Das kalte Land

Das kalte Land

Der Thalhof in Reichenau erlebte nach seiner Neueröffnung vor rund einer Woche nun bereits die zweite große Theaterpremiere. Anna Maria Krassnigg inszenierte „La Pasada – Die Überfahrt“ von Anna Poloni. Die Uraufführung eines spannenden Textes, in welcher der Thalhof selbst eine Hauptrolle spielt, setzt in der Inszenierung neue Maßstäbe.

Beim Betreten des großen Saales im Thalhof riecht es stark nach Weihrauch. Es ist eine wirksame Einstimmung auf Kommendes. Ein überdimensionaler, weiß betuchter Tisch erhöht sich an einer seiner Schmalseiten merklich. David Wurawa betritt den Raum mit einer schlanken Gestalt im Arm, die er auf das erhöhte Tischteil ablegt. Er schlägt das weiße Spitzentuch vom Gesicht, doch zu erkennen ist eine schwarze Maske. Ein Memento mori von dem man nicht weiß, ob es ein Artefakt ist oder ob sich darunter etwas Menschliches verbirgt. Ein von einer Banda gespielte Trauermarsch setzt ein und bald ist es klar: Hier werden Vorkehrungen für eine Totenfeier getroffen.

„La Pasada – Die Überfahrt“ ist das dritte Bühnenstück nach „Camera Clara“ und „Carambolage“ von Anna Poloni. Seine Premiere erlebte es am Thalhof, jener Wortwiege an der Rax, die in diesem Frühsommer neu eröffnet wurde. Anna Maria Krassnigg, die neue Intendantin des renovierten Hauses, hat das Stück inszeniert. Es hat weder etwas sommerlich Leichtes an sich, noch ist es ein Kammerspiel, das man mit zwei, drei Requisiten zur Aufführung bringen kann. Denn „La Pasada“ spielt in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten und hat doch einen Fixpunkt, von dem aus erzählt wird: Der Thalhof selbst.

Ein altes Mädchen und ein junger Mann schreiben Familiengeschichte

Erni Mangold verkörpert die Hauptrolle, Flora Stern – ein Mädchen von 86 Jahren, wie sie in einem Oxymoron beschrieben wird – und ist dennoch an diesem Abend nicht körperlich anwesend. Denn das Spiel um die Geschichte einer ganzen Familie besteht aus zwei Ebenen. Zum einen ist es das live erlebbare Schauspiel im Thalhof selbst, zum anderen sind es Filmszenen, die auf einen großen Bildschirm eingespielt werden. In ihnen erzählt Flora nach und nach ihre Geschichte Ariel Stern, „einem Jungen im Aufbruch“, wie es im Programm heißt. Er ist von seinen Eltern geflohen und sucht bei Flora, die den Thalhof bewohnt und die er anfänglich für seine Großmutter hält, Asyl. Auf der Suche nach seinem eigenen Lebensweg hinterfragt er die Wurzeln seiner Vorfahren. Flavio Schily beeindruckt in der Rolle des suchenden, vermeintlichen Enkels enorm. Derzeit besucht er noch die Oberstufe in einem Wiener Gymnasium, aber er agiert vor der Kamera bereits höchst professionell, ohne dass sein Spiel in einer Sekunde aufgesetzt wirkt. Als Ari bringt er Flora dazu, ihm mithilfe eines Memory-Spieles die großen Stationen ihres Lebens zu erzählen.

David Wurawa mimt Cal, einen Afrikaflüchtling, der Flora an einem spanischen Strand kennenlernte. Wider jede Konvention nimmt sie ihn, selbst schon in den 80ern, bei sich auf. Er wird zum Katalysator der Veröffentlichung jener Ereignisse aus der Vergangenheit, die fest verschüttet jede Menge Unheil in das Leben der Familie von Flora brachten. „Die Wahrheit ist ein pathetischer Schwachsinn“ verkündet Dolores an einer Stelle zynisch. Die adäquate Übersetzung für sie lautet, lieber Lügen verinnerlichen, als der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen. Sie wähnt sich als betrogene Tochter, deren Vater seine Geliebte, Flora, sein Leben lang nicht vergessen konnte. Doina Weber gibt der verbitterten Frau, die sich als Künstlerin lieber mit „Steinköpfen“ als mit lebenden Menschen umgibt, scharfe Konturen.

Ein Familiengeheimnis, das Seelen zerstört

Anna Poloni arbeitet in ihrem Text nicht nur mit drei Sprachen, Deutsch, Englisch und Spanisch. Sie verwendet darin auch das arrivierte Stilmittel der Montagetechnik. Damit legt sie, wie im visualisierten Memory-Spiel, die Karten des gelebten Lebens von Flora nacheinander auf. Zugleich eröffnet sich dabei so manche Fährte, die sich jedoch bald als falsch herausstellt. Die Autorin zitiert auch Passagen aus Shakespeares „Sturm“, jenem „unspielbaren Stück“, wie es Krassnigg einmal bezeichnete, in dem die Liebe als Naturgewalt über ein junges Mädchen hereinbricht und Verheimlichungen ihres Vaters ein Weltbild in ihr kreieren, für das es keinen Vergleich gibt. Nahe an der Dramaturgie eines Krimis nimmt die Regisseurin das Publikum auf Entdeckungsreise in ein Leben mit, das von Widersprüchen nur so strotzt. Flora verlässt nach der Geburt ihrer Tochter Dolores ihren Geliebten, lässt ihr Neugeborenes jedoch bei ihm. Sowohl der Vater als auch seine Frau – die in der Erinnerung von Dolores dunkel glänzte – klären das Mädchen nicht auf, dass Flora ihre eigentliche Mutter ist. Diese Lüge beeinflusst jegliches weiteres Selbstbild aller nachgeborenen Familienmitglieder und wird erst durch die Fragen des Allerjüngsten, Ariel, aufgelöst.

Die vermeintlich kalte Flora zieht schließlich Anton, den Sohn von Dolores auf, den diese mit 14 Jahren zur Welt brachte. Nach der Geburt entzieht Dolores Vater ihr das Kind, um es zu seiner ehemaligen Geliebten zu bringen. Hier ist es keine Lüge, sondern Unausgesprochenes, Verborgenes, das die noch jugendliche Dolores immer tiefer in Familiengeheimnisse verstrickt. „Heidelbeergroß“, so erinnert sie sich, war ihr Kind, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Aber nachdem sie es weggeben musste, hat sie sich nie mehr darum gekümmert. Als Anton erwachsen ist, verlässt Flora die Stadt und zieht auf den Thalhof, einen Ort zwischen mar y montana. Zwar gibt es im Text selbst keine genaue Definition dafür.  In den Videoeinspielungen, vor allem wenn man noch dazu vor Ort ist, wird der Thalhof jedoch sofort erkennbar. Noch einmal entzieht sie sich mit dem Wegzug aus der Stadt ihrer Familie und wählt eine Freiheit, die sie selbst als „das kalte Land“ bezeichnet. Die sprachliche, aber auch inhaltliche Verschränkung mit Schnitzler, der am Thalhof „Das weite Land“ schrieb – fühlt man an diesem literaturdurchtränkten Platz sofort.

Macht und Ohnmacht von Sprache

Martin Schwanda spielt in einer Doppelrolle sowohl Anton, „el doctor“ als auch den Liebhaber von Flora. Vor einer Woche war er noch als Hochstapler in einer Novelle von Robert Neumann zu sehen. Vor allem seine Verwandlung in einen schrulligen, bärtigen Linguisten, der auf ausgestorbene Sprachen spezialisiert ist, verblüfft unglaublich. Er übt denselben Beruf aus wie der Vater von Dolores und bleibt dabei, trotz all der sprachlichen Fülle mit der er sich umgibt, kommunikationsschwach. Mit der Aussage „die Sprache ist ein Dialekt, der Glück gehabt hat“, verweist er auf die Tatsache, dass historisch betrachtet bisher weltweit mehr Sprachen verschwunden sind als derzeit noch gesprochen werden. Aber zugleich auch darauf, dass Sprache ein menschliches Hilfskonstrukt ist, das sich ständig im Wandel befindet und so fragil und bedroht wie der Mensch an sich ist.

„Die Kamera ist mein bester Freund“ hört man einmal sowohl Cal als an anderer Stelle auch Flora sagen. Tatsächlich werden die Filmeinspielungen nicht als reine Kunstprodukte in die Handlung mit einbezogen, sondern vielmehr als dokumentarische Aufnahmen verwendet. Sie wurden von Cal gedreht, um das Leben von Flora und seine Auswirkungen in einer scheinbar objektivierbaren Form festhalten zu können. Was der einen Wahrheit, bleibt für die andere dennoch Lüge. Da kann das Kameraobjektiv noch so nah an die Personen heranrücken. Erni Mangold spielt völlig unprätentiös eine abgeklärte, aber noch immer liebende alte Frau. Ihr Herz hat Platz für Liebe und für Verdrängung gleichzeitig. Cal ist der einzige, der sein Schicksal akzeptiert hat und mithilfe von Flora tatsächlich ein neues Leben beginnen konnte. Die Nähe zu den abertausend Flüchtlingen, die derzeit nach Europa drängen, wird in diesem Stück weder als bedrohlich empfunden, noch als konstruiert. Er, dessen Familie im Mittelmeer ertrunken ist, schafft es trotz aller Bemühungen dennoch nicht, Floras Kinder und Enkel dazu zu bringen, sich auszusöhnen. „Du blinde Frau hast alles“ sagt er zu Dolores am Ende des Stückes. Ihr wäre es nur Recht, wenn niemand ihrer Nachkommen mit ihr Kontakt aufgenommen hätte.

Das Gestern beeinflusst das Morgen

Ein Schreckmoment in der letzten Szene und das Bild von Ariel, der mit seiner Freundin einen Strand entlang marschiert, spannen noch einmal den Bogen zu Flora, von der man zu diesem Zeitpunkt nur weiß, dass sie am Sterben ist. Mit exakt denselben Worten über Nähe und Freiheit wie sie den Beginn ihrer Erzählung einleitete, geht Ariel weg von seiner Familie in seine eigene Zukunft. Aber zumindest mit dem Wissen, dass Lügen und Unausgesprochenes zur Last kommender Generationen werden. Die sehr subtil eingesetzte Musik (Christian Mair), die sich brillant ins Ohr schmeichelt, unterstütz ganz unterschiedliche emotionale Räume. Das Bühnenbild von Lydia Hofmann und die Kostüme von Antoaneta Stereva vermitteln Mittelmeerflair ohne Kitschambiente.

„La Pasada – Die Überfahrt“ ähnelt vom Sprachmuster und vom psychologischen Aufbau der Charaktere von „Camera clara“. In beiden Arbeiten sind es die Untiefen der menschlichen Seele und die Geheimnisse der Figuren, die zu unerwarteten Wendungen führen, aber zum Teil irreparable psychische Schäden hinterlassen. Die höchst kunstvolle szenische Anordnung im neuen Stück mag vielleicht einige aus dem Publikum verwirrt haben. Sie ist aber ein intelligent ausgesuchtes und adäquates Mittel, die tatsächlich verschlungenen Wege von Menschenleben zu veranschaulichen.

Julya Rabinowich zu Gast im spiel.ball

Julya Rabinowich und Anna Maria Krassnigg  beim spiel.ball im Thalhof (c) European Cultural News

Julya Rabinowich und Anna Maria Krassnigg beim spiel.ball im Thalhof (c) European Cultural News

Als Einstimmung dieses Abends bat Anna Maria Krassnigg die Autorin Julya Rabinowich in den Thalhof. Spiel.ball nennt sich das Format, in welchem jeweils vor einer Theatervorführung zeitgenössische Literatur in den Mittelpunkt gestellt wird. Mit einer kurzen Lesung aus ihren beiden Novellen „Die Erdfresserin“ und „Herznovelle“ gab sie einen Einblick in ihr Werk und ließ dabei das Publikum auch in die spannende Entstehungsgeschichte der Herznovelle eintauchen. Ein Buch, das direkt von Schnitzlers Traumnovelle inspiriert wurde und somit auch die Möglichkeit bot, die Sicht von Rabinowich auf diesen Literaten zu verdeutlichen.

Rabinowich beeindruckt darin mit überaus starken Bildern wie einer Herzuntersuchung, in der sie den eingeführten Schlauch mit einer züngelnden Schlange vergleicht oder einer unglaublich komischen, dennoch prosaischen Schilderung eines WC-Besuches. Sie beschrieb im Gespräch emotional nachvollziehbar jenen lähmenden Gefühlszustand, der einen befällt, wenn man in Kulturen eintaucht, deren Schrift man nicht lesen kann. Sie erlebte dies als 7jähriges Mädchen, als ihre Eltern von Russland nach Österreich emigrierten, zu einem Zeitpunkt, da sie längst lesen konnte. Reisen in den asiatischen Raum sind für die Autorin aufgrund dieser einprägsamen Erfahrung ein No-go.

Der Thalhof entwickelt sich mit seiner dichten künstlerischen Programmatik zu einem Ort, an dem Literatur in mannigfaltiger Variation erlebbar wird. Die Quantität aber auch die Qualität der unterschiedlichen Gespräche und Aufführungen verführen förmlich dazu, mehrmals im Jahr dieses Haus zu besuchen und zugleich den Ort Reichenau inmitten seiner ihn umgebenden grünen Überfülle öfter zu genießen.

Lord Chesterton beehrt den Thalhof

Lord Chesterton beehrt den Thalhof

Mit der „Hochstaplernovelle“ von Robert Neumann eröffnete Martin Schwanda in der Titelrolle die neue Intendanz von Anna Maria Krassnigg am historischen Thalhof in Reichenau.

Zwei Schiffsüberfahrten, drei verschiedene Orte, geschätzte 20 Charaktere. Das sind Voraussetzungen, die nicht für ein Theaterstück passen. „Die Hochstaplernovelle“ von Robert Neumann ist, wie im Titel schon ersichtlich, nicht für die Bühne geschrieben. Anna Maria Krassnigg hat sich der Wahnsinnsaufgabe gestellt und daraus gemeinsam mit Jérôme Junod ein Ein-Mann-Stück inszeniert.

Wer sich darauf einlässt, die Abenteuer des Lord Chesterton, dessen richtiger Name eigentlich Erwin ist, nachzuspielen, muss wohl verrückt sein. Oder ein ganz großer Schauspieler. Martin Schwanda scheint diese Rolle wie auf den Leib geschrieben. Er eröffnete damit die erste Saison im Thalhof in Reichenau unter der Intendanz von Anna Maria Krassnigg. Einem Ort, der nach seiner Totalrenovierung nicht nur baulich wiederaufersteht. Die Sensibilität mit der hier von den Besitzern des Anwesens, Familie Rath, vorgegangen wurde, sucht ihresgleichen. Historische, architektonische Elemente wurden mit viel Feingefühl wieder ins rechte Licht gerückt. Substanz, die aufgrund ihres Verfalls nicht mehr zu retten war, abgetragen; der Bruch jedoch durch die Künstlerin Esther Stocker an der Hinterfront des Hauses durch dunkle Balken an der Fassade sichtbar gemacht. Aber nicht nur das. Der Thalhof bekommt mit seiner neuen Bespielung, die sich in Blöcken über das gesamte Jahr erstrecken, nun auch ein neues literarisches Leben eingehaucht und darf sich ab sofort „Thalhof – Die Wortwiege an der Rax“ nennen.

Der große Saal mit Blick auf das „weite Land“ davor, das Arthur Schnitzler, so trefflich beschrieb, erstrahlt in neuem Glanz. Hell funkeln Hunderte von kleinen, geschliffenen Glassteinen des großen Lusters von der Deckenmitte. Frisch gestrichen, in mildem Beige, die samtenen, langen Vorhänge nobel in derselben Farbe, empfängt der festliche Raum seine Besucher. Und bietet mit seinen großen Fenstern einen atemberaubenden Ausblick auf die Landschaft rund um Reichenau.

Die 16 Vierertische stellen zu wenig Sitzgelegenheiten für das Publikum zur Verfügung, sodass entlang der Wände Sesselreihen aufgestellt wurden, erhöht, um den Zusehenden einen guten Blick zu ermöglichen. Egal wo man sitzt, es gibt bei dieser Inszenierung keine guten oder schlechten Plätze, denn Lord Chesterton ist an diesem Abend ständig in Bewegung. Er durchschreitet den Saal in seiner gesamten Breite und Länge, er erzählt von seinen Gaunereien an der Stirnseite, den Rücken der großzügigen Fensterfront zugewandt, dann wieder genau gegenüber im kleinen, erhöhten Podiumsbereich. Er lehnt sich in seinem weißen Anzug einmal an die eine, dann wieder an die andere Türe, die sich ins Freie hin öffnen lassen, und erklärt minutiös jenes Geschehen, das ihn innerhalb weniger Tage eine Hochschaubahn der Gefühle und finanziellen Volten ungeahnter Art erleben ließen. Der Autor ist heute in Österreich nur mehr wenigen bekannt. Robert Neumann, ein streitbarer Geist, aus Österreich vom Naziregime vertrieben, schrieb seine Hochstaplernovelle ziemlich zeitgleich wie Thomas Mann die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Sein literarischer Nachlass befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek. Anna Maria Krassnigg zählt ihn zu den großen österreichischen Literaten und ist bemüht, sein Werk stärker in der Öffentlichkeit zu verankern. 2013 inszenierte sie eine Bühnenfassung seines Romans „Die Kinder von Wien“ im Rahmen der Wiener Festwochen.

Neumanns Hochstapler Erwin alias „Lord Chesterton“ wird immer wieder genötigt, seine Aufenthaltsorte zu verändern, sich in ein neues Hotel an einem neuen Ort einzuquartieren. Dann nämlich, wenn er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann oder ihm jemand wie der gewitzte Hoteldiener Jean Hütter aus Wien auf seine Schliche und Betrügereien kommt. Köstlich, wie Schwanda das Zwiegespräch zwischen dem Lord, ganz in deutsch-englischem Idiom und dem aufgeweckten Hausburschen in breitestem Wienerisch, gegen sich selber führt. So landet der Hochstapler schließlich, nicht mit Absicht, sondern seiner geringen finanziellen Barschaft geschuldet, auf der kleinen, unbedeutenden Insel Ceratosa in der Lagune von Venedig. Entsetzt muss er feststellen, dass es dort nur „Kleinvieh“ gibt, womit er nicht die Fauna der Insel meint, sondern die Gäste des Hotels, in dem er absteigen musste.

Wehmütig denkt er an seine Verflossene, Denise, die ihn wegen eines Glanzstoff-Fabrikanten verließ und trauert dem mondänen Lido nach. Es ist ein großes Vergnügen, Schwanda von einer Sekunde zur nächsten in eine neue Rolle wechseln zu sehen. In jene des kleinen, geschäftigen Hotelbesitzers, dessen größte Freude es ist, sich mit honorigen Persönlichkeiten zu umgeben. In jene des jungen, stattlichen Marcelli mit blitzblauem Stecktuch, den er frühzeitig als Gegenspieler erkennt und geringschätzig nur „Balkan“ nennt. Oder in jene des ältlichen Fürsten Leibowitsch aus Lemberg, der von ihm schließlich Satisfaktion verlangt. Die Damen erhalten Gestalt durch kleine Requisiten wie einen eleganten Satinschuh, verschiedene Hüte, einen weißen Spitzensonnenschirm oder eine silberne Glitzer-Abendtasche. Eine wunderbare Idee, wie Schwanda seine Angebetete „Candida“ – in Form eines zarten Federfächers in einer kompromittierenden Situation ins Schlafzimmer – der Innentasche seines Sakkos – verschwinden lässt. Oder wie ihn eine Gräfin in Form eines Abendschuhes liebestoll in Bedrängnis bringt.

Die vorbeiziehenden Wolken am Himmel über Reichenau erröteten am Premierenabend genau in jenem Moment, in welchem Lord Chesterton von seinen Liebesgefühlen sprach, die ihn plötzlich überfielen. Profi genug, konnte er ihnen eine Zeitlang zumindest noch seinen Intellekt entgegensetzen. Lydia Hofmann, für die Ausstattung des Raumes verantwortlich, trat selbst – man darf es schon als ihr Markenzeichen benennen – in drei kleinen, stummen Nebenrollen auf. Als verflossene Geliebte, als Schimäre mal an der einen, dann wieder an der anderen Außentüre plötzlich auftauchend, aber auch als Geist und mondäne Dame. Die zarte musikalische Untermalung, die teils filmischen Charakter aufwies, stammt von Christian Mair und die elegant-witzigen Kostüme von Antoaneta Stevera.

Die Dramaturgie der einzelnen Abende am Thalhof sieht jeweils zwei Stunden vor der Hauptvorstellung ein Gespräch der Intendantin mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern vor, die einen Bezug zu jenen Literaten aufweisen, die in der Hochzeit des Thalhofs dort logierten. Robert Schindel sprach am Premierenabend über die Widersprüchlichkeiten der Figuren bei Schnitzler. Aber auch darüber, wie schonungslos dieser Autor letztlich auch sein eigenes Fehlverhalten Frauen gegenüber in seinen Werken zum Ausdruck brachte. spiel.ball nennt sich dieses Format, das von vielen anderen wie szenische Lesungen, der Präsentation von Kurzfilmen oder Literatur verschränkt mit Musik, noch ergänzt wird.

„Wir stehen ganz am Anfang unserer Bemühungen und freuen uns über alle, die uns gerade am Beginn begleiten“ begrüßte Anna Maria Krassnigg das Publikum, gleichzeitig mit der Bitte, eventuelle Kinderkrankheiten zu übersehen. Es gab jedoch nichts zu übersehen. Der wunderbare Thalhof mit seinem mittlerweile wieder mondänen Flair, die berauschend schöne Landschaft, die Bewirtung mit regionalen Spezialitäten, all das, sowie das Künstlergespräch und die Theatervorstellung lieferten ein Gesamtpaket, das Lust auf viel, viel mehr machte.

Die unerwartete Wende kurz vor Schluss des fulminant interpretierten Hochstaplers sei hier nicht verraten. Der frenetische Applaus, über den sich Erwin, pardon Lord Chesterton, pardon Martin Schwanda zu Recht freuen durfte, machte deutlich, dass das Publikum die Einstandsvorstellung mit Begeisterung aufnahm. Man darf es ruhig als gutes Omen interpretieren.

Informationen zum Programm finden sie hier: Webseite Thalhof-Reichenau

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Im Frühjahr wird der Thalhof in Reichenau an der Rax – nach einer umfassenden Renovierung – dem Publikum vorgestellt. Das Label „wort.spiele“, das die kommenden künstlerischen Aktivitäten umreißt, macht deutlich, dass Literatur im Zentrum des Geschehens stehen wir. Das Duo Anna Maria Krassnigg und Christian Mair wollen den Ort mit seiner bedeutsamen, literarisch-historischen Vergangenheit neu beleben. Anna Maria Krassnigg erläutert im Gespräch wie es dazu kam und welche Pläne für das ehemalige Nobelhotel vorliegen.

Thalhof Reichenau Werbung

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Wir befinden uns an einem besonderen Ort, dem Thalhof in Reichenau, der sich gerade in der Umbauphase befindet. Können Sie kurz erklären, was es mit diesem Haus oder präziser formuliert dem Häuserensemble auf sich hat?

Hotelrechnung vom Thalhof in Reichenau

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Der Thalhof hat eine besondere Geschichte, die vielfältig und bunt ist. Das Haus steht seit etwa 1670/80 und war ursprünglich ein bäuerliches Gebäude. Aufgrund der Findigkeit, Intelligenz und Strebsamkeit der Besitzer und aufgrund seiner absurd schönen Lage hat er es geschafft, sich als einer der ersten touristischen Hotspots des Landes zu mausern. Ein junges Paar (Anm: Josef und Ursula Rath) hat das Gebäude, das zu einem erklecklichen Teil halb verfallen und halb ausgehöhlt war, gekauft und von unten nach oben – sozusagen von der Wurzel des Gebäudes aus – reanimiert und renoviert. Von den beiden kam dann der wunderschöne Satz: „Was gäbe es Traurigeres, als hier nur zu wohnen“. Liebenswürdigerweise kam ich dann ins Spiel. Sie haben mich schlicht und ergreifend gefragt, ob mich dieser „spinöse“ Ort interessieren würde. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, aber es ging nicht, sich gegen diesen Ort zu wehren.

Grillparzer, Nestroy, Schnitzler sind Namen, die ursächlich mit diesem Ort verbunden sind. Was wird man in Zukunft hier präsentiert bekommen?

Die Antwort hören Sie hier:

 

Und die Referenzen ins Hier und Jetzt?

Wir werden mit Autoren wie Menasse, Schindel, mit jungen Autorinnen und Autoren wie Nino Haratischwili, Mario Wurmitzer zusammenarbeiten – um die Allerjüngsten zu nennen. Wir werden selbstverständlich mit der Schule der Dichtkunst, mit dem Reinhardt Seminar, mit der Filmakademie arbeiten. Das wird soweit gehen, dass es hier nach der Vollrenovierung dieses schönen, opulenten Gesamtensembles „residences“ für Autorinnen und Autoren geben wird. Das heißt, es soll hier nicht nur dramatische Literatur erlebt werden, sondern auch wieder neu entstehen.

Explizit noch einmal nachgefragt. Was ist für Sie das Aktuelle am Theater. Oder warum plädieren Sie dafür, warum sollten sich die Menschen aktuelle Produktionen ansehen – ich verwende den Begriff des Off-Theaters, wie immer man den auslegen möchte. Was ist es, was an diesen Spielorten, die mit kleinerem Etat ausgestattet sind, derzeit tatsächlich brennt?

Die Antwort können Sie hier hören:

 

Sie werden an diesem Ort mit ihrem bewährten Ensemble zusammenarbeiten, mit dem Sie schon seit vielen Jahren zusammenarbeiten. Wie schaut es jetzt aber konkret wirklich finanziell aus? Inwieweit können Sie überhaupt über das erste Jahr hinaus vorausplanen und was können wir im ersten Jahr jetzt erwarten?

Das Programm, das wir hier zeigen wollen, wird ja nicht oder nicht vorwiegend ein Sommerspielprogramm sein, sondern wir wollen den Genius loci in dieser Form nützen, dass wir den Ort dem Publikum zu allen Jahreszeiten zugänglich machen, zu bestimmten, kuratierten Festivalzeiten. Wir sind gerade dabei zu sehen, ob der Bund, Österreich, das Bundesministerium für Kunst hier auch andockt. Wir sind in Gesprächen mit verschiedenen – ich kann es nicht anders sagen – Mäzenen, also Menschen, die wiederum den Geist dieses Ortes und die Möglichkeit einer solchen Zusammenkunft, wie sie hier gewährleistet werden kann, schätzen und fördern wollen. Und die Aufgabe dieses ersten Jahres wird permanent – und das ist wiederum die Schwierigkeit an solchen Projekten neben der künstlerischen sein, dafür, ich möchte nicht sagen zu kämpfen, zu werben, zu verführen und zu bitten, dass ein solcher Ort möglich ist und hochkarätig möglich ist. Und das sag ich auch ganz offen, da stehen wir am Anfang. Wir stehen an einem Anfang, der sich sehen lassen kann, dank der Unterstützung des Landes, sonst würden wir das auch nicht tun, das wäre unprofessionell, aber um über den Anfang hinauszuwachsen, wird es viele Komplizen brauchen.

Wann soll es jetzt eigentlich konkret losgehen? Gibt´s schon einen fixen Fahrplan?

Ja, es gibt einen Spielplan für die erste Spielzeit, der Ende Jänner, Anfang Februar rauskommen wird. Es wird, so wie es jetzt aussieht, Ende April eine große Eröffnung geben. Eröffnung heißt, das Türen und Tore geöffnet werden sich anzusehen, was hier einfach mit dem Gebäude bereits passiert ist und auf eine sehr sinnliche Weise vorzustellen, was das Gebäude füllen soll. Und danach wird es eine Sommerspielzeit geben. Das Motto der ersten Spielzeit ist „Die Residenz des Flüchtigen“. Das hat sehr, sehr viel damit zu tun, dass man ins Bewusstsein rückt, was dieser Ort überhaupt war und ist. Und dazu gibt es zeitgenössische und auch Thalhofliteratur, die wir beschnuppern werden.

Eine Abschlussfrage. Was wäre eigentlich Ihr Wunschpublikum? Ich weiß, angesiedelt zwischen Wien und Triest!

Zwischen Wien und Triest gefällt mir schon sehr gut, muss ich sagen, wissend um die Utopie, die das bedeutet und es auch immer bedeutet hat, hier. Sonst kann ich nicht umhin, mit dem Spruch zu antworten, dem man mir zum Teil schnippisch, zum Teil belächelnd angekreidet hat, als ich den Salon5 eröffnet habe – da habe ich auch diese Frage bekommen und ich habe gesagt. Von der Palmersverkäuferin zum Architekten. Also das Kenner- oder Kennerinnenpublikum an sich ist nicht das, was wir vorwiegend herziehen wollen oder müssen. Selbstverständlich freuen wir uns über jeden, der literaturbegeistert ist, der theaterbegeistert ist. Aber uns ist jeder Mensch willkommen, der Lust hat, sich über das, was der Alltag uns möglich macht, hinaus Erlebnisse zu haben, geistige Erträge zu sammeln, Lust zu haben, in Diskussionen zu geraten und sich einfach „anzusaufen“ mit spannender Dramatik.

Langversion des Interviews auf Seite 2

Im Staate ist ständig was faul

Im Staate ist ständig was faul

Es hatte etwas Magisches an sich. Gelb und schwarz war es und ich hatte Angst, es anzugreifen. Als ich lesen konnte, musste ich feststellen, dass ich es nicht verstand. Denn es war in einer Sprache geschrieben, die mir ganz fremd war. H.C. Artmanns Buch „Med ana schwoazzn dintn“ stand im Bücherregal meiner Eltern. Zwischen Bänden über „Antikes Glas“ und „Gauguin“. Und es repräsentierte etwas, das in meiner Familie als „Unfein“ galt. Es war ein Herzeigebuch einer Sprache, die man meinte, selbst nicht zu sprechen und die man verachtete. Ohne zu wissen, dass man mit der eigenen Sprache gar nicht so weit weg war von Artmanns dialektaler Färbung. Gut, Graz war nicht Wien, aber die Steirer haben, wie allgemein bekannt, auch keinen schlechten Dialekt.

„Des Ano“ kommt nicht aus dem Lateinischen

Viele Jahrzehnte später amüsieren mich meine Erinnerungen an die Familiengefühle der damaligen Zeit. Dialekt ist längst salonfähig geworden. Nicht zuletzt durch H.C. Artmann. Wer sich heute dieser Sprache bedient, scheint ganz nah am Volk zu sein, ihm aus dem Herzen zu reden. Und doch gibt es Gegenbeispiele. Max Gruber mit seiner Formation „Des Ano“ ist ein solches. Wer grübelt, welch lateinische Deklination mit „Des Ano“ wohl gemeint sei, befindet sich gewaltig auf dem Holzweg. Bedeuten die beiden Worte im Wiener Dialekt doch nichts anderes als „auch das noch“. Der Autor, Filmemacher und Sänger mit der gestreamlineden Business-Vergangenheit ist zwar einer, der sich des Dialekts bedient. Aber keiner, der dem Volk aus der Seele spricht. Vielmehr einer, der ihm ganz tief in die Seele schaut. Und zutage bringt, was es dort an Schwarzem gibt. „Faul im Staate“ so betitelte er sein Programm, das er im Nestroyhof Hamakom derzeit an nur drei Abenden aufführt. Und das vor einer Kulisse, die er in seinem Leben wahrscheinlich „nie mehr“ – wie er sich selber ausdrückte – zur Verfügung haben wird. Spielt er doch vor dem großen, braunen, hölzernen Pferd, welches die Protestaktionen gegen den Bundespräsidenten Kurt Waldheim in den 80er Jahren ständig begleitete. Der „Republikanische Club – Neues Österreich“ hat es für die Theaterserie „Die Politik des Vergessens“ zur Verfügung gestellt. Darin ist es nun ein „fast“ lebendiges Mahnmal gegen politische Amnäsie nicht nur eines ehemaligen österreichischen Staatsoberhauptes, sondern auch jenes Vergessens, in dem das Österreichische Volk sich so wunderbar eingerichtet hat.

Angesiedelt ist Grubers Konzert in der „LiteraTurnhalle“ des Salon5 von Anna Maria Krassnigg. Darin hat sie sich die theatralische Präsentation von Literatur in all ihrer Vielfalt zum Ziel gesetzt. Max Grubers Liedtexte sind ein ganz spezieller literarischer Fall. In Wiener Mundart verfasst, beschreiben sie Zustände, die zwar oft als allgemein Menschliche gelten. Im Speziellen aber doch gerade in Wien ihren ganz besonderen Nährboden finden. Der Autor erzählt darin von kleinen Männern, die duckmäuserisch ihr ganzes Leben fristen um schließlich – blöd gelaufen – vor Frau Gott Rechenschaft über ihr dürftiges Erdendasein abzugeben. Er imitiert sprachlich auf kunstvollste Art und Weise jenen Charakter, der anderen immer erklärt, warum etwas nicht geht, was man nicht tun darf und was ganz sicher schlecht ausgehen wird. Glaubst dass´d wos Besseres bist? So was tuat ma net! und ähnliche Suggestivfragen und -phrasen werden dabei mit einem behäbigen Polkarhythmus untermalt. Die Anleitung, wie man einen Traum begräbt, dürfte vielen Menschen im Publikum unter die Haut gegangen sein – der Applaus danach war eindeutig. Auch, weil Grubers musikalische Begleitung jedes seiner Lieder mit einem unglaublich feinfühligen Klangraum ausstaffiert. Thomas Berghammer bedient dabei das gesamte Trompetenrepertoire und scheut sich auch nicht, eine Melodika zum Einsatz zu bringen. Jenes, einer Harmonika ähnliche Instrument, deren geblasene Töne aus vielen Kinderzimmern in den 70er und 80er Jahren die Eltern schier zur Verzweiflung trieben. Martin Stepanik bedient nicht nur das Keyboard und ein Klavier. Er addiert zu dem Klang von „Des Ano“ noch zusätzlich eine geniale elektronisch-musikalische Frischluftzufuhr.

Politisches und allzu Menschliches

Max Gruber erinnert in seinem Schwarz-Weißen Bühnenoutfit mit neckischem, schwarzen Hut ein wenig an die letzten Auftritte von Leonard Cohen. Wenngleich Gruber den allzu eleganten Touch durch eine schwarze Jean abmildert. In seinen Zwischenconférencen scheut er sich nicht, politische „Zustände“ beim Namen zu nennen. So nimmt er die Große Koalition als bipolare Störung wahr oder erklärt augenzwinkernd die Krise der Europäischen Union mit dem Fehlen einer gemeinsamen europäischen Fußballmannschaft. Mit seiner tiefschwarzen Gesellschaftsanalyse, die sich von der hohen Politik auch in die tiefen Abgründe des menschlichen Zusammenseins wagt, befindet er sich in bester Liedermacher-Gesellschaft. Mit dem einzigen Unterschied, dass man seine Lieder nicht mitsingen kann. Sein Wiener Schmäh, eingetunkt in den dunkelsten Blues, ist prall vollgepackt mit artistischen Wortkaskaden. Wobei er gerne viele Strophen bemüht, um auch nur jeden kleinsten gemeinen, dunklen Charakterfleck wortgewaltig auszuleuchten. In seinem epischen Gesang über das Wunder, das kommt, wird klar, dass Max Gruber auch Fähigkeiten besitzt, die gute Regisseure kennzeichnen. Was streichelweich beginnt, entwickelt sich im Lauf des Geschehens zu einem höllischen Weltuntergangsszenario, das alle zu verschlingen droht.

„Des Ano“ hat es im Rahmen der LiteraTurnhalle tatsächlich noch gebraucht. Das, was Max Gruber an Texten so scheinbar hingerotzt und ausgekotzt präsentiert, ist das Ergebnis von akrobatischen Sprachleistungen der Spitzenklasse. Eine letzte Gelegenheit, dem literarisch-musikalischen Lehrpfad entlang der österreichischen Seelenverwachsungen teilzunehmen, gibt es noch am 5. November.

Links: Des Ano
Salon5

Ein Königreich – wenn das verdammte Pferd verschwindet

Ein Königreich – wenn das verdammte Pferd verschwindet

„Die Lüge ist ein Winkelgang, von dem man durch eine Hintertreppe zur Wahrheit gelangen kann.“
Was Michel de Montaigne vor ungefähr 500 Jahren niederschrieb, ist so etwas wie ein architektonisches Gesetz des allzu Menschlichen. Es gibt kaum jemanden, der nicht schon als Kind die Erfahrung machte, dass Lügen kurze Beine haben, wie es ein Sprichwort einfacher ausdrückt. Und doch gibt es Menschen, die das Prinzip der Verdrängung und die daraus zwangsläufig resultierenden Lügen im Laufe ihres Lebens zur Perfektion erhoben haben. Selbst in allergrößter Beweisnot noch beharren sie auf ihrer Unschuld und versuchen trotz aller Fakten jegliches Missverhalten von sich zu weisen. Je höher eine Persönlichkeit im gesellschaftlichen Umfeld angesiedelt ist, die in der Disziplin der Verdrängungsweltmeisterschaften auf dem Podest steht, umso tiefer ist ihr Fall, werden die Lügen aufgedeckt.

Herbeigewünschte und verwünschte Pferde

In Shakespeares Königsdrama Richard III ruft dieser in seiner größten Not auf dem Schlachtfeld nach einem Pferd und verspricht als Gegenleistung sein Königreich. In Österreich geschah in den Jahren 1986 bis 1989 genau das Gegenteil. Der damalige Herrscher des Landes – seines Zeichens Bundespräsident – verwünschte nicht nur einmal ein ebensolches Tier. War es doch zum steten Mahner seiner – nobel ausgedrückt – Erinnerungslücken geworden. Kurt Waldheim, jene tragisch-komische Politfigur, die vom weltgewandten Generalsekretär der Vereinten Nationen zum vom Ausland geächteten österreichischen Bundespräsidenten abstieg, ist der Generation der heute 20-Jährigen kaum noch ein Begriff. Und sollte es doch sein. Steht er doch für jene Gesinnung, welche die Österreicherinnen und Österreicher als Opfer des Nationalsozialismus hinstellte, die in der Ausübung ihrer militärischen oder politischen Dienste ja „nur ihre Pflicht“ taten. Und doch gilt Waldheim historisch gesehen als jene Schlüsselfigur, die es erst ermöglichte, Verdrängtes auszusprechen und einen neuen Prozess im Umgang mit Österreichs NS-Vergangenheit in Gang zu setzen.

Die LiteraTurnhalle in einer neuen Umgebung

Im Nestroyhof Hamakom hat sich nun der Salon5 unter Anna Maria Krassnigg an die Erinnerungsarbeit gemacht. Im Rahmen der Serie „Literaturnhalle“ brachte sie die Premiere einer szenischen Lesung von Robert Schindels „Der Kalte“ auf die Bühne. Das Buch, das 2013 erschienen ist, wurde dabei von ihr gemeinsam mit Karl Baratta auf ein bühnentaugliches Maß gekürzt. Dabei gibt es einige Charaktere, die in ihrer seelischen Entwicklung tiefer durchleuchtet werden als andere. So der Halbjude Fraul, der als Weisester unter allen Personen am Ende sogar über den Tod eines KZ-Peinigers weint. Eine Ausnahmesituation, denn sein abweisender Charakter gab dem Buch sogar seinen Titel. Aber auch der KZ Aufseher Rosinger, der mit Fortschreiten der Geschichte eine Wandlung vom Verdränger zum larmoyanten Erzähler miterlebt, bekommt auf der Bühne einen dominierenden Part. Horst Schily und Martin Schwanda brillieren nicht nur in diesen Rollen. Schily tritt unter anderen Figuren auch noch als Wais in Erscheinung, jener Figur, die Waldheim darstellt. Schwanda hingegen mimt zusätzlich den ruppigen Krieglach alias Hrdlicka.

Insgesamt agieren sieben Schauspielerinnen und Schauspieler im stilisierten Caféhaus, das vor der beeindruckenden Kulisse jenes Pferdes aufgebaut wurde, welches der „Republikanische Club“ zur Verfügung stellte. Jenem hölzernen Pferd, das Waldheim bei all seinen öffentlichen Auftritten – im Schlepptau seiner Gegner – begleitete und als Menetekel seiner schönfärberischen Teilamnäsie angesehen werden kann.

Schindels Sittenbild einer Gesellschaft, die nur unter Zwang bereit ist, die Fehler ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten, wurde in der österreichischen Presse durchgehend gelobt. Und es überzeugt auch in der szenischen Leseanordnung von Krassnigg. Dabei kippt das Geschehen ständig zwischen einer atemlosen Aufdeckungsarbeit, der permanenten Negierung derselben in der Präsidentschaftskanzlei und dem persönlichen Erleben jener Zeit von Fraul und Rosinger. Zusätzliche Würze streut Schindel noch mit den Geschehnissen rund um die Aufstellung von Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus und Thomas Bernhards „Heldenplatz“ ein. Doina Weber schlüpft in die Rollen des damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann und der Frau von Alfred Hdrdlicka und zeigt dabei ihre unglaubliche Komik und Wandlungsfähigkeit.

Rund um die Aufführungen, die noch bis 2. November andauern, bietet das Team vom Salon5 zusätzlich ein intensives Begleitprogramm. Die erste Podiumsdiskussion mit dem Titel „Waldheim zwischen Journaille und Journalismus“ machte durch Publikumsreaktionen deutlich, dass zumindest in Teilen der Bevölkerung keineswegs eine Beruhigung beim Thema der NS-Aufarbeitung festgestellt werden kann. Man darf auf die nächste Gesprächsrunde mit dem Titel „Waldheim – Die österreichische Wende“ am 4. November gespannt sein.

Mit dem jetzigen Durchgang der LiteraTurnhalle, der passenderweise „Politik des Vergessens“ übertitelt wurde, zeigt Krassnigg, dass Literatur und Theater dafür geschaffen sind, das Publikum nicht nur zu unterhalten. Vielmehr bietet dieses virile Format auch reichlich Gesprächs- und Diskussionsstoff über die Vorstellungen hinaus.

Nichts hält etwas intensiver in der Erinnerung fest, als der Wunsch es zu vergessen.

Auch dieser Ausspruch stammt von Michel de Montaigne. Gut, dass es Menschen wie Schindel und Krassnigg gibt, die diesem Wunsch ganz und gar nicht unterliegen. Denn nichts ist für die kommenden Generationen belastender als eine unaufgearbeitete Vergangenheit.

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