„Die Lüge ist ein Winkelgang, von dem man durch eine Hintertreppe zur Wahrheit gelangen kann.“
Was Michel de Montaigne vor ungefähr 500 Jahren niederschrieb, ist so etwas wie ein architektonisches Gesetz des allzu Menschlichen. Es gibt kaum jemanden, der nicht schon als Kind die Erfahrung machte, dass Lügen kurze Beine haben, wie es ein Sprichwort einfacher ausdrückt. Und doch gibt es Menschen, die das Prinzip der Verdrängung und die daraus zwangsläufig resultierenden Lügen im Laufe ihres Lebens zur Perfektion erhoben haben. Selbst in allergrößter Beweisnot noch beharren sie auf ihrer Unschuld und versuchen trotz aller Fakten jegliches Missverhalten von sich zu weisen. Je höher eine Persönlichkeit im gesellschaftlichen Umfeld angesiedelt ist, die in der Disziplin der Verdrängungsweltmeisterschaften auf dem Podest steht, umso tiefer ist ihr Fall, werden die Lügen aufgedeckt.
Herbeigewünschte und verwünschte Pferde
In Shakespeares Königsdrama Richard III ruft dieser in seiner größten Not auf dem Schlachtfeld nach einem Pferd und verspricht als Gegenleistung sein Königreich. In Österreich geschah in den Jahren 1986 bis 1989 genau das Gegenteil. Der damalige Herrscher des Landes – seines Zeichens Bundespräsident – verwünschte nicht nur einmal ein ebensolches Tier. War es doch zum steten Mahner seiner – nobel ausgedrückt – Erinnerungslücken geworden. Kurt Waldheim, jene tragisch-komische Politfigur, die vom weltgewandten Generalsekretär der Vereinten Nationen zum vom Ausland geächteten österreichischen Bundespräsidenten abstieg, ist der Generation der heute 20-Jährigen kaum noch ein Begriff. Und sollte es doch sein. Steht er doch für jene Gesinnung, welche die Österreicherinnen und Österreicher als Opfer des Nationalsozialismus hinstellte, die in der Ausübung ihrer militärischen oder politischen Dienste ja „nur ihre Pflicht“ taten. Und doch gilt Waldheim historisch gesehen als jene Schlüsselfigur, die es erst ermöglichte, Verdrängtes auszusprechen und einen neuen Prozess im Umgang mit Österreichs NS-Vergangenheit in Gang zu setzen.
Die LiteraTurnhalle in einer neuen Umgebung
Im Nestroyhof Hamakom hat sich nun der Salon5 unter Anna Maria Krassnigg an die Erinnerungsarbeit gemacht. Im Rahmen der Serie „Literaturnhalle“ brachte sie die Premiere einer szenischen Lesung von Robert Schindels „Der Kalte“ auf die Bühne. Das Buch, das 2013 erschienen ist, wurde dabei von ihr gemeinsam mit Karl Baratta auf ein bühnentaugliches Maß gekürzt. Dabei gibt es einige Charaktere, die in ihrer seelischen Entwicklung tiefer durchleuchtet werden als andere. So der Halbjude Fraul, der als Weisester unter allen Personen am Ende sogar über den Tod eines KZ-Peinigers weint. Eine Ausnahmesituation, denn sein abweisender Charakter gab dem Buch sogar seinen Titel. Aber auch der KZ Aufseher Rosinger, der mit Fortschreiten der Geschichte eine Wandlung vom Verdränger zum larmoyanten Erzähler miterlebt, bekommt auf der Bühne einen dominierenden Part. Horst Schily und Martin Schwanda brillieren nicht nur in diesen Rollen. Schily tritt unter anderen Figuren auch noch als Wais in Erscheinung, jener Figur, die Waldheim darstellt. Schwanda hingegen mimt zusätzlich den ruppigen Krieglach alias Hrdlicka.
Insgesamt agieren sieben Schauspielerinnen und Schauspieler im stilisierten Caféhaus, das vor der beeindruckenden Kulisse jenes Pferdes aufgebaut wurde, welches der „Republikanische Club“ zur Verfügung stellte. Jenem hölzernen Pferd, das Waldheim bei all seinen öffentlichen Auftritten – im Schlepptau seiner Gegner – begleitete und als Menetekel seiner schönfärberischen Teilamnäsie angesehen werden kann.
Schindels Sittenbild einer Gesellschaft, die nur unter Zwang bereit ist, die Fehler ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten, wurde in der österreichischen Presse durchgehend gelobt. Und es überzeugt auch in der szenischen Leseanordnung von Krassnigg. Dabei kippt das Geschehen ständig zwischen einer atemlosen Aufdeckungsarbeit, der permanenten Negierung derselben in der Präsidentschaftskanzlei und dem persönlichen Erleben jener Zeit von Fraul und Rosinger. Zusätzliche Würze streut Schindel noch mit den Geschehnissen rund um die Aufstellung von Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus und Thomas Bernhards „Heldenplatz“ ein. Doina Weber schlüpft in die Rollen des damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann und der Frau von Alfred Hdrdlicka und zeigt dabei ihre unglaubliche Komik und Wandlungsfähigkeit.
Rund um die Aufführungen, die noch bis 2. November andauern, bietet das Team vom Salon5 zusätzlich ein intensives Begleitprogramm. Die erste Podiumsdiskussion mit dem Titel „Waldheim zwischen Journaille und Journalismus“ machte durch Publikumsreaktionen deutlich, dass zumindest in Teilen der Bevölkerung keineswegs eine Beruhigung beim Thema der NS-Aufarbeitung festgestellt werden kann. Man darf auf die nächste Gesprächsrunde mit dem Titel „Waldheim – Die österreichische Wende“ am 4. November gespannt sein.
Mit dem jetzigen Durchgang der LiteraTurnhalle, der passenderweise „Politik des Vergessens“ übertitelt wurde, zeigt Krassnigg, dass Literatur und Theater dafür geschaffen sind, das Publikum nicht nur zu unterhalten. Vielmehr bietet dieses virile Format auch reichlich Gesprächs- und Diskussionsstoff über die Vorstellungen hinaus.
Nichts hält etwas intensiver in der Erinnerung fest, als der Wunsch es zu vergessen.
Auch dieser Ausspruch stammt von Michel de Montaigne. Gut, dass es Menschen wie Schindel und Krassnigg gibt, die diesem Wunsch ganz und gar nicht unterliegen. Denn nichts ist für die kommenden Generationen belastender als eine unaufgearbeitete Vergangenheit.