Neuseeland. Er wurde zur Biennale nach Venedig eingeladen und inszenierte in Canada ein Werk mit über 900 Menschen. In St. Pölten ist er nun bereits zum zweiten Mal. In seinem neuen Stück sind es „nur“ 9 Frauen, die auf der Bühne sind. Frauen, mit denen Ponifasio schon zusammengearbeitet hat und die ebenfalls aus seiner Community stammen.

Bereits seit über 10 Jahren arbeitet er verstärkt mit Frauen und Kindern zusammen, „vielleicht, um ihre Verletzlichkeit aufzuzeigen“. „Ich weiß eigentlich nicht wirklich, warum das so ist“, sagt er und fügt auch dazu, dass er eigentlich nicht glaubt, dass es Theater oder Tanz ist, was er macht.

Lemi Ponifasio portr3E9323 Copyright MAU

Lemi Ponifasio (c) MAU

Theater ist eine bestimmte Art von Kultur, aber nicht zwangsläufig Kunst. Zu oft verwenden wir den Begriff von Kultur dazu, um die Unterschiede zu beleuchten. Das mag ich nicht. Ich möchte vielmehr das aufzeigen, was in allen Menschen gleich ist. Sonst können wir ja nicht darüber reden, wo wir leben und wie die Zukunft unserer Welt ausschauen kann. Das ist meine Haltung. Was immer ich auch mache – es kommt aus dieser Haltung. Egal ob das, was ich mache gut ist oder nicht. Ich mache das, weil ich Menschen zusammenbringen will. Aber ich muss das nicht unbedingt in ihrer oder meiner Sprache machen. Ich bringe nicht absichtlich europäische oder samoanische Kultur auf die Bühne. Ich arbeite mit dem, was ich kenne. 

Entdecken Sie für sich Ihre Idee der Welt, wenn Sie mit verschiedenen Menschen zusammenarbeiten?

Nein, ich bin nicht Kapitän Cook! (Ponifasio lacht herzlich) Nein, das ist keine persönliche Arbeit. Ich möchte einfach Dinge verständlicher machen. Warum haben wir Flüchtlinge? Warum haben wir Kriege, warum haben wir Gewalt? Das sind keine persönlichen Fragen, sondern Fragen nach unserer Existenz. Ich habe einen Weg gefunden, diese Dinge aufzuzeigen.

Glauben Sie, dass Ihre Arbeit Menschen helfen kann?

Wenn Sie helfen im Sinne eines Arztes meinen, dann nicht. (lacht) Im bin ein Teil von dem, was Sie machen. Für mich gibt es zwischen Ihnen und mir keinen Unterschied. Sie sind ein Kommunikator und ich tue das gleiche. Ich bin einfach ein Teil davon. Und hoffentlich wird dadurch ein offener Raum und eine Öffnung zu allen Menschen hin kreiert.

Glauben Sie, dass das Publikum immer weiß, was Sie ihm erzählen wollen?

Ponifasio antwortet wie aus der Pistole geschossen: Nein! Und ich möchte auch gar nicht, dass sie etwas verstehen.

Was möchten Sie dann von den Menschen?

Ich möchte, dass sie sich etwas vorstellen. Eine Aufführung ist ja keine Situation wie in einem Klassenzimmer, sondern eine kreative Situation. Ich mache an Sie als Teil des Publikums einen Vorschlag und wir machen einen Austausch.

Die Beziehung von mir zum Publikum ist eine wechselseitige, das ist für mich wichtig. Ich bin kein Entertainer, der ein Produkt kreiert, damit Sie sich daran erfreuen können.

Standing In Time by Lemi Ponifasio Photo MAU 06

Standing in Time von Lemi Ponifasio (c) MAU

Was erwartet das Publikum denn in Ihrer neuen Arbeit?

In einer meiner Arbeiten „Tempest  – without a body“ kam ein Engel vor, der herumwanderte und wie verrückt schrie. Das ist eine Vorstellung, die in mir nach wie vor eine Art von Meditation auslöst. Ich denke da an den „Engel der Geschichte“ von Paul Klee (Anm: Angelus novus), der von Walter Benjamin auch literarisch bearbeitet wurde. Und in diesem Stück nun nehme ich ihn wieder auf, denn ich glaube, dass der Engel immer versucht, die Welt besser zu machen. Ich habe das zwar nicht beabsichtigt, aber es fühlt sich jetzt so an.

Der Engel versucht sein Bestes, die Welt zu rekonstruieren und die Toten richtig zu begraben, was im Moment ein richtiges Problem in unserem Leben ist. Das ist das, was mir im Moment jetzt in meinen Kopf kommt, wenn ich darüber erzähle.

Was meinen Sie damit, die Toten richtig zu begraben?

Sie müssen ja nur Zeitung lesen!

Sprechen Sie damit die Kriege an?

Ja, selbstverständlich! Wir exekutieren Menschen, verbrennen sie oder werfen sie in Massengräber. Dabei vergessen wir ganz auf ihre Würde. Wenn wir ihnen diese Würde nicht geben, dann glaube ich, dass wir verrückt werden, das fühle ich. Für mich ist das auch ein Zeichen.

Das ist, als wenn man Kinder umbrächte, auch da wird man verrückt. Ich habe in Hamburg eine Arbeit mit dem Titel „The children of gods“ präsentiert, in dem es auch um diese Problematik geht. Das hört sich jetzt alles sehr schwierig an. Aber ich bin total optimistisch, dass in der Kunst, in einer bestimmten Weise, ein positives Gefühl herrscht, mit dem wir Probleme ganz offen ansehen können – sowohl mit unserem Bewusstsein als auch mit unseren Gefühlen.

Was machen die Frauen auf der Bühne eigentlich?

Die Frauen bringen Zeremonien auf die Bühne. Ich finde, wir haben das Theater so weit von der kosmischen Welt entfernt. Wir konzentrieren uns auf das menschliche Leben, als ob es eine Soap Oper wäre. Wir sprechen nur zu uns selbst. Wir vergessen die Bäume, den Himmel, die sind alle ein Teil davon. Ich bin der Meinung, dass wir die Zeremonien, die Götter, die anderen unbekannten Dimensionen auf die Bühne zurückbringen müssen.

Über Frauen denke ich zuallererst in einer sehr persönlichen Weise nach. Ich denke mir immer, was passiert eigentlich mit all diesen Frauen? Was passiert mit ihnen, wenn sie 25 sind – in einer Welt der Männer? Warum verschwinden sie? Das sind Fragen, die ich mir als Mensch stelle. Ich bin kein Feminist oder Frauenbefreier. Von dieser Seite komme ich nicht. Ich bin aber jemand, der etwas anspricht. Die Frauen auf der Bühne singen Lieder, die von ihnen selbst sind. Für mich ist das eine Stimme, die wir hören müssen, auch wenn wir sie nicht verstehen. Es kommen verschiedene Sprachen im Stück vor. Man muss aber nicht verstehen, was sie sagen, aber es ist wichtig, bei ihnen zu sein.

Zu Beginn dachte ich an die allererste Frau, an die pazifische Idee der allerersten Mutter. Diese Frau entdeckte, dass ihr Ehemann ihr Vater ist. Deswegen entschloss sie sich, in die Unterwelt zu gehen. Dort kümmert sie sich um die toten Kinder. Von hier aus kann ich alle Geschichten von der Welt ganz, ganz einfach verbinden. Und dann gibt es auch eine Frau der Gerechtigkeit, das ist eine wichtige Figur rund um den Erdball in Gerichtshäusern, diese Frau, die das Göttliche der Gerechtigkeit symbolisiert. Ich stelle mir die Frage: Was ist das eigentlich? Was ist Gerechtigkeit?

Warum ist Kunst denn eigentlich wichtig?

Wenn wir Kunst zu einer Sprache oder einem Beruf reduzieren, dann macht das wirklich keinen Sinn, das als Kunst zu bezeichnen, denn das ist dann keine Kunst mehr. Das ist dann einfach nur etwas Soziales, Zivilisiertes. Wenn man Kunst macht, sollte man aber versuchen, gerade von der Zivilisierung wegzukommen. Egal wie viel Geld man jemandem gibt, mit Geld kann man niemanden zu einem Künstler machen.

Kunst wird nicht im Parlament gemacht. Kunst wird auf der Straße gemacht, in den Ecken einer Gesellschaft. Dort, wo die Dinge nicht klar sind. Die Frage ist komplex. Ich bin nie in eine Kunstschule gegangen, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich gewisse Dinge ändern kann. Das Wort Künstler ist für mich irgendwie komisch.

Wie würden Sie sich selbst denn dann bezeichnen?

Ich weiß nicht. Zuallererst bin ich eine Person. Die meisten Leute, die ich kenne, sehen mich nicht als Künstler, sie kennen mich nur als Lemi. Aber ich bin eine Person, die etwas tun möchte, etwas verändern möchte. Ich will keine Karriere in einem bestimmten Beruf. Ich glaube, das ist das Problem mit Kunst. Die meisten Künstler sind nicht genug in ihrer eigenen Community präsent. Sie leiten ihre Communities nicht, sprechen nicht mit ihnen, gehen nicht in Bildungseinrichtungen. Wenn Künstler so etwas täten und dabei wahrgenommen würden, würden die Regierungen den Job der Künstler für wichtig erachten. Wenn das – wie heute – oft nicht der Fall ist, dann werden die Budgets einfach gekürzt. Einfach, weil wir nicht gesehen werden.

Für mich bedeutet Künstlersein eine Führungsposition innezuhaben. Die Frage ist: Wie kreieren wir das? Ich könnte mein ganzes Leben nur klassische Musik hören, mein Leben wäre deswegen nicht anders. Aber wie begeistern wir junge Leute, Führungsrollen zu übernehmen, über die Welt nachzudenken, über die Welt die wir kreieren? Welches Unterrichtssystem könnte gutes Leben anstelle von falschen Karrieren unterrichten?

Das Versprechen, Geld zu verdienen, wenn man Prüfungen abgelegt hat, stimmt nicht. Da ist kein Geld, keine wirklichen Jobs, wenn man einfach Prüfungen bestanden hat. Das ist eine Lüge. Der menschliche Fortschritt besteht darin, wie wir uns wirklich um uns kümmern. Wie wir uns zueinander verhalten, welche Verpflichtungen wir untereinander eingehen. Das definiert, wer wir wirklich sind. Und das sind die Dinge, die am allerwichtigsten sind – beim Kunstmachen, beim Gestalten des Lebens. Denn die Qualität unserer Beziehungen ist die Qualität unseres Seins in dieser Welt. Wenn ich eine schlechte Beziehung zu Ihnen habe, dann werde ich auch ein schlechtes Leben haben. Das ist ganz normal (lacht). Dieser Teil, welcher im Leben der schwerste ist, der Beziehungspart, ist jener, auf den man die meiste Aufmerksamkeit richten sollte. Aber wir kreieren eine Welt, in der es bequem ist, keine Beziehungen zueinander zu haben.

Im Theater versuche ich, dass sich die Menschen gegenseitig aufeinander beziehen. Es ist keine Art kommerzielle Aktivität, die hinter diesen Beziehungen steht. Mein Publikum sind keine Kunden, vielmehr eine Community, die versucht, mit etwas klarzukommen. Mir ist es egal, ob sie eine gute oder schlechte Zeit haben. Kunst ist nicht nur für die, die Kunst lieben. Sie ist auch für jene, die nicht mögen, was du machst. (lacht). Wir müssen einfach schöpferisch tätig sein.

2017 05 20 Standing In Time 01 c MAU

Standing in Time von Lemi Ponifasio (c) MAU

Ich habe gelesen, dass Sie als Oberhaupt ihrer Community in Samoa vorstehen.

Ponifasio erschrickt etwas ob der Frage, windet sich, hält die Hände vor das Gesicht.

Dann die Antwort.

Nun, das ist wieder ein anderes Thema.  Er zögert ein wenig. Ja, ich bin der Anführer meiner Leute.

Was heißt das konkret? Wie führen Sie ihre Leute?

Zuallererst muss ich eine gute Person sein. Da versuche ich mein Bestes zu geben. Und ich muss meine Leute versorgen. Mein Titel ist Sala – das die Bezeichnung der ursprünglichen Vorfahren, dem Claim. Ich bin sozusagen der lebende Claim – die Verbindung zu diesem – zum Land, zum Himmel und wo sie auch sind. Das ist etwas sehr, sehr Ernsthaftes. Aber das bedeutet nicht, das ich zum Beispiel der Präsident bin.

Es ist eine Position mit Verantwortung, auch mit Prestige, aber die Verantwortung überwiegt. Mit Ihnen jetzt zu sprechen gehört zu diesem Job dazu. Das zu tun, was ich tue, auch. Die Frauen, mit denen ich arbeite, sind nicht von Kunst- oder Tanzschulen. Es sind Menschen, von denen ich mir gewünscht habe, ein Teil ihres Lebens zu sein und hoffentlich auch Veränderungen in ihrem Leben und in ihrer Community herbeizuführen. Das ist das, was ich in dieser Position mache. Aber ich habe gerade etwas Angst, zugleich ist es auch sehr komisch, denn: Wenn ich nicht darüber spreche, dann respektiere ich die Menschen nicht, die ich vertrete. Aber wenn ich darüber rede, habe ich zugleich Angst und das Gefühl, ich sollte lieber nicht darüber reden. Denn erstens solle ich wirklich nicht darüber reden und zweitens ist der Rahmen der Menschen hier, die das hier hören, komplett anders als in meiner Commuity.

Möchten Sie Ihrem Publikum etwas sagen?

Nein, denn ich ziehe es vor, die Menschen eher einzuladen als ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Ich glaube, jeder entscheidet für sich selbst, was die Welt ist, was man macht, worauf man trifft. Ich glaube, Kunst ist nicht nur dazu da, an der Wand zu hängen. Kunst ist etwas, das auf uns trifft und uns stimuliert, aktiv zu werden in verschiedenen Formen. Wenn nicht, sollte die Regierung uns das Geld dafür wegnehmen. (lacht)

Soll ich das wirklich schreiben?

Ja, das sollten Sie! Ich sage das oft zu Künstlern. Wenn ich zu Politikern gehe, dann sage ich natürlich blablabla. Aber Kunst ist nicht nur die Freiheit, alles zu haben, was man möchte. Es ist keine Freiheit abseits der Gesellschaft oder Regeln. Es ist vielmehr die Freiheit, mit allen zusammen sein zu können. Kunst ist die Freiheit, etwas zu öffnen – Künstler, Communities, Politiker, die Reichen und die Armen – einfach alle. Und es ist Idealismus. Denn ohne Idealismus gibt es keine Kunst.

Weitere Infos und Kartenbestellungen auf der Homepage des Festspielhauses St. Pölten.

Zu fleischgewordenen Exceltabellen finde ich keinen Zugang

Zu fleischgewordenen Exceltabellen finde ich keinen Zugang

Sportlich muss man sein, um Martin Schwanda besuchen zu können. Seine helle Altbauwohnung liegt im dritten Stock eines Hauses nahe am Naschmarkt. Ohne Lift. Einmal die Stiegen erklommen, steht die Türe für meinen Besuch schon weit offen.

Martin Schwanda ist ein kommunikativer Mensch. Herzlich, offen, witzig, spritzig aber auch nachdenklich und empathisch. Vor wenigen Jahren sah ich ihn bei einer Aufführung des Salon5 das erste Mal auf der Bühne in Camera Clara. Man muss Schwanda nur einmal gesehen haben, um zu wissen, dass er ein Schauspielkapazunder ist. Am besten kann er dies in seinem One-man-Auftritt beweisen, in dem er am 15. März in der Roten Bar des Volkstheaters wieder brillieren wird.

Schwandas Paraderolle-n in der Hochstaplernovelle

Hochstaplernovelle 03 c Christian Mair Kopie

Hochstaplernovelle (c) Christian Mair

In der Hochstaplernovelle von Robert Neumann spielt er nicht nur die Hauptrolle, sondern verkörpert darin alle Personen, egal ob männlich oder weiblich. Ein Stück, wie gemacht für diesen speziellen Raum im Wiener Traditionstheater, wird es doch inmitten des Publikums gespielt und fügt es sich auch zeitlich extrem gut in die Programmatik dieser Saison. „Der Text ist schon ein Wahnsinn, wenn man da einmal falsch abbiegt, dann kommt man irgendwo ganz anders raus!“, erklärt Schwanda halb belustigt, halb ehrfurchtsvoll, was die zu bewältigende Textmasse betrifft. „Wir (gemeint ist das Team des Salon5) haben das Stück ja auch schon als Hörspiel aufgenommen, das wir bald veröffentlichen werden. Deswegen hatte ich den Text auch bei meiner letzten Reise in Venedig mit dabei. Da ich allein war, konnte ich es mir dort bei meinen Spaziergängen über Kopfhörer anhören, was ja schon ganz lustig war, zumal das Stück unter anderem auch in Venedig spielt. Ich habe den Text ganz in mich aufgesaugt und entdecke immer wieder noch neue Schattierungen und Finessen.“

Die ersten Theatererfahrungen

Wenn man Schwanda über seine Rolle reden hört, kann man kaum glauben, dass er einmal knapp daran war, die Schauspielerei ganz sausen zu lassen. Nach dem Abschluss am Reinhardt Seminar kam er hochmotiviert in Augsburg ans Theater, um dort seinen ersten Dämpfer zu erhalten. Er empfand den Umgang miteinander dort extrem lieblos, die Bestzungen ohne jegliche Verantwortung für die Schauspieler ausgesucht. Er wollte nur spielen und das, was er gelernt hatte, ausprobieren, sich bedingungslos in Rollen hineinschmeißen und war todunglücklich, unpassende Rollen zugeteilt bekommen zu haben. Erst nach dem Wechsel der Leitung besserten sich für ihn die Umstände, sodass er insgesamt vier Jahre in Augsburg spielte. Zu spüren, dass ihn jemand wirklich dort am Theater wollte, das war für ihn eigentlich das Wichtigste.

Schon damals zeigte sich sein Unabhängigkeitsdrang, denn als die Schauspielleitung wieder wechselte, wechselte auch er von sich aus und ging nach einem kurzen Intermezzo in München an die Shakespeare Company nach Bremen. „Mit dem Ensemblegedanken von Max Reinhardt infiziert – einer für alle, alle für einen – war ich dort sehr gut aufgehoben.“ Es waren sechs glückliche Jahre, in welchen er das Ensemble mitgestalten konnte. „Ich hatte den Schlüssel vom Theater, was für mich ein Symbol war. Denn ich hatte das Gefühl, ich könnte um zwei Uhr nachts dort aufsperren, auf die Bühne gehen und Saxofon spielen, wenn ich wollte, was ich auch gemacht habe.“ Die Mitbestimmung, wer neu ins Ensemble aufgenommen wurde, oder welche Gastregisseure verpflichtet wurden, war ihm sehr wichtig. „Wir hatten auch anstrengende und aufregende Gastspiele, einmal sogar durch Indien. Dabei habe ich ganz schön viel gelernt. An einem Tag spielten wir in einem Riesensaal, am nächsten in einer Kulturscheune in der Pampa, wo der Bühnenboden schief war und alles immer wegrollte.“ In diesem kleinen Ensemble war es gang und gäbe, mehrere Rollen zu verkörpern, rasch hinter den Vorhang abzugehen und als jemand ganz anderer Sekunden später wieder aufzutreten.“ Im Rückblick betrachtet, war das die beste Schule für eine herausfordernde Rolle wie jene des Hochstaplers und all der anderen Rollen in dem Stück, die Schwanda so mit Leib und Seele verkörpert.

Die Liebe zum Spiel mit Masken

Auch heute noch reist er viel und gerne, beruflich und privat und hat dabei gelegentlich nicht nur seinen Text mit, sondern immer auch seine Kamera. S/W-Fotos sind seine Stärke, was auch viele Portraitaufnahmen von Freunden zeigen. An den Wänden im Wohnzimmer hängen Aufnahmen – aus Venedig – mit maskierten Menschen. Kein Zufall, denn Masken haben für den Schauspieler eine ganz besondere Anziehung. Vor wenigen Jahren inszenierte er sein erstes, eigenes Maskenspiel Amour Fou mit großem Erfolg im WUK und Kosmos-Theater und möchte an diesen Erfolg auch bald wieder anknüpfen. Am Wohnzimmertisch liegen braune Ledermasken, frisch aus Venedig mitgenommen. „Da gibt es ein kleines Geschäft, in dem ein Maskenbauer nach alten Vorbildern Masken für die Commedia dell`arte aus Leder fertigt, die ich dort einfach kaufen musste. Für mich als Schauspieler ist es ein Ideal, hinter einer Figur zu verschwinden und sie ganz und gar zu verkörpern. Mich reizt es, zu tun als ob, in eine andere Figur zu schlüpfen und die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, als ich sie so sehe. Das hat viel mit Empathie zu tun. Sich hineinzufühlen in jemanden, der in einer bestimmten Situation ist, etwas Bestimmtes tut, etwas Bestimmtes isst, in einer bestimmten Gegend wohnt und dabei zu spüren, wie sich das anfühlt. Als guter Schauspieler braucht man ein psychologisches Fingerspitzengefühl. Wenn man als Schauspieler sichtbar bleiben möchte, dann funktioniert das Spiel mit den Masken nicht. Ich finde aber gerade diese Arbeit sehr interessant. Eigentlich sind das Hochpräzisionswerkzeuge. Masken vergrößern in ganz unglaublicher Weise jede einzelne Aktion. Da genügt eine kleine Veränderung, ein Zentimeter in der Bewegung und schon ist die Aussage eine ganz andere. Interessant wird es immer dann, wenn das Publikum die Masken gar nicht mehr sieht, sondern die Figur im Vordergrund steht. Obwohl es beim Spielen mit Masken auch eine ganz knochentrockene Ebene gibt, bei der es egal ist, was du gerade denkst oder fühlst. Du kommst rein, bleibst stehen, hältst inne, zählst 21, 22, 23, drehst den Kopf schnell nach links, zack, kratzt dich langsam am Ohr und allein das erzählt schon eine Geschichte. Ich mag diesen handwerklichen Aspekt des Theaters auch gerne. Das hat viel mit Rhythmus und Musikalität zu tun.“

Von der Wichtigkeit des Handwerklichen

Auf die Frage, wie sehr man mit einer Rolle selbst verschmelzen muss, gibt der Schauspieler eine verblüffende Antwort.

„Ich finde das immer ein Märchen, eine Koketterie, wenn man nach der Vorstellung sagt: Ich bin noch nicht wirklich wieder da und ich bin noch auf so einer Reise. Mir geht es zumindest nicht so, dass ich die Schleuse in die Realität jemals nicht gleich wiedergefunden hätte. Ich finde es super, auch einmal hinter dem Vorhang rumzublödeln, dann rauszuspringen und voll drin zu sein. Klar braucht man Konzentration, aber vor einer Szene drei Stunden an meine tote Großmutter denken, damit ich in eine tiefe Emotion komme, das brauche ich nicht. Wenn ich als Figur genau weiß, was ich will, wenn ich mir genau vorstelle, in welcher Situation ich gerade bin und was das bedeutet, dann passieren die Emotionen ganz von alleine. Eine Emotion ist eigentlich nur ein Abfallprodukt einer klaren Handlung. Das zu wissen, entspannt viele sehr. Denn dann muss man nicht mehr Gefühlen hinterherjagen, sondern nur klare und konkrete Handlungen überlegen. Ich habe mich immer gerne auch körperlich neu erfunden. Ein anderes Muster wiedergegeben, einen anderen Rhythmus, andere Körperbewegungen, die Essenz eines Wesens zu erwischen und wiederzugeben und auf meine eigene Körpersprache zu übertragen, das macht mir großen Spaß. Wenn man es schafft, dass man hinter der Maske ganz verschwindet, oder übertragen im Theater eben hinter der Figur, wenn jede Pore zu dieser Figur wird, dann ist es toll. Ich mag die Abende lieber, wo ich die Schauspieler vergesse und mit den Figuren und dem Stück mitleben kann. Es gibt ja Kollegen, die sagen, ich bleibe immer ich, ich musiziere einfach einen Text, manches Mal in Grün, in Blau oder in Glitzer, aber ich bleibe immer ich. Auch das kann Kraft haben, aber ich bin da eher altmodisch. Beim Unterrichten oder auch beim Regieführen schreibe ich ja manches Mal mit und wenn ich dann vergessen habe, mitzuschreiben und nur gedacht habe: Hoffentlich geht´s gut aus, ganz naiv, dann habe ich gewusst, das waren die großen Momente.“

Die Bühnen außerhalb des Theaters

Schwanda innen

Martin Schwanda (c) Andrea Klem

Schwanda ist ein Vielseitiger. Ob als Schauspieler auf Bühnen fix engagiert, wie er es in jungen Jahren in Augsburg und in Bremen an der Shakespeare Company war oder – was ihm ganz besonders liegt – als Gast an großen Häusern oder in einer schurkischen TV-Rolle in einem Tatort. Ob als Coach, der Unternehmern oder angehenden Wirtschaftsleuten in ihrem Studium beibringt, dass Schauspiel nicht nur auf der Bühne, sondern tagtäglich mit uns allen und in uns allen passiert. Oder ob als Lehrer, wie derzeit in einer Verpflichtung als Rollenlehrer für 8 Wochenstunden am Max Reinhardt Seminar, seiner eigenen Ausbildungsstätte, mit der er sich sehr verbunden fühlt. Immer sind es die Mittel des Theaters, die in seiner Arbeit im Zentrum steht und die er auch abseits der Bühnen vermittelt. In ein reines, lokales Theaterkorsett eingezwängt zu sein, ist nicht wirklich Seines. Ohne Bühne zu agieren aber auch nicht.

„Ich bin heilfroh, nicht um Rollen betteln zu müssen, oder von einer einzigen Institution abhängig zu sein. Selbst inszenieren, unterrichten, in einem tollen Team wie dem Salon5 immer wieder mitarbeiten zu können, dann wieder wie jüngst im Volkstheater in einer schönen Rolle als Gast aufzutreten – dabei fühle ich mich wirklich wohl.“ Diese Arbeitsweise hat auch etwas mit seinem familiären Umfeld zu tun. Seine beiden Kinder wohnen bei ihrer Mutter in Norddeutschland und so bleiben für die gemeinsame Zeit mit ihnen nur die Ferien und Wochenenden übrig.

„Dass sich mein Sommerengagement am Thalhof in diesem Jahr so wunderbar ausgeht und ich mit meinen Kindern zusammen sein kann, darüber bin ich wirklich froh“, erklärt der Familienmensch sichtlich erleichtert. Vor die Wahl gestellt, auf der Bühne zu agieren oder die wenige Zeit, die er mit seinen Kindern hat, gemeinsam intensiv zu verbringen, entschied sich Schwanda bis jetzt immer für seine Kinder. Mit einer kleinen Einschränkung: „Manches Mal kann ich am Wochenende nicht zu ihnen kommen oder muss einen vereinbarten Termin verschieben, wenn es beruflich überhaupt nicht anders machbar ist. Aber ich achte sehr darauf, den Kontakt mit meinen Kindern so intensiv wie möglich zu gestalten.“

Arbeiten außerhalb des Theaters erweitert den Horizont

Zu seinen Aufträgen in der Wirtschaft hat Schwanda einen ganz besonderen Zugang. „Auch in der Wirtschaft geht es wie im Theater darum, einen Inhalt zu verpacken. So eine Arbeit abseits des Theaters wird von manchen Kollegen gering geschätzt, mit dem Argument, dass es den Künstlern am Theater ja nur um die Kunst gehen müsse. Es gibt da auch viele Vorurteile und Berührungsängste. In beide Richtungen. Ich möchte aber gelegentliche Ausflüge in andere Arbeitswelten nicht missen, weil es meinen Horizont erweitert und ich viel mehr von der Welt mitbekomme, was ich dann wieder auf meine Theaterarbeit übertragen kann. Das ist für mich das Spannende daran. Es gehört für mich beides dazu, das Arbeiten im Theater oder am Film und das Arbeiten draußen, mit Menschen, die nicht vom Theater sind, aber mein Wissen und meine Erfahrung davon brauchen können. Wenn du einen guten Inhalt hast, musst du auch schauen, dass er in einem schönen Licht steht. Das ist sonst so, als ob man ein schönes Bild hätte, das in einem dunklen Raum ohne Rahmen steht und nicht beachtet wird. Das ist genau das, was ich mit diesen Leuten auch mache, den Inhalt ihrer Arbeit so gut zu verpacken, dass er auch dementsprechend wahrgenommen wird. Mit ihnen an ihrer Präsenz arbeiten und daran, Selbstvertrauen zu bekommen ins eigene Tun, in die eigene Präsenz, das ist dabei meine Aufgabe.“

Schwanda unterrichtet seit einigen Jahren auch an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Mit den Studierenden des Studiengangs „Musikvermittlung“ arbeitet er an einer guten Bühnenpräsenz und Auftrittsgestaltung. Und er hält an der FH Wien pro Semester eine Lehrveranstaltung rund um nonverbale Kommunikation und Auftrittsgestaltung ab.

„Dabei geht es mir darum, den Leuten zu zeigen, dass es nicht immer perfekt zugehen muss, etwas auch einmal einen Sprung haben kann. Mich interessiert es dann, wenn es menschlich wird, mich berühren auch Leute mehr, die loslassen können und zeigen können, dass sie nicht immer so toll sind. Menschen, die einmal ausatmen können und bei denen man dann draufkommt: Aha, das ist ja auch nur ein Mensch wie ich, vielleicht einer, der gerne etwas Anderes machen möchte, der vielleicht einen Beruf hat, der ihm nicht gefällt, aber im Grunde sich dasselbe wünscht wie ich auch.“

Das Glatte, Perfekte, Verkopfte mag Schwanda nicht

Das Aalglatte liebt Schwanda überhaupt nicht, aber nicht nur, wenn er an gewisse Wirtschaftstypen denkt, an „fleischgewordene Excel-Tabellen“, wie er sie nennt, zu denen er keinen Zugang findet. Aber er schätzt das Glattgebügelte auch am Theater nicht. „Das Glatte, Perfekte, Verkopfte mag ich überhaupt nicht. Egal ob in der Wirtschaft, in der Politik oder im Theater: Wenn Menschen als Menschen nicht wirklich etwas zu sagen haben und nur ihr eigenes Ego vor sich hertragen, dann interessiert mich das überhaupt nicht. Gutes Theater muss mich einfach berühren. Es kann toll sein, einem Schauspieler zuzuschauen, der handwerklich toll ist, bei dem man sich denkt: Wahnsinn, was kann der noch alles machen?!, aber diese Faszination lässt schnell nach, wenn das nicht mit Seele unterfüttert ist. Auch in der Wirtschaft und in der Politik ist das so. Leute, die sich nicht hinter ihrer Fassade verstecken oder an ihren Krawatten anhalten müssen, sondern auch ihre Unvollkommenheit zeigen können, sind jene, die wir alle viel mehr akzeptieren und die auch glaubhafter sind.“

Unterrichten bedeutet auch, das Selbstwertgefühl zu stärken

Schwanda sieht seine Aufgabe im Unterricht am Reinhardt Seminar auch darin, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, dass sie von Haus aus grundsätzlich voll in Ordnung sind. „Neben der Vermittlung des Handwerks und der Erfahrungen und der Herangehensweise an Rollen, versuche ich, Ihnen auch Vertrauen in sich selbst zu geben. Ich möchte ihnen zeigen, dass es nicht darum geht, immer perfekt zu sein, sondern zu seiner eigenen Persönlichkeit zu stehen. Die jungen Studenten und Studentinnen am Reinhardt Seminar wollen ja ganz viel und werden auch ordentlich hergenommen, weil es eine sehr persönlichkeitsfordernde Ausbildung ist. Da geht es schon sehr an die Grenzen. In Einzelgesprächen merke ich oft, dass viele von ihnen tief im Inneren nervös und unsicher sind und immer wieder sogar auch Angst haben, das aber nach außen nicht so zeigen. Wenn man mit ihnen dann darüber spricht, sind sie ganz überrascht, dass es den anderen – und auch mir immer wieder – auch so geht, denn sie denken, dass sie der oder die einzigen wären, die sich so fühlen. Mein Ideal ist es, dass sie, wenn sie ihren Abschluss gemacht haben, neben der hohen handwerklichen Professionalität auch an Sicherheit gewonnen haben und zu sich stehen können, so wie sie sind und auf der Bühne ihr künstlerisches Potential voll entfalten können. Dass sie als starke künstlerische Persönlichkeiten mit einem gesunden Selbstbewusstsein das Reinhardt Seminar verlassen. Und was den handwerklichen Aspekt des Rollenstudiums betrifft, hab` ich große Freude daran, Ihnen sowohl den Umgang mit Sprache, mit Musikalität, mit Rhythmus, als auch mit sehr körperlichen Spielweisen und Figurengestaltungen zu vermitteln. Weil mir das liegt und Freude macht. Auch da kommt mir meine Beschäftigung mit Masken sehr zugute. Ich nehm` immer mal wieder welche mit in den Unterricht und wir experimentieren damit herum. Und es ist großartig, was die Masken aus den Studierenden rausholen, ohne dass ich irgendetwas mache. Und das macht Spass und befreit, wenn man mal zu verschreckt oder zu sehr im Kopf ist. Oder wenn es zu psychologisch wird.

Ein Häuschen im Grünen

Hochstaplernovelle Martin Schwanda XL c Christian Mair IMG 7575 Kopie

Hochstaplernovelle, Martin Schwanda (c) Christian Mair

Auf die Frage, ob er nicht gerne an einem bestimmten Haus fix engagiert wäre, antwortet Schwanda: Wenn ich sehe, dass Kollegen von mir große Karriere an einem großen Haus gemacht haben und eine große Bekanntheit erlangt haben, dann denke ich mir manches Mal, ob ich das nicht auch haben hätte können. Aber dann sage ich mir wieder: Ich habe auch etwas vorzuweisen. Halt etwas Anderes. Würde ich unbedingt an einem bestimmten Theater sein wollen, dann wäre ich es wahrscheinlich auch, denn ich bin schon ein ziemlicher Berserker, der sich holt, was er haben will. Aber ich kenne auch genug KollegInnen, die fix an tollen Häusern engagiert sind und auch nicht wirklich Freude damit haben. Die können sich vielleicht auch noch ein Häuschen im Grünen leisten und bekommen im Caféhaus einen besseren Platz, aber glücklicher als ich scheinen sie auch nicht zu sein. Ich habe mit meinem Lebensmodell zunehmend meinen Frieden gefunden, weil es mir so eine enorme Vielseitigkeit ermöglicht. Ich tu` das ja auch nicht aus einer Not heraus, sondern aus dem tiefen Interesse, auch mit Leuten zusammenzukommen und zusammenzuarbeiten, die aus einem ganz anderen Kontext kommen. Das ist für mich letztlich als Schauspieler auch Futter ohne Ende.“

Die letzte Frage, warum gerade Unterrichten für ihn in seinen vielen Schattierungen so interessant ist, offenbar einen ganz persönlichen Hintergrund.

„Ich glaube, weil ich das selbst nie wirklich ausreichend hatte. Oder erst sehr spät. Einen Mentor, der hinter mir steht. Ein Vorbild, jemand, der mich an der Hand genommen hat und mir gesagt hat: Ich zeig dir einmal was. Das fängt schon mit der eigenen Familie an – ein Vater, ein Onkel, ein großer Bruder, der sagt: Heute zeige ich dir, wie man raucht und morgen, wie man Bier trinkt.“ Schwanda lacht herzlich. „Die führende Kraft, die vermittelt: ich bin der Erfahrene, Ältere, du bist voll in Ordnung und ich war auch einmal jung und ich zeig dir jetzt wie´s geht, die hat mir in vielen Situationen gefehlt. Ich glaube, dass ich andere Leute gut machen kann, weil mich in meinen jüngeren Jahren nie jemand gut gemacht hat. Ich bin da so sensibilisiert darauf, weil ich genau weiß, was fehlt und welche Unsicherheiten da sind. Inzwischen habe ich viele Themen für mich gelöst, aber die Sensibilität für diese Probleme ist mir geblieben. Ich sehe einfach sehr schnell, wenn jemand vor sich davonläuft oder wenn jemand so tut als ob. Wenn jemand auf der Bühne rumfuchtelt, das aber nicht wirklich meint, dann sehe ich das schnell. Dann versuche ich ein wenig Ruhe in das Spiel zu bringen, die Leute mehr zu erden und den Leuten das Vertrauen zu geben, dass es das alles gar nicht braucht. Aber auch umgekehrt den Bescheidenen sagen: Du darfst dich ruhig auch einmal bemerkbar machen und dir deinen Platz erobern! Ich musste sehr oft Stücke und Rollen spielen, bei denen ich dachte: Was hat sich die Regie dabei jetzt wieder ausgedacht? Ich fang` mit dem Text, dem Stück und den Kollegen nix an und finde auch den Regisseur blöd und ich mag das nicht machen, aber ich muss. Da muss man dann aber eine eigene Haltung finden, um dem Ganzen noch einen Sinn zu verpassen. Manchmal war das dann eine spielerische Fingerübung, bei der ich mir sagte: Gut, dann mach ich da zumindest eine freakige Figur daraus, die es so noch nicht gegeben hat, wurscht welche Aussage das jetzt hat, weil Aussage kann ich da jetzt auch nicht mehr reinpappen. Ein anderes Mal war es so, dass ich mir gesagt hab: Es ist wichtig, dass die Menschheit das gesehen hat. Und wenn sie nur sagt, der Typ da hatte was, auch wenn sie alles andere gleich vergessen hatte. Diese Eigenverantwortung für die eigene Theaterarbeit finde ich auch wichtig, zu vermitteln. Wenn ich jemanden im Unterricht übernehme, dann mache ich mich zum Anwalt für diese Person. Leute die es auf die Bühne zieht, wollen gesehen und wahrgenommen werden und wenn ihr Lehrer sie dabei nicht ernst nimmt, stärkt das nur die eigenen Ängste.“

Das Gespräch mit Martin Schwanda führte Michaela Preiner.

Das Meerschweinchen Mucki

p.s.: Während des Schreibens konnte ich mich nicht mehr genau an die Anzahl der Stockwerke erinnern, die ich zum Interview erklommen hatte und fragte daher kurz per SMS an, im wievielten Stock der Schauspieler wohne und ob es auch ein Mezzanin gäbe:

Hier seine Antwort, die ich nicht vorenthalten möchte:

Sehr interessante Fragen: …mein erstes Meerschweinchen hieß übrigens Mucki (von Nepomuck), unsere Schildkröten Pünktchen und Anton, und meine beiden (!) Hamster Niki. Ich hatte übrigens auch Kaulquappen, einen Molch und Mäuse (alle selbts gefangen)……..falls das noch wichtig ist.

Wer Martin Schwanda bei seinen nächsten Auftritten sehen möchte, dem sei seine höchst originelle Homepage empfohlen.

Eine gewisse Nervenstärke ist nicht ganz schädlich

Eine gewisse Nervenstärke ist nicht ganz schädlich

Der Deutsche Florian Hirsch ist seit 2011 einer der Dramaturgen am Burgtheater. Wir sprachen mit ihm über sein Arbeitsgebiet und die Voraussetzungen, die man für diesen Beruf mitbringen muss.

Das Burgtheater hat mehrere Dramaturgen. Wie ist denn hier die Arbeitsaufteilung? Hat jeder von Ihnen Schwerpunkte, oder verteilen Sie von Saison zu Saison die Arbeit untereinander?

Wir sind vier Dramaturgen. Unter Federführung der Direktorin wird die Saison jeweils festgelegt. Die Aufteilung hängt tatsächlich mit zeitlichen Kapazitäten zusammen, das ist ganz pragmatisch. Es gibt aber auch immer wieder Kontinuitäten in der Regie-Dramaturgie-Beziehung. So etwas versucht man natürlich, aufrechtzuerhalten. Wenn man sich kennt, geht`s meistens einfach besser.

Mit 16 war Hirsch auf der High-School in Amerika und hat in Berlin Germanistik und Nordamerikanistik mit dem Schwerpunkt amerikanische Literatur studiert.

Greift man aus diesem Grund bei Produktionen, die auf englischen Texten basieren, gerne auf Ihre Hilfe zurück?

Ja, ich mache das gerne, und kulturelle und sprachliche Kenntnisse sind natürlich hilfreich, da man ja meist am Text das eine oder andere auch noch ändern muss. Ich habe einfach einen guten Zugang zu amerikanischen Stoffen und Stücken.

War es von Haus aus Ihr Berufswunsch, Dramaturg zu werden?

Während des Studiums in Berlin habe ich schon viel Off-Theater gemacht und habe relativ schnell erkannt, dass ich nicht in die Wissenschaft möchte, sondern dass ich mit Texten praktisch arbeiten möchte. Dann bin ich über Hospitanzen da reingerutscht und hab entdeckt, dass das etwas ist, was mir gut liegt.

Florian Hirsch war am Maxim-Gorki-Theater in Berlin Assistent und hat dort mit Regisseuren gearbeitet, die auch in Wien gearbeitet haben. Insbesondere war es Stefan Bachmann, der ihn nach Wien empfohlen hat.

Sind Sie glücklich in Wien?

Ja!

Möchten Sie nicht mehr zurück nach Deutschland?

Sollte ich Wien jemals verlassen müssen, was ja passieren wird, werde ich es mit großen Schmerzen tun. Es ist ja immer so, dass die Dramaturgie an die künstlerische Leitung gekoppelt ist.

Können Sie in einem Satz beschreiben, was ein Dramaturg macht – für all jene, die keine Ahnung haben?

Die Frage wird mir oft gestellt und ist auch legitim, weil die meisten Leute tatsächlich nicht wissen, was ein Dramaturg macht. Es ist auch schwer zu beschreiben, die Arbeitsaufgaben sind auch nicht immer gleich. Ganz grob gesagt, würde ich die Aufgabe in zwei Hälften teilen. In der einen Welt des Dramaturgen wählt er – gemeinsam mit der Intendantin – Stoffe und Stücke aus, entwickelt Konzepte für die Spielzeit, Besetzungen, engagiert Schauspieler und Regisseure, erledigt vieles, was die operative, künstlerische Leitung eines Hauses ausmacht, bis hin auch zu Marketingaufgaben.

Die andere Welt ist die Produktionsdramaturgie. Das hängt sehr, sehr davon ab, mit welchem Regisseur man gerade zusammenarbeitet. Inwieweit man da involviert ist, ob man viel auf den Proben ist. Bei „Hotel Europa“ wurde gemeinsam mit dem Regisseur und den Schauspielern das Stück überhaupt erst entwickelt. Da ist die Herausforderung eine größere, als wenn man ein well-made-play auf die Bühne bringt. Es ist von Regisseur zu Regisseur völlig unterschiedlich, wie weit er auf die Arbeit eines Dramaturgen zurückgreift, inwieweit er das zulässt und möchte. Auf jeden Fall ist ein sehr großer Teil meiner Arbeit, die Produktionsdramaturgien zu machen. Ich bin dabei viel im Arsenal und hier im Haus auf Proben.

Was ist für Sie das Spannendste in Ihrem Beruf?

Grundsätzlich ist es die Arbeit mit sehr, sehr vielen interessanten Menschen, die den Beruf spannend macht. Begegnungen, die man in der stillen Schreib- oder Lesestube nicht hat. Und dass man sich mit Weltliteratur und Stoffen, die einen bewegen, zu tun hat. Das ist für mich das Elementare.

Der Umgang mit Menschen ist ein großer Teil seines Jobs. Ein Teil, der sich oft gar nicht so sehr auf den Inhalt der jeweiligen Produktion bezieht, der aber eher „Kenntnisse psychologischer Natur erfordert.“

Braucht man gute Nerven?

Ja.

Vornehmlich in welchen Situationen?

Ich würde das gar nicht negativ sehen. Eine gewisse Krisenhaftigkeit gehört einfach zum künstlerischen Entwicklungsprozess. Es gibt Regisseure, die am Anfang sehr langsam in die Gänge kommen und je näher die Premiere rückt, desto größer wird natürlich der Druck. Dann muss man in kürzester Zeit noch viele, schnelle Entscheidungen treffen und ganz kurz vor der Premiere noch Veränderungen machen, manchmal sogar noch am Tag der Premiere. Dafür ist eine gewisse Nervenstärke nicht ganz schädlich.

Gibt es Regisseure oder Regisseurinnen, mit denen Sie gerne arbeiten würden?

Ich hätte gern einmal mit Christoph Schlingensief gearbeitet. Und mit Sam Peckinpah.

Wie viele Produktionen betreuen Sie pro Jahr?

Das ist unterschiedlich, aber normalerweise sind es etwa vier.

Der Rechercheanteil Ihrer Arbeit ist nicht unerheblich. Wie hoch schätzen Sie ihn ein?

Das kann man schwer sagen. Das ist ein fließender Prozess. Während der Proben und danach sitzt man mit dem Regisseur zusammen, liest gemeinsam Texte, Sekundärliteratur und dergleichen und es hängt tatsächlich immer sehr vom Stoff ab. Es gibt Stücke, für die man nicht allzu viel Recherche braucht und andere, die ein ganzer Kontinent von Recherche sind. Wir haben hier im Haus aber auch Unterstützung. Rita Czapka, die für Recherche und Archiv zuständig ist oder Referentinnen in der Dramaturgie oder gute Assistenten und Assistentinnen, man muss ja nicht alles alleine machen.

Gibt es dabei auch erkenntnishafte Momente, in welchen es auch schon einmal „bing“ macht?

Im Idealfall ja, das passiert aber leider nicht immer.

Läuft man da durchs Haus und ruft: „Ich habwas, ich hab was!?“

Ja, oder man läuft in den Volksgarten und freut sich! Aber, wie schon gesagt, ich sitze mit den Regisseuren auch nach der Probe oft zusammen und wir reflektieren, was da überhaupt passiert ist und was wir am nächsten Tag machen werden. Egal, ob man davor ein noch so gut ausgefeiltes Konzept gehabt hat, kristallisiert sich oft dieser Erkenntnispunkt, den man eigentlich sucht, ohne es zu wissen, erst im Laufe der Proben heraus. Wenn es solche Momente gibt, dann hat man die meistens nicht alleine, sondern erlebt sie gemeinsam im Austausch miteinander.

Was war denn bei „Hotel Europa“ die absolute Herausforderung?

Zuerst einmal war es eine sehr komplexe Stück- und Stoffsuche. Wir haben verschiedene, auch ganz herkömmliche Stücke geprüft. Ursprünglich hatten wir einmal die Idee, „Hotel Savoy“ zu machen, waren dann aber davon abgekommen, weil auch Antú Nunes der Meinung war, dass dieser Roman für ihn nicht ganz ausreicht, um auf der Bühne was damit zu erzählen. Das war noch vor den großen Flüchtlingsströmen, da war die Griechenlandkrise gerade in der Luft – da sind wir immer zu dem Thema Europa zurückgekommen. Dann haben wir irgendwann einmal gesagt, Joseph Roth ist jemand, der uns heute etwas über Europa erzählen kann, über das Europa von gestern, heute und morgen. Vor dem Hintergrund des Untergangs der k. und k. Monarchie, welche, sehr grob gesagt, ja eine Art Europäische Union „avant la lettre“ dargestellt hat, in ihrer Vielsprachigkeit und Übernationalität.

Hirsch Florian 1s

Florian Hirsch (c) Reinhard Werner

Natürlich war es ein autokratisches System, aber es gab schon gewisse Ansatzpunkte wie das Wiener Parlament, in dem eine Vielzahl an Sprachen gesprochen wurde. Da sind die Parallelitäten ja frappierend. Und der Heimatverlust, die tiefe Einsamkeit und Vereinsamung der Figuren bei Joseph Roth hat uns sehr interessiert. Wir wollten das Stück nicht nur mit einem Roman machen. Zumal ja oft zu Recht gesagt wurde, dass Joseph Roth eine einzige, große Erzählung geschrieben hat. Was man daran sieht, dass viele Figuren immer wieder auftauchen und dass es immer wieder ganz klar besetzte Themen gibt. Deswegen haben wir gesagt, wir können, gemeinsam mit den Schauspielern, einen eigenen Abend auf der Basis von Texten von Roth, aber auch anderen Texten wie solchen von Zweig oder aktuellen wie von Prof. Dr. Fischer, dem deutschen Bundesrichter, oder auch mit Improvisationen, die aus der Probenarbeit eingeflossen sind, machen. Wir hatten zu Probenbeginn sehr viel gelesen und ausgewählt, aber keine fertige Textfassung. Nicht einmal ansatzweise. Das war dann ein Prozess, den wir gemeinsam in einer Art Siebverfahren, gemeinsam mit den Schauspielern, letztlich bis zur Premiere verfolgt haben.

Ist ein Stück, das auf diese Weise gemeinsam erarbeitet wird, dann so etwas wie „Ihr Baby“?

Es ist „unser Baby“ und tatsächlich man hat mehr Vatergefühle als zum Beispiel bei Klassikern, das ist richtig. Und das Stück liegt mir ja wirklich sehr am Herzen.

Warum sollten sich denn die Leute Hotel Europa ansehen?

Weil dort auf ganz besondere Weise vier Schauspieler zusammen eine große Geschichte mit relevanten Themen erzählen. Sie erschaffen dabei eine eigene Welt, die sehr viel mit der Lebenserfahrung von heute zu tun hat. Es ist ein politischer, aber auch ein sehr poetischer Abend. Ein Abend, den viel mehr Menschen sehen sollten, auch gerade, um die Arbeit von Antú Romero Nunes hier zu würdigen.

Das neue Stück „GEÄCHTET“, das Sie dramaturgisch betreuten, spielt in New York, verhandelt aber Fragen, die gerade auch in Europa brisant sind. Sind Sie der Meinung, dass dieser örtliche Abstand dem Publikum den Blick und die Beurteilung auf das Thema erleichtert?

Ich glaube nicht, dass die örtliche Distanz dem Publikum den Blick erleichtert. Trotz seiner universellen Botschaft spielt das Stück in einem US-amerikanischen Kosmos, wurde in pointiertem amerikanischen Englisch verfasst, und eine große Aufgabe für die Inszenierung war es daher zunächst einmal, den Transfer in die deutsche Sprache, auf eine deutschsprachige Bühne zu schaffen. Das Ziel der Regisseurin Tina Lanik war es, mit den Schauspielern ein derart klares Bewusstsein für die verhandelten Probleme zu erreichen, dass sich diesen großen Themen wie Religion, Integration und Identität auch in Wien niemand entziehen kann. Ich denke, dass ist ihr sehr gut gelungen.

Wird die Wahl von Donald Trump und der allgemeine, europäische Rechtsruck einen Einfluss auf die Auswahl der künftigen Stücke haben, die Sie aussuchen und betreuen werden?

Klare Antwort: Ja! Das Theater muss sich gerade in gefährlichen und unübersichtlichen Zeiten, in denen „postfaktisch“ zum „Wort des Jahres“ werden kann, unbedingt dem öffentlichen Diskurs stellen. Es muss sich auflehnen und Fragen formulieren. Ob man dies nun mit relevanten Gegenwartsstücken oder mit Shakespeare macht, wird man von Fall zu Fall sehen. Ich bin jedenfalls froh, dass wir mit GEÄCHTET nun ein wirklich packendes, aktuelles Stück, das sich mit fundamentalen gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt, auf der großen Burg-Bühne spielen.

Würden Sie jungen Kolleginnen oder Kollegen, die Literatur- oder Theaterwissenschaften studieren raten, in die Dramaturgie zu gehen?

Wenn sie eine Leidenschaft fürs Theater haben und gute Nerven, wenn sie wenig Schlaf brauchen, dafür lange Sommerferien haben wollen, ja!

Pin It on Pinterest