Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis

Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis

Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis hinter tausend einem Elend und niemals darstellbar …

Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt Christine Lavant

Christine Lavant: Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt (c) Neithan90

Mit diesem Satz begann der Abend „Verrückung“ im Theater in der DrachengasseAgnes Heginger (Komposition, Gesang, Stimme), Maria Frodl (Violoncello, singende Säge) und Martina Spitzer (Rezitation) hatten sich dafür einen posthum veröffentlichten Text von Christine Lavant ausgesucht, in dem ihr tiefes Elend, aber auch völlig groteske Situationen während eines Aufenthaltes in einer Irrenanstalt, thematisiert wurden. Die Literatin, deren Sprache zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zur absoluten Avantgarde gehörte, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte fast in Vergessenheit geraten. Gerade mit diesem Text hat sich das weibliche Triumvirat eine Besonderheit in ihrem Werk vorgenommen, steht er doch abseits von tagespolitischem Geschehen und damit völlig herausgerückt aus der Zeit. Die „Ver-rückung“, die darin beschrieben wird, ist nicht eine, die in Lavant selbst stattfand. In diesem Text wird klar, dass es nicht diese hilfesuchende Frau war, die sich selbst zur Behandlung einliefern ließ, die als verrückt bezeichnet werden kann. „Man kann sich nicht verstecken hier – es gibt zu viele Gegner“ diese Aussage lässt tief in ihre Beweggründe blicken, die als Flucht vor der Realität außerhalb der Anstaltsmauern charakterisiert werden kann. Dass es dort jedoch nur Menschen gab, die den Wahnsinn real in sich trugen und nicht spielen mussten – wie Lavant es zumindest streckenweise tat – darauf war die sensible Frau nicht wirklich eingestellt.

Die Inszenierung lebt gleichberechtigt von der Lesung des Textes durch Martina Spitzer, die es versteht, mit ihrer Stimme aber auch ihrer Mimik zu fesseln. Aber auch von Agnes Heginger, die einige der Gedichte musikalisch umsetzte und damit viele emotionale Momente so interpretierte, dass die Sprache Lavants dabei ein passendes Äquivalent fand. Ob dadaistisch-lautmalerisch an der Grenze der rationalen Nachvollziehbarkeit, oder ihren Gott innig beschwörend ihr doch zu helfen, immer unterlegte Heginger das Wortmaterial Lavants mit Tönen, die wie dazu gewachsen schienen. Sie bibberte, zitterte und schrie dabei mit dem Cello um die Wette, mit dem ihr Maria Frodl tatkräftig zur Seite stand. Der Einfall, neben dem klassischen Streichinstrument auch eine singende Säge einzusetzen, kann als zusätzliche Metapher gesehen werden. In ihr wird klar, dass es lediglich der veränderte Kontext, in dem sie eingesetzt wird, ist, der bestimmt, ob ein Objekt oder auch Subjekt nun als „passend“ oder eben realitätsver-rückt empfunden wird.

Die geglückte Textauswahl beschert dem Publikum ein kurzweiliges emotionales Wechselbad. Man wird Zeuge Lavants‘ Selbsteinlieferung, erschaudert, wenn sie ihre Situation schildert, in der sie von Weinkrämpfen geschüttelt im Badezimmer eingesperrt verbringt, lacht ob des religiösen Wahns einer Mitinsassin und wird Zeuge einer absurden Konsultation durch den gerichtlich eingesetzten Psychiater, „in dessen Glatze sich das Licht spiegelte“. Doch trotz oder vielleicht gerade aufgrund der gekonnt inszenierten Kurzweiligkeit rückt man Stück für Stück an Lavants Sprachgebäude heran und bekommt große Lust, sich näher damit zu befassen.

Ein schöneres Kompliment kann man den Akteurinnen wohl nicht machen!Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis hinter tausend einem Elend und niemals darstellbar …

Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt Christine Lavant

Christine Lavant: Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt (c) Neithan90

Mit diesem Satz begann der Abend „Verrückung“ im Theater in der DrachengasseAgnes Heginger (Komposition, Gesang, Stimme), Maria Frodl (Violoncello, singende Säge) und Martina Spitzer (Rezitation) hatten sich dafür einen posthum veröffentlichten Text von Christine Lavant ausgesucht, in dem ihr tiefes Elend, aber auch völlig groteske Situationen während eines Aufenthaltes in einer Irrenanstalt, thematisiert wurden. Die Literatin, deren Sprache zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zur absoluten Avantgarde gehörte, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte fast in Vergessenheit geraten. Gerade mit diesem Text hat sich das weibliche Triumvirat eine Besonderheit in ihrem Werk vorgenommen, steht er doch abseits von tagespolitischem Geschehen und damit völlig herausgerückt aus der Zeit. Die „Ver-rückung“, die darin beschrieben wird, ist nicht eine, die in Lavant selbst stattfand. In diesem Text wird klar, dass es nicht diese hilfesuchende Frau war, die sich selbst zur Behandlung einliefern ließ, die als verrückt bezeichnet werden kann. „Man kann sich nicht verstecken hier – es gibt zu viele Gegner“ diese Aussage lässt tief in ihre Beweggründe blicken, die als Flucht vor der Realität außerhalb der Anstaltsmauern charakterisiert werden kann. Dass es dort jedoch nur Menschen gab, die den Wahnsinn real in sich trugen und nicht spielen mussten – wie Lavant es zumindest streckenweise tat – darauf war die sensible Frau nicht wirklich eingestellt.

Die Inszenierung lebt gleichberechtigt von der Lesung des Textes durch Martina Spitzer, die es versteht, mit ihrer Stimme aber auch ihrer Mimik zu fesseln. Aber auch von Agnes Heginger, die einige der Gedichte musikalisch umsetzte und damit viele emotionale Momente so interpretierte, dass die Sprache Lavants dabei ein passendes Äquivalent fand. Ob dadaistisch-lautmalerisch an der Grenze der rationalen Nachvollziehbarkeit, oder ihren Gott innig beschwörend ihr doch zu helfen, immer unterlegte Heginger das Wortmaterial Lavants mit Tönen, die wie dazu gewachsen schienen. Sie bibberte, zitterte und schrie dabei mit dem Cello um die Wette, mit dem ihr Maria Frodl tatkräftig zur Seite stand. Der Einfall, neben dem klassischen Streichinstrument auch eine singende Säge einzusetzen, kann als zusätzliche Metapher gesehen werden. In ihr wird klar, dass es lediglich der veränderte Kontext, in dem sie eingesetzt wird, ist, der bestimmt, ob ein Objekt oder auch Subjekt nun als „passend“ oder eben realitätsver-rückt empfunden wird.

Die geglückte Textauswahl beschert dem Publikum ein kurzweiliges emotionales Wechselbad. Man wird Zeuge Lavants‘ Selbsteinlieferung, erschaudert, wenn sie ihre Situation schildert, in der sie von Weinkrämpfen geschüttelt im Badezimmer eingesperrt verbringt, lacht ob des religiösen Wahns einer Mitinsassin und wird Zeuge einer absurden Konsultation durch den gerichtlich eingesetzten Psychiater, „in dessen Glatze sich das Licht spiegelte“. Doch trotz oder vielleicht gerade aufgrund der gekonnt inszenierten Kurzweiligkeit rückt man Stück für Stück an Lavants Sprachgebäude heran und bekommt große Lust, sich näher damit zu befassen.

Ein schöneres Kompliment kann man den Akteurinnen wohl nicht machen!

1001 Bewegung

1001 Bewegung

Tanztheater – was ist das eigentlich? Wann wird Tanz zu einem Ereignis für das Publikum? Welche Rolle spielt die Musik? Was geschieht mit Tänzern, die gemeinsam auf der Bühne agieren? Was ist eine Choreografie? Ist das gesprochene Wort stärker wahrnehmbar als der bewegte Körper? Lassen sich Texte auch mit Tanz in Einklang bringen?

Tanzquartier Wien Hommage an das Zaudern (c) Sebastian Bolesch

Hommage an das Zaudern (c) Sebastian Bolesch

Laurent Chétouane stellte mit seiner Produktion „Hommage an das Zaudern“ im Tanzquartier in Wien all diese Fragen und verlangte dabei vom Publikum die Bereitschaft, sich auf diese Hinterfragung auch einzulassen. Sein „Stück“ ist kein herkömmliches, welches auf einer bestimmten Handlung basiert. Vielmehr konnte man an diesem Abend die einzelnen Bausteine näher betrachten, die ein Tanzstück erst zu einem solchen machen. Als da wären – allen voran – Tänzer. Joris Camelin und Rémy Héritier folgten, so hatte es den Anschein, ganz ihren eigenen Bewegungsmustern, die sie teilten, teilweise aber auch wie Rivalen gegeneinander ausspielten. Sie machten klar, dass es nicht nur die Arbeit am Tanz an sich ist, sondern auch die Darstellung der Persönlichkeit, ja die Behauptung der eigenen Persönlichkeit gegenüber dem anderen, die eines der Rädchen darstellt, mit denen eine Vorstellung erst zu einer solchen wird.

Dann darf nicht vergessen werden – Tanz benötigt – zumindest meist – Musik. Hier unterstützte Jan Burkhardt die beiden Tänzer auf sehr subtile Art und Weise. Er brillierte am Piano nicht mit waghalsigen Stücken, sondern reduzierte die Melodien auf das allernotwendigste Maß. Anschläge, die lange Pausen nach sich zogen und der Stille breiten Raum gaben, machten umso deutlicher, welch starke Kraft von der Musik tatsächlich ausgeht. Ganz deutlich sichtbar wurde die Magie, welche sie auf Tänzer ausübt, denn, egal in welcher Stimmungslage sie sich vor dem Erklingen der Melodien befunden hatten, ob nun in sich gekehrt oder rivalisierend: Mit dem Erklingen der ersten Töne begannen sich beide sofort zu bewegen, zu tanzen, sich dem Rhythmus hinzugeben. Diese schlichte Visualisierung machte schlagartig klar, was es auch heißt, von etwas besessen zu sein. Sich einer Sache beinahe schon ausgeliefert hingeben zu müssen.

Aber auch der Spracheinsatz auf einer Bühne wurde näher betrachtet. Beide Protagonisten hatten jeweils einen kurzen Text vorzutragen. Der Inhalt spielte dabei nicht wirklich eine Rolle. Vielmehr war es der Vortragsstil an sich – einmal statisch und rein narrativ, das andere Mal durch Bewegungen begleitet, der unterschiedliche performative Qualitäten verdeutlichte. „Gewinner“ gab es keinen bei diesem Vergleich.

Interessant war, dass gleich zu Beginn der Vorstellung beide Tänzer sich mit kurzen Sequenzen einer klassischen Choreografie vorstellten, um jeweils nach diesen Sequenzen in sich zusammenzusacken und auf dem Boden liegen zu bleiben. Klassischer Tanz ermüdet und raubt die eigene Persönlichkeit, war die Botschaft, die beim Publikum ankam. Wer dies nicht will, der steigt um auf modernes Tanztheater und bemüht die Fantasie der Zuseherinnen und Zuseher. Ganz ähnlich wie Prinz Gholam, das Künstlerduo Wolfgang Prinz und Michel Gholam, froren auch Camelin und Héritier ihre Postionen ein, zeigen im „Standbild“ was sonst nur im Bruchteil der Zeit als Bewegung wahrgenommen werden kann und machten so klar, dass gerade die choreografische Arbeit im Kleinen, an jeder einzelnen Position, schließlich eine Summe ergibt, in welcher diese Aufbauarbeit eine andere Dimension erhält.

In Chétouanes Choreografie geben die Arme den Bewegungsmodus und die Richtung vor. Ihren zu Beginn zackigen Bewegungen scheinen die Tänzer zu folgen und nicht umgekehrt. Es ist nicht leicht, den Titel der Vorstellung „Hommage an das Zaudern“ als solchen mit dem Geschehen auf der Bühne in Zusammenhang zu bringen – außer, man nimmt all das, was man sieht, als Möglichkeit, als Versuch, sich ein Stück zu erarbeiten; und dazu gehört wohl auch oftmaliges Innehalten, Überlegen, Abwägen, Zaudern. Der Weg ist das Ziel – dieses Konfuzius zugeschriebene Zitat, über dessen Richtigkeit gerne diskutiert wird – würde diese Performance wohl etwas besser charakterisieren. Eingebettet war die Vorstellung in den Zyklus „Scores N° 4: under protest, in welchem 6 verschiedene Produktionen sich in unterschiedlicher Art und Weise mit dem gesellschaftspolitischen Moment von Körper und Bewegung auseinandersetzten.

Laurent Chétouane blieb dabei ganz in dem ihm vertrauten Umfeld der Bühne. Sie ist aber wiederum zugleich nichts anderes als ein Stellvertreter jener Realität, mit der wir tagtächlich konfrontiert sind. Gegenüber dieser hat aber gerade die Bühne den großen Vorteil, dass uns dort Strukturen besser klar werden können, wie an diesem Abend exemplarisch vorgezeigt wurde.Tanztheater – was ist das eigentlich? Wann wird Tanz zu einem Ereignis für das Publikum? Welche Rolle spielt die Musik? Was geschieht mit Tänzern, die gemeinsam auf der Bühne agieren? Was ist eine Choreografie? Ist das gesprochene Wort stärker wahrnehmbar als der bewegte Körper? Lassen sich Texte auch mit Tanz in Einklang bringen?

Tanzquartier Wien Hommage an das Zaudern (c) Sebastian Bolesch

Hommage an das Zaudern (c) Sebastian Bolesch

Laurent Chétouane stellte mit seiner Produktion „Hommage an das Zaudern“ im Tanzquartier in Wien all diese Fragen und verlangte dabei vom Publikum die Bereitschaft, sich auf diese Hinterfragung auch einzulassen. Sein „Stück“ ist kein herkömmliches, welches auf einer bestimmten Handlung basiert. Vielmehr konnte man an diesem Abend die einzelnen Bausteine näher betrachten, die ein Tanzstück erst zu einem solchen machen. Als da wären – allen voran – Tänzer. Joris Camelin und Rémy Héritier folgten, so hatte es den Anschein, ganz ihren eigenen Bewegungsmustern, die sie teilten, teilweise aber auch wie Rivalen gegeneinander ausspielten. Sie machten klar, dass es nicht nur die Arbeit am Tanz an sich ist, sondern auch die Darstellung der Persönlichkeit, ja die Behauptung der eigenen Persönlichkeit gegenüber dem anderen, die eines der Rädchen darstellt, mit denen eine Vorstellung erst zu einer solchen wird.

Dann darf nicht vergessen werden – Tanz benötigt – zumindest meist – Musik. Hier unterstützte Jan Burkhardt die beiden Tänzer auf sehr subtile Art und Weise. Er brillierte am Piano nicht mit waghalsigen Stücken, sondern reduzierte die Melodien auf das allernotwendigste Maß. Anschläge, die lange Pausen nach sich zogen und der Stille breiten Raum gaben, machten umso deutlicher, welch starke Kraft von der Musik tatsächlich ausgeht. Ganz deutlich sichtbar wurde die Magie, welche sie auf Tänzer ausübt, denn, egal in welcher Stimmungslage sie sich vor dem Erklingen der Melodien befunden hatten, ob nun in sich gekehrt oder rivalisierend: Mit dem Erklingen der ersten Töne begannen sich beide sofort zu bewegen, zu tanzen, sich dem Rhythmus hinzugeben. Diese schlichte Visualisierung machte schlagartig klar, was es auch heißt, von etwas besessen zu sein. Sich einer Sache beinahe schon ausgeliefert hingeben zu müssen.

Aber auch der Spracheinsatz auf einer Bühne wurde näher betrachtet. Beide Protagonisten hatten jeweils einen kurzen Text vorzutragen. Der Inhalt spielte dabei nicht wirklich eine Rolle. Vielmehr war es der Vortragsstil an sich – einmal statisch und rein narrativ, das andere Mal durch Bewegungen begleitet, der unterschiedliche performative Qualitäten verdeutlichte. „Gewinner“ gab es keinen bei diesem Vergleich.

Interessant war, dass gleich zu Beginn der Vorstellung beide Tänzer sich mit kurzen Sequenzen einer klassischen Choreografie vorstellten, um jeweils nach diesen Sequenzen in sich zusammenzusacken und auf dem Boden liegen zu bleiben. Klassischer Tanz ermüdet und raubt die eigene Persönlichkeit, war die Botschaft, die beim Publikum ankam. Wer dies nicht will, der steigt um auf modernes Tanztheater und bemüht die Fantasie der Zuseherinnen und Zuseher. Ganz ähnlich wie Prinz Gholam, das Künstlerduo Wolfgang Prinz und Michel Gholam, froren auch Camelin und Héritier ihre Postionen ein, zeigen im „Standbild“ was sonst nur im Bruchteil der Zeit als Bewegung wahrgenommen werden kann und machten so klar, dass gerade die choreografische Arbeit im Kleinen, an jeder einzelnen Position, schließlich eine Summe ergibt, in welcher diese Aufbauarbeit eine andere Dimension erhält.

In Chétouanes Choreografie geben die Arme den Bewegungsmodus und die Richtung vor. Ihren zu Beginn zackigen Bewegungen scheinen die Tänzer zu folgen und nicht umgekehrt. Es ist nicht leicht, den Titel der Vorstellung „Hommage an das Zaudern“ als solchen mit dem Geschehen auf der Bühne in Zusammenhang zu bringen – außer, man nimmt all das, was man sieht, als Möglichkeit, als Versuch, sich ein Stück zu erarbeiten; und dazu gehört wohl auch oftmaliges Innehalten, Überlegen, Abwägen, Zaudern. Der Weg ist das Ziel – dieses Konfuzius zugeschriebene Zitat, über dessen Richtigkeit gerne diskutiert wird – würde diese Performance wohl etwas besser charakterisieren. Eingebettet war die Vorstellung in den Zyklus „Scores N° 4: under protest, in welchem 6 verschiedene Produktionen sich in unterschiedlicher Art und Weise mit dem gesellschaftspolitischen Moment von Körper und Bewegung auseinandersetzten.

Laurent Chétouane blieb dabei ganz in dem ihm vertrauten Umfeld der Bühne. Sie ist aber wiederum zugleich nichts anderes als ein Stellvertreter jener Realität, mit der wir tagtächlich konfrontiert sind. Gegenüber dieser hat aber gerade die Bühne den großen Vorteil, dass uns dort Strukturen besser klar werden können, wie an diesem Abend exemplarisch vorgezeigt wurde.

Der Garten frisst seine Kinder

Der Garten frisst seine Kinder

© Alexi Pelekanos / Schauspielhaus / Thiemo Strutzenberger, Nicola Kirsch

Thiemo Strutzenberger und Nicola Kirsch © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus /

Im Schauspielhaus in Wien hatte am 10. Dezember Anja Hillings neues Stück „Der Garten“ Premiere. Vieles darin war neu – aber einiges auch altbekannt.

Der Inhalt ist rasch erzählt: Antonia, eine Kritikerin, die Artikel über Rockkonzerte schreibt und von einem Tag auf den anderen dieser Arbeit überdrüssig wird, düpiert ihren Freund, ihre Chefin und ihre KollegInnen und schmeißt alles hin, um aus ihrem bisherigen Leben auszusteigen. Als Gärtnerin möchte sie arbeiten und das, obwohl sie selbst nicht einmal Tulpen von Hyazinthen unterscheiden kann. Ihr neuer Arbeitsplatz ist aber nicht irgendein Stück Grün, sondern der Garten Sam Embers, jenes Rockstars, dessen letztes Konzert sie komplett aus ihrer Bahn geworfen hat.

Fast möchte man meinen, die Geschichte sei vor 3 oder 4 Dezennien geschrieben worden. Zu einer Zeit, in der es ein Leichtes war, einen Job zu ergattern und ihn auch flugs wieder aufs Spiel zu setzen. Tatsächlich aber entstand der Text erst in diesem Jahr als Auftragswerk des Schauspielhauses. Gemessen an der aktuellen europäischen Jugendarbeitslosigkeit benimmt sich das Geschehen beinahe schon antiquiert. Denn Hand aufs Herz – es wird momentan nicht sehr viele Frauen geben, die ihren gut bezahlten und sicheren Redakteurinnenjob zugunsten eines erhofften Gärtnerinnenjobs sausen lassen würden. Aber wir sind im Theater – und hier darf schon mal die Realität verschoben werden.

Die anderen Redaktionsmitglieder bemühen sich zumindest noch – auch wenn es ihnen schwer fällt – jene Lebensrollen aufrecht zu erhalten, in die sie sich selbst hineinmanövriert haben. Dabei tragen alle persönliche Bürden mit sich und teilen diese, so oft es nur geht, den anderen auch kräftig mit. Ob schwul oder hypochondrisch veranlagt, ob brustamputiert oder abgeglitten in einen falschen Beruf – jede und jeder von ihnen verspürt die Ungerechtigkeit des Lebens am eigenen Leib, ohne sich dagegen jedoch wirklich aufzulehnen.

Da mutet das Schicksal von Wolfgang und Georg hingegen ein wenig erfreulicher an. Die beiden Polizeibeamten unterbrechen den Handlungsfluss immer wieder, um das Ende des Stückes vorzubereiten. Ein Ende, das – wie könnte es anders sein – kein Happyend darstellt. Antonia stirbt gemeinsam mit Sam im Drogenliebesrausch und die beiden Kommissare sind ausgeschickt, um den Tatort zu sichern. Trotz ihres gruseligen Handwerks haben sie sich, obwohl im Privatleben nicht gerade verwöhnt, zumindest noch einen Hauch von Lebensfreude erhalten. Und – was mehr zählt – erscheinen wesentlich geerdeter als ihre „Gegenspieler“ in der Redaktion. Mit einem Seitenhieb auf die asiatische Lifestyle-Welle mimt einer von ihnen einen Bären – ganz im Stile der Bewegungsmuster aus dem Qigong – und erheitert dabei nicht nur seinen Kollegen, sondern auch das Publikum. Zumindest in diesem Moment ist Hilling mit dem Plot ganz im Hier und Jetzt angekommen.

Bis es aber soweit ist, wird das Publikum Zeuge einer feuchtfröhlichen Party, eines Rockkonzertausschnittes sowie einer gespenstischen Spurensuche im noch dunklen Garten, in dem die beiden Polizisten schließlich die Leichname jener Menschen bergen, die alles gewagt und dabei alles verloren haben.
Es ist aber nicht die Handlung, die wirklich beeindruckt, sondern vielmehr die sprachliche Leistung der Autorin. So erhält der Garten selbst bei ihr nicht nur eine, sondern gleich mehrere Stimmen. Diese beschreiben die einzelnen Figuren ausführlicher oder nähere Umstände und kommen beinahe sommernachtstraumgleich von beseelten Blumen, die so klingende Namen wie Beauty of Livemere oder Darjeeling Red tragen. Wer sich allerdings kein Programmheft geleistet hat, bleibt von dieser Information ausgeschlossen, denn auf der Bühne ist nicht zu erkennen, dass Anja Hilling diese Textpassagen floralen Zungen zugeschrieben hat. Vielmehr sind es die Schauspielerinnen und Schauspieler, die abwechselnd unerkannt in diese Rollen schlüpfen, was zwar dem Verständnis des Textes keinen Abbruch tut, die zusätzlich eingezogene Gedankenebene von Hilling jedoch leider ganz missachtet. Gerade in diesen Passagen möchte man gerne den Text vor sich auf den Knien liegen haben, um mitzulesen. Man hat große Lust, in diese ganz besondere Sprachpoesie noch tiefer eintauchen und nur ja nichts zu verpassen und sich daran zu delektieren. Schlingpflanzengleich bemühen sich die Worte in ihren Sätzen neben dem Verstand vor allem jene Gehirnregionen zu kitzeln, die für die Schönheit einer bestimmten Sprachmelodie verantwortlich sind. Und sie kitzeln so, dass man danach so süchtig werden könnte. Es sind Sätze wie: „Sie haben Angst vor der eigenen Persönlichkeit, die zu fett ist für das Loch der Erlösung“ oder „Sie wird nicht eher sterben, bevor die Seele in einen Hauptsatz passt“, in denen die Autorin zeigt, wie groß ihre Meisterschaft in der Erfindung neuer sprachlicher Qualitäten ist.

Darüber hinaus geizt Hilling nicht mit dramaturgischen Kunstgriffen: Das Ende der Geschichte gleich zu Beginn aufzuzeigen, ohne dass man sich dessen bewusst wird, ist einer davon. Die schon angesprochene parallele Handlung der Polizisten, die auch wiederum dem Geschehen weit vorausgreift, der nächste. Hätte die Regie unter Felicitas Brucker die Blumensprache auch optisch stärker hervorgehoben, man könnte beinahe meinen, die Autorin würde damit eine kleine Verbeugung vor William Shakespeare machen, in dessen Komödien sich Fauna und Flora gerne neben dem schwachen Menschengeschlecht ein fröhliches Stelldichein geben. So aber geschieht das Blühen und Wachsen der Blumen ausschließlich durch flüssige Neonfarben, die im letzten Teil des Stückes nach und nach auf gläserene Paravents aufgespritzt werden. Solcherart künstlich hervorgerufen, wächst hier Rotes neben Gelbem, Blauem und Grünem, wie von der Natur auf den Kopf gestellt, von oben nach unten. Und es wird klar: Diese Blumen sind giftig und nur mehr dazu geeignet, eine postromantische Idee von der Natur hochzuhalten.

So blumig dies nun auch alles klingen mag, so kann nicht übersehen werden, dass Anja Hillinger vor allem eines am Herzen liegt: Die Beschreibung einer Gesellschaft, der es aufgrund ihres Existentialismus, an dem sie unbewusst schwer trägt, unmöglich geworden ist, dem Leben noch Freude und Sinn abzugewinnen. Interessant, dass offenbar jede neue Generation sich an diesem – fast hat es den Anschein – übermächtigen philosophischem Gedankengebäude neu abarbeiten muss.

Nicola Kirsch als Antonia und Thiemo Strutzenberger als Sam Embers bestimmen zwar über weite Strecken bravourös das Bühnengeschehen. Max Mayer als ewiger Dissertant und Antonias Freund, Katja Jung als ihre Chefin, Veronika Glatzner als ihre Freundin sowie Vincent Glander und Steffen Höld, die in den Doppelrollen von Kollegen und Polizeibeamten brillieren dürfen, zeigen aber, dass es niemandem im Ensemble gibt, der den anderen nicht gleichwertig gegenüberstehen würde.

Man sagt, dass die Revolution ihre Kinder frisst – bei Hilling bedarf es hierzu nur der Natur.

Der Tod gebiert Schmerzensmütter und Schmerzensväter

Der Tod gebiert Schmerzensmütter und Schmerzensväter

Mater Dolorosa - Foto: Nick Mangafas

Es gibt Theatervorstellungen, die erfordern Mut. Mut von den Produzenten und Veranstaltern aber auch Mut vom Publikum.
Mater dolorosa, derzeit noch im Theater Nestroyhof-Hamakom zu sehen, ist eine solche Vorstellung. Sie verspricht, wie der Titel schon sagt, keine leichte Kost. Daraus resultierend ist abzusehen, dass das Publikum nicht unbedingt Schlange an der Kasse stehen wird, denn wer begibt sich jetzt in der Vorweihnachtszeit gerne auf die Spuren von Schmerz und Leid? Und dennoch war die Premiere ausverkauft und dennoch ist das, was gezeigt wird trotz der Schwere der Thematik sehenswert, in keinem Augenblick tränendrüsenherausfordernd und dennoch emotional packend.

Das „progetto semiserio“ unter der Gesamtleitung von Georg Steker macht, wie es auf seiner Internetseite verkündet, neues Musiktheater. Aber mit diesem Terminus ist das Geschehen dieser Produktion bei Weitem noch nicht in seiner Gänze umrissen. Denn neben zeitgenössischer Ensemblemusik, neben der wunderbaren Stimme von Christina Kummer, die im Opernfach ausgebildet wurde, neben theatralischen Szenen, wird auch dem zeitgenössischen Tanz breiter Raum gewidmet. In kurzen, hintereinander aufgereihten Sequenzen, die jede für sich Bestand hat, breitet sich ein Kaleidoskop von jenem introspektivem Geschehen aus, über das man nicht spricht, weil man meint, dass es einen selbst nie betreffen würde. Weil man glaubt, dass der Tod eines Kindes eine Randerscheinung darstellt, die nur wenige Menschen heimsucht. Dass man dabei Millionen von Menschen aus den unterentwickelten Ländern ausblendet und Millionen von Menschen,die ihre „Kinder“ – egal in welchem Alter – im Krieg verlieren, nicht bedenkt, wird einem im Laufe dieses Theaterabends klar.
Hier schafft die Produktion das Kunststück, vom Einzelschicksal den großen Bogen hin zu den internationalen Kriegsschauplätzen zu spannen und letztendlich das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass auch in unserem Kulturkreis viele Menschen durch die Hölle dieses persönlichen Abschieds gehen mussten. Als Verbindungsglied agiert Melitta Jurisic, die in großartiger Weise jenen trauernden Frauen ein Gesicht gibt, die ihre Söhne im Jugoslawienkrieg verloren haben. Mit ihrem bosnischen Lamento, einer Überlieferung aus dem 14. Jahrhundert, macht sie klar, dass das Abschiednehmen über alle Zeiten hinweg emotional gleich schwer empfunden wurde und wird und dass es keinen Unterschied macht, welches Unglück dafür verantwortlich zeichnet. Schmerz bleibt immer individuell und ist doch kollektiv.

Mater dolorosa, die „Schmerzensmutter“, die in der christlichen Ikonographie seit Jahrhunderten tradiert wird, wird in der Regie von Radovan Grahovac klugerweise nicht nur auf das Leid von Frauen reduziert. Bert Gstettner schlüpft in mehrere Rollen und visualisiert tanzend sowohl den sterbenden und Abschied nehmenden Säugling als auch den Soldaten, der von Kugeln durchsiebt wird. Aber er verkörpert auch jene Männer, die vom Tod ihrer Kinder betroffen sind. In einer eindrucksvollen Passage verschwindet er vom Esstisch, an dem er seiner Frau schweigend, in Trauer wortlos geworden gegenübersaß, und trägt die schwere Tischplatte symbolisch als Lebensbürde mit sich davon. Doch Trauer und Schmerz sind Emotionen, die einem Wandel unterliegen. Sie überfluten und erdrücken einen, aber sie lösen sich auch wieder und hinterlassen ein verändertes Sein. Und so geht auch er durch diesen unbeschreiblichen Prozess, der nur dann eine lebensbejahende Wandlung erfahren kann, wenn er zugelassen wird.

Mit Rainer Maria Rilkes Gedicht „Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht“ wird eine zusätzliche Ebene der Schmerzbewältigung eingezogen, die versucht, dem Abschied eine Erklärung und einen Sinn zu geben, den Tod als Erlösung und Befreiung zu interpretieren, wenn man ihn akzeptieren kann. Die Musik von Jörg Ulrich Krah unterstützt völlig adäquat die Dramaturgie. Sie brüllt dort, wo es nicht anders möglich ist, wird leise, wo die Introspektion der ProtagonistInnen es verlangt und schafft mit verhaltener Farbigkeit süd-ost-europäische Landschaften, ohne je ins Folkloristische abzugleiten. Krahs Partitur bleibt gerade in der Singstimmenbehandlung sehr abstrakt, was aber Kummers Interpretation eine Art Leichtigkeit und beinahe kristallene Transparenz beschert. Hier werden keine Gedankenautobahnen gelegt, sondern ganz im Gegenteil Freiräume geschaffen, die jeder individuell füllen kann.

Die ständige Präsenz von Kindern auf der Bühne stiftet einen Ausgleich zu jener Absenz, über die an diesem Abend verhandelt wird. Sie zeigt gleichzeitig, dass das Leben weiter geht und fungiert nicht nur als visualisierte Erinnerung, sondern viel mehr noch als Hoffnung, die in eine Zukunft weist, in der der Schmerz überwunden werden kann.

Ein bemerkenswerter Abend, an dem das Publikum die Möglichkeit hat mit einer großen Portion Erkenntniszuwachs nach Hause zu gehen.

Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin

Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Interview mit dem österreichischen Komponisten Gerald Resch anlässlich des Festivals Wien Modern 2011.

Wie ist das für Sie, wenn Sie ein Werk von sich bei der Uraufführung das erste Mal hören?

Meine Vorstellung ist doch ziemlich genau, daher ist es nicht sehr überraschend; ich weiß ja, was ich geschrieben habe. Bei manchen Sachen, die ich mir anders vorgestellt habe – da geht es vor allem um Balance – wenn ich zum Beispiel höre, was die Hörner spielen, weiß ich, dass ich anstelle von Mezzopiano doch besser Mezzoforte notieren hätte sollen. Das sehe ich dann als meinen Fehler an, den man aber leicht ausbessern kann.

Kann man diese Ausbesserungsarbeiten mit jenen am Theater vergleichen, bei welchen man ja auch noch bemüht ist auf die Reaktionen des Publikums einzugehen?

Nein, eigentlich nicht, denn ich arbeite ja nicht auf die Reaktionen des Publikums hin, sondern in Bezug auf meine eigene Vorstellung. Was ich aber schon mache, ist der Versuch, mit dem, was ich schreibe, spannend zu bleiben. In gewisser Weise bin ich mein erster Hörer. Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich mir dann auch sagen, wenn mir jetzt fad ist, ist dem Publikum vielleicht auch schon fad. Aber vielleicht stimmt das auch nicht, denn Komponisten tendieren immer dazu, zu schnelle Tempi zu wählen. Man sitzt ja wochenlang über einer bestimmten Stelle, die man dann ja irgendwann genau kennt und dann denkt man sich „weiter, weiter, weiter“. Für jemanden, der das aber zum ersten Mal hört, ist es vielleicht zu rasch, wenn man mit ungewohnten Inhalten konfrontiert wird.

Eines Ihrer Hauptcharakteristika ist für mich das Überraschungsmoment, das so gut wie in jedem Ihrer Stücke vorkommt.

Es gibt viel zeitgenössische Musik, die sehr diskontinuierlich ist, in der sehr viele Brüche aufeinanderfolgen, sehr starke Kontraste in sehr kurzer Zeit eingesetzt werden. Das ist in meiner Musik nicht so. Bei mir geht es fast immer um recht logische, deutliche Prozesse die sich entwickeln. Wie das z.B. in meinem Violinkonzert Schlieren der Fall ist. Die Geige beginnt alleine, dann kommen die Schlagzeuger dazu, dann die Solobratsche und der Orchesterapparat schwingt sich wirklich erst peu à peu ein – bis er irgendwann stärker ist als der Solist, der dann fast in diesem Orchester-Klangbad ertrinkt. Aber das braucht alles seine Zeit, eine gewisse Trägheit, eben einen gewissen zeitlichen Verlauf. Diese Neigung zur Kontinuität ist für mich schon ein sehr großer Unterschied zu Komponisten wie dem frühen Wolfgang Rihm zum Beispiel, bei dem oft sehr stark kontrastierende Elemente unmittelbar aufeinanderfolgen.

Ist das ein Generationenunterschied, eine Anti-Haltung die bedeutet, ich gehe das anders an?

Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Die Persönlichkeiten sind einfach unterschiedlich gestrickt. Mir erscheint es interessanter, die Hörer in gewisser Weise an der Hand zu nehmen und in die Musik hineinzuziehen als Unterschiedliches einigermaßen wirr vorzuzeigen.

Sie erzählen mit ihrer Musik eigentlich gerne, oder?

Ja, ich vermute schon. Mir kommt auch vor, dass in den letzten Jahren das dramaturgische Denken wichtiger wird. Am Beginn einer Komposition habe ich meist eine Menge loser Ideen und denke mir dabei auch, dass ich als Schluss dieses oder jenes einsetzen könnte, aber ich weiß noch nicht genau, wohin es mich im Verlauf der Komposition tragen wird. Die Möglichkeiten konkretisieren sich im Laufe der Arbeit und dann bin ich plötzlich an einer Stelle, an der sich das Stück soweit klar entwickelt hat, dass ich es als spannend empfinde, genau jetzt einen Bruch einzuführen. Also ist dieses Überraschungsmoment von dem Sie sprechen, das es so gut wie in jedem Stück gibt, doch mit ziemlichem Bedacht eingesetzt. Das ist so wie bei einer Pointe, bei der müssen Sie sich gut überlegen, wo Sie sie setzen. Im Englischen heißt Pointe ja timing, was es genau trifft.

Sie haben in den letzten 10 Jahren kontinuierlich 1-3 Kompositionsaufträge pro Jahr erhalten. Komponieren Sie eigentlich immer und sagen Sie dann „das kann ich jetzt für diesen Auftrag verwenden“ oder läuft das bei Ihnen anders ab?

Nein, eigentlich ist es so, dass ich die Einschränkungen, die mit einem Auftrag oft verbunden sind, gerne habe. Das ist eine Charakterfrage. Es gibt den berühmten Roman von Georges Perec „La disparition“ in dem er alle Buchstaben verwendet, bis auf den einen, der im Französischen am Häufigsten vorkommt, nämlich das E. Dieser Roman ohne E ist eine Unglaublichkeit. Ein Roman von 300 Seiten der ohne diesen Buchstaben auskommt. Versuchen Sie nur einen Satz zu formulieren ohne E! Sie werden automatisch auf völlig andere Dinge kommen, die Sie ausdrücken, wie wenn Sie ohne Einschränkung sagen könnten, was immer Sie wollen. Dieser Georges Perec bzw. das Oulipo, wie diese französische Richtung aus den 70er Jahren genannt wird, also ouvroir de litterature potentielle, hat mich immer sehr begeistert. Also dieses „was mache ich aus einer Einschränkung“. Bei mir beginnen sofort die Augen zu glühen und das Hirn zu rattern, wenn ich weiß, ich hab eine inspirierende Einschränkung. Bei Cantus firmus, dem Stück, das ich vergangenes Jahr für das Festspielhaus St. Pölten geschrieben habe, wusste ich, dass bei der Aufführung danach die 2. Symphonie von Mendelssohn, Lobgesang, aufgeführt werden würde. Ein großes Stück für Chor und Orchester und Texten aus der Heiligen Schrift, eine richtig affirmative Gotteslobmusik. Und ich sollte das Stück für die erste Konzerthälfte schreiben. Das war eigentlich eine unglaubliche Bürde, etwas zu finden, was von dem Mendelssohn nicht erdrückt wird, ihn auf eine sinnvolle Art und Weise kommentiert und trotzdem meine Musik ist. So etwas mag ich sehr und finde ich hochspannend. Deswegen habe ich mich über diesen Auftrag auch sehr gefreut.

War es für Sie immer schon klar, dass Sie mit der Musik etwas zu tun haben werden oder hätten Sie genauso gut in andere Künste abgleiten können?

Ich selber hatte als Jugendlicher den Eindruck ich könnte alles Mögliche werden, aber meine damaligen Lehrer meinen rückblickend, dass es für sie klar gewesen sei, dass ich Musiker werden würde. Ich hatte damals wohl eine sehr verklärende Selbstsicht.

Sind Sie diesbezüglich erblich vorbelastet?

Nicht wirklich. Meine Eltern sind beide Lehrer, mein Großvater war ein tschechischer Kellner und da gehörte es natürlich auch dazu, dass man Geige spielte, damit die Leute im Gasthaus mehr Schnaps tranken. Wobei schon irgendein Gen ausgebrochen sein dürfte, das ein paar Generationen übersprungen hat, da mein Bruder auch Musiker ist und an einem Gymnasium Musik unterrichtet.

Gibt es für Sie Parallelen in anderen Künsten, wie der bildenden Kunst, der Literatur, im Theater die das widerspiegeln, was Sie in Ihren Kompositionen machen?

Ich empfinde persönlich in der bildenden Kunst speziell der letzten 30 Jahre eine ganz starke Zweigleisigkeit. Einerseits das Aufbrechen in die Intermedialität, reziprok dazu aber das Festhalten am Tafelbild. Bei Künstlern wie Gerhard Richter zum Beispiel, der sowohl konkret als auch abstrakt arbeitet, ist diese ganze Bandbreite vorhanden und das ist mir vielleicht ein wenig verwandt. Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin, dass ich gerne diesen viereckigen Rahmen habe, der bei mir in erster Linie instrumentale Konstellationen bedeutet und dass ich aber innerhalb dieses Rahmens auch zwischen konkret und abstrakt wechseln kann. Das mach ich dann situationsbedingt. Manchmal ist es wichtig, sehr konkret zu sein, manchmal ist es viel spannender, zu abstrahieren. Ich habe vor einigen Tagen mit einer befreundeten Komponistin, Leah Muir, gesprochen. Ihr Freund beschäftigt sich mit Gehirnforschung und wir unterhielten uns darüber, dass ein Gehirn bei Kippbildern, wenn das Gehirn permanent überlegen muss „ist das jetzt nur ein Muster, oder sehe ich da eine konkrete Form drinnen?“ wohl am alleraktivsten ist. Viel aktiver, als wenn Sie einfach nur konkret Figuren sehen und auch viel aktiver als würden Sie erkennen, dass das eine abstrakte Figuration ist. Genau dieser Zwischenbereich, in dem man nicht weiß, ob das schon konkret ist oder nicht, ist auch so etwas wie eine ästhetische Erfahrung.
Bei meinem Stück Grounds beispielsweise gehe ich von einer Gambenfantasie von Henry Purcell aus, die 1680 komponiert wurde. In diesem Stück leite ich das ganze musikalische Material aus einem Cantus firmus ab, der der Purcell-Fantasie zugrunde liegt. Das ist ein kompliziertes Verfahren, in welchem ich mit genetischen Generationen arbeite, sodass beispielsweise die Akkorde, die ich verwende, in irgendeiner entfernten Art und Weise auch aus dieser Purcell-Grundlage herauskommen. Die Dramaturgie dieses Stückes, das 5 Sätze hat, ist die, dass ich sozusagen mit einem normalen Resch-Stück beginne und immer mehr in die Purcell-Region gehe, bis ich dann im 4. Satz diese originale Fantasie von Purcell tatsächlich zitiere und mich schließlich im 5. Satz davon wieder in meine eigene Musik hinein entferne. Das bedeutet ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, bei der auch etwas von der Abstraktion ins Konkrete übergeht und sich dann auch wieder ins Abstrakte zurückzieht.

Haben Sie je auch mit Elektronik in Ihren Stücken eingesetzt?

Ich habe ja Komposition einerseits und Musikwissenschaft andererseits studiert und hatte dann den Eindruck, dass mir etwas ziemlich Essentielles fehlt. Etwas Spontaneres, Unakademischeres, was ich in einem Lehrgang für Elektroakustik nachholen wollte. Ich begann das zu studieren, konnte dies aber nur ein Jahr lang tun. Dann kam meine Tochter auf die Welt und damit war klar, dass ich Geld verdienen musste. Bis heute habe ich großes Interesse an der Elektroakustik, aber ich fühle mich darin als Dilettant. Ich glaube, dass da ganz maßgebliche Dinge passieren, die ich auch versuche zu erleben, aber ich weiß noch nicht, ob ich das selbst jemals lernen und für mein eigenes Komponieren verwenden werde.

Feiert bei Ihnen die Postmoderne fröhliche Urstände, weil Sie einen historischen Klangapparat bemühen?

Darin bin ich noch nicht postmodern. Das machen viele andere Kollegen ja auch. Das Orchester ist einfach auch ein Apparat, der in seiner Standardkonfiguration gewissermaßen ein Maximum an Möglichkeiten birgt. Ich nenne da nur das Stück von Clemens Gadenstätter „Fluchten/Agorasonie, das auch für Standardorchester geschrieben ist, mit Integration ganz weniger Zusatzinstrumente. Aber im Grunde ist das ein Orchesterstück für dreifaches Holz und Blech, weil man da einfach so gut wie alles machen kann. Ich glaube nicht, dass die Verwendung eines Orchesters in seiner Standardaufstellung, wie bei einer Tschaikowsky-Symphonie, bereits so etwas ist wie „Sich-verbunden-fühlen“ mit einer Tradition. Trotz seiner langen Geschichte bietet dieser „Apparat“ – das Orchester – einfach ein Füllhorn an akustischen Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, Sie lassen alle Geigen auf dem tiefsten Ton spielen und alle Celli auf dem allerhöchsten. So etwas werden Sie in einem Orchester noch nie gehört haben. Das ist nur ein ganz banales Beispiel. Es gibt einfach Millionen von Möglichkeiten. Insofern sehe ich persönlich auch keine Notwendigkeit, ein Orchester durch Verwendung einer Tonbandschicht zu sprengen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man das, was in der Tonbandspur geschieht, auch einfach ins Orchester hineininstrumentiert.

Man hat gerade während des Festivals Wien Modern die Möglichkeit, viele zeitgenössische Positionen hintereinander zu hören. Inwieweit bildet das für Sie eine Beeinflussung?

Das ist schon sehr wichtig. Ich finde es am Beruf des Komponisten auch sehr schön, dass man über die Kollegen gut Bescheid weiß. Komponist sein ist ja etwas recht Ungewöhnliches, es gibt in Österreich nur ein paar Hundert davon und irgendwann kennt man die ja auch. Jetzt hatte ich die Freude, Kollegen aus England kennenzulernen, wie Emily Howard, mit der ich mich auch ein bisschen befreundet habe und es ist einfach spannend, Werkstattgespräche zu führen. Zu fragen „wie machst Du das?“ oder „wie ist die Situation der Ensembles in Deinem Land?“ oder was auch immer.

Sind Sie selbst einem Ensemble besonders verbunden?

Von Studentenzeiten her dem Ensemble „Phace“, das meine Stücke aufgeführt hat und mich begleitete. Ansonsten mit dem Ensemble Kontrapunkte, bei dem ich mich freue, dass sich sein Dirigent Peter Keuschnig seit vielen Jahren für meine Kompositionen interessiert. Das ist besonders schön, weil sich in einer kontinuierlichen Zusammenarbeit viel reifere Früchte ernten lassen. Dann hatte ich dieses Jahr Premiere, da mich der erste große Klangforum-Auftrag ereilt hat. Das Klangforum ist ja ein absolutes Spitzenensemble für zeitgenössische Musik. Das Stück, das ich da geschrieben habe, war aufgrund der räumlichen Gegebenheiten ohne Dirigent zu realisieren. Es war für das Foyer des Konzerthauses komponiert worden und das hätte für Ensembles, die weniger eingespielt sind, schon große Schwierigkeiten mit sich bringen können. Es war toll zu sehen, wie das Klangforum damit überhaupt kein Problem hatte. Mir fiel auch bei den Proben ein Stein von Herzen, als absehbar war, dass die Akustik funktionierte, was ja bei diesem großen Raum nicht sicher war.

Wie lange brauchen Sie im Durchschnitt für eine Komposition?

Ich schreibe im Durchschnitt 2-3 Stücke im Jahr. Es ist immer die Frage, ab wann ich zu rechnen beginne. Bei jeder Komposition gibt es ziemlich umfangreiche Vorarbeiten: Materialsammlungen, Referenzstücke kennenlernen und analysieren, Klangverläufe ausprobieren usw. Bei Collection Serti, dem Stück für das Klangforum wusste ich 2009, dass ich einen Auftrag bekommen würde. Ds begann ich einmal ganz vage Ideen zu sammeln. Im Laufe des Jahres 2010 ist Sven Hartberger (Anm: jetziger Intendant des Klangforums) mit dem Oskar Serti-Projekt an mich herangetreten. Seine Frage war, ob ich mir vorstellen könnte, für die sehr spezifische Situation im Foyer, eben räumlich verteilt, ohne Dirigent, das „Erste Bank“ Preisstück zu widmen. Und so habe ich ein Stück für einen speziellen Anlass und für einen speziellen Raum komponiert. Man wagt schon etwas Besonderes, wenn man sich für ein halbes Jahr hinsetzt, um eine Viertel Stunde Musik zu schreiben, die dann auch für eine ganz bestimmte Idealsituation maßgeschneidert sein soll.

Lothar Knessl sagte in seiner Eröffnungsrede dieses Jahr bei Wien Modern, dass Komponisten komponieren müssten, egal, ob sie dafür etwas bekämen oder nicht. Stimmen Sie dem zu?

Im Prinzip schon. Aber es ist die große Frage, von welchem Standpunkt man das sieht. Natürlich will man als Komponist in erster Linie Stücke schreiben, und mitunter schreibt man auch gern etwas für diesen oder jenen Freund – ohne Geld. Aber diese grundsätzliche Bereitschaft nehmen Veranstalter auch ganz gerne als Vorwand, sich aus der Pflicht zu stehlen, die Entstehung einer neuen Komposition mitzufinanzieren. Ein Veranstalter käme zwar niemals auf die Idee einen Musiker zu engagieren, ohne etwas zu bezahlen. Bei Komponisten ist das aber etwas anderes. Da geht man mitunter leider davon aus, dass es eine Ehre sei, ein Stück erstmals z.B. im Musikverein zu Gehör bringen zu dürfen und man als Komponist doch dafür dankbar sein müsse. Dieser Meinung bin ich aber definitiv nicht. Das sehe ich auch als Verpflichtung meiner Berufsgruppe gegenüber. Wenn jeder Komponist sagen würde, „gerne, ich schreibe etwas gratis wegen der Ehre“, dann hätten wir ein unglaubliches Preisdumping und die Szene würde ausgehungert und innerhalb kurzer Zeit könnte dann niemand mehr in irgendeiner Art und Weise vom und für das Komponieren leben.

Empfinden Sie, dass es in Österreich eine Ballung an Musikinteresse gibt, welches sich außerhalb des Landes, speziell außerhalb Europas sehr schnell verdünnt?

Ich kann sagen, dass ich in Österreich mittlerweile zu jenen Komponisten gehöre, die sehr gut wahrgenommen werden, aber außerhalb von Österreich so gut wie gar nicht. Ich habe während des Festivals Wien Modern mit einem Kölner Journalisten gesprochen, der mir sagte, dass die dortige Szene viel stärker auf Stockhausen und andere regionale Künstler konzentriert ist, als hier bei uns. Und dass eine breite Internationalität, wie sie heuer Wien Modern gezeigt hat, oder auch das Klangforum vertritt, dort gar nicht möglich sei.

Wenn man sich nun aber die Kunstlandschaft ansieht, so ist es doch speziell die Musik, die derart „national“ unter sich bleibt. „National“ nicht im Sinne von Gesinnung, sondern nur im Sinne von räumlichem Zusammenleben und Arbeiten in einer bestimmten Nation. Die bildende Kunst hingegen überspringt die Grenzen doch viel schneller.

Ich denke, das liegt daran, dass bildende Kunst immer auch einen Marktwert hat. Sie können heute das Bild eines aufstrebenden chinesischen Künstlers kaufen. Wenn Sie ein gutes Gespür haben, ist dieses Bild in 10 Jahren das 5-fache wert. Das ist bei Musik nicht der Fall. Das ist einerseits ein Dilemma. Andererseits ist es aber etwas unglaublich Poetisches zu sagen, dass Musik eigentlich ja nichts wert ist. Wenn Sie sich heute eine Partitur von mir kaufen ist die gar nichts wert, sie klingt ja nicht. Selbst in dem Augenblick, in dem sie klingt, ist sie noch immer nichts wert, weil sie ja einfach nur Luft ist, die sich bewegt und Ihr Ohr erreicht. Sie können sich das nicht an die Wand hängen oder sich damit schmücken, dass Sie reich sind, weil Sie meine Partitur besitzen. Sie sind es nicht.

Sie befinden sich damit ja komplett außerhalb des kapitalistischen Wertesystems.

So empfinde ich das tatsächlich.

Macht Ihnen das Freude oder tut Ihnen das leid?

Ich sehe es als einen legitimen, anderen Blick auf dieses Dilemma. Man jammert im Allgemeinen darüber, dass es für die zeitgenössische Musik so wenig Publikum gäbe, dass man sich in einer Nische befände. Man fragt sich nach der gesellschaftlichen Relevanz des eigenen kompositorischen Tuns. Ich denke aber, dass es auf der anderen Seite auch ein großer Freiraum ist zu sagen, dass es – gerade weil die zeitgenössische Musik außerhalb des kapitalistischen Wertesystems steht – ja doch ein Publikum gibt. Bei Oskart Serti waren an zwei Abenden jeweils 600 Leute, die als eine große Gemeinschaft inmitten „meiner“ Musiker teilweise mit geschlossenen Augen standen und dieses Stück intensiv erlebten. Das ist ja nicht Nichts!

Ist es nicht so, dass sich die Demokratie an ihren Minderheiten beweist? Und nur dann, wenn Minderheiten frei das ausleben können, was sie möchten, leben wir in einem freien demokratischen Land? Der andere Gesichtspunkt ist, dass sich eine Gesellschaft – egal ob Demokratie oder nicht – ja vor allem auch durch ihren Rand definiert. Wenn man nun das Zentrum als Ballung von Menschen sieht, dann hat man natürlich nach außen hin diese Ausdünnung zu den Minderheiten. Man fragt sich immer was bringt das, was kostet das, wer hat was davon, dieser viele Aufwand für die wenigen Leute! Aber es fragt sich eigentlich niemand: Was würden alle diese Menschen machen, denen das gefällt, die gerade dafür ein Auge, ein Ohr, ein Sensorium haben, wenn wir diese Projekte nicht am Leben erhalten würden.

Oder wollten wir in einer Gesellschaft leben, die so etwas nicht mehr ermöglicht? Ich würde mich unweigerlich fragen, ob Wien dann noch die Stadt wäre, in der ich gerne und freiwillig lebe. Ich bin auch davon überzeugt, dass der Umgang mit den Interessen von Minderheiten ein unmittelbarer Indikator für die Reife und die Toleranz einer Gesellschaft ist.

Minderheit bedeutet in Ihrem Fall ja auch Verteidigung der zeitgenössischen Kunstpositionen.

Ja, obwohl das jetzt doch ein bisschen zu kämpferisch klingt. Es gibt auch viel sichtbarere Minderheiten, zum Beispiel die Minderheit der Bettler. Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass vor jedem Billa jemand steht, der eine Zeitung verkaufen möchte? Schafft es eine Gesellschaft zu akzeptieren, dass es diese Menschen auch gibt, oder dreht man sich empört weg und findet das unmöglich, weil es diese Menschen früher nicht so sichtbar gab? Das ist tatsächlich eine Frage von Reife. Ich erinnere an dieser Stelle nur daran, dass im Islam der Bettler eine Bereicherung für die Gesellschaft ist, weil er Ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt, Gutes zu tun.

Weil Sie es selbst angesprochen haben: Könnten Sie auch in einer anderen Stadt als Wien leben?

Ich kenne durch mein Studium natürlich einige europäische Städte, aber ich glaube, dass gerade für meinen eigenen musikalischen Ton Wien die richtige Stadt für mich ist. Ich habe gestern bei einem Konzert von Francis Burt und Friedrich Cerha eine ganz schöne Formulierung gefunden. Burt sprach in dem Programmheft von dem „latenten espressivo“ dass es in Wien gäbe, was ihn auch in den 50er Jahren dazu gebracht hätte, bewusst von London nach Wien zu ziehen. Diese Einschätzung teile ich. Dieses „latente espressivo“ als Hintergrundrauschen dieser Stadt ist etwas, womit ich gut kann.

Beziehen Sie sich damit auf die Gruppe jener Menschen, die Musik machen bzw. sich in diesem Umfeld bewegen?

Nicht unbedingt. Zweifelsohne ist die musikalische Infrastruktur in Wien eine hervorragende im Vergleich zu vielen anderen Städten dieser Größe. Aber ich mag vor allem auch die Art, in der in Wien im Alltag Dinge möglich sind. Es ist dem Straßenbahnfahrer streng untersagt, dass er Ihnen mit einem Kinderwagen in die Straßenbahn hilft und er tut es aber trotzdem. Es ist dieses slawische Temperament, das Wien so bereichert. Dieses „es geht doch irgendwie“. Ich bin ja auch ein Zugereister, nicht hier geboren, obwohl ich schon seit 20 Jahren in Wien lebe. Ich lebe sehr gerne in der Brigittenau. Schätze es immer, wenn ich über den Fluss, den Donaukanal muss. Ich mag das sehr, dass man da etwas hinter sich lässt, die Seite wechselt und wie auf einer kleinen Insel lebt.

Jede Stadt hat ja auch ihr eigenes Tempo. Schlägt sich das bei Ihnen auch beim Komponieren nieder?

Das Komponieren ist per se eine unfassbar langsame Tätigkeit. Um hier die Relationen deutlich zu machen: Um 15 Minuten Musik zu schreiben, brauche ich zumindest 400 Stunden. Das ist eine unglaublich luxuriöse Situation. Total unökonomisch. Aber Sie brauchen auch lang um im besten Fall etwas zu machen, was dann auch wirklich schön ist. Man hat auch nicht weniger lang an Heiligenstatuen geschnitzt oder an einem Wasserspeier, der vom Stephansdom herunter guckt. Das ist alles Überfluss an Zeit und Lebensenergie, die da hineingesteckt wurde. Für einen Menschen, der komponiert, dehnt sich die Zeit extrem. Die 15 Minuten Stückdauer werden gedehnt auf 400 Stunden Arbeit. Eine Stadt wie Wien, die sicherlich ein langsameres Tempo hat als z.B. London, wo ich in den letzten Jahren regelmäßig war, ist so einer langsamen Tätigkeit wie dem Komponieren möglicherweise tatsächlich förderlich. In Wien kann ich 4 Stunden am Vormittag sitzen und komponieren und habe das Gefühl, währenddessen nichts Wesentliches versäumt zu haben. Auf diese Weise kommt man kompositorisch gut voran.

Haben Sie mittelfristige Pläne?

Ich habe viele Pläne, aber ich warte auf Angebote. Ich hatte bei Wien Moderne schöne Aufführungen und durfte damit wunderbare Erfolge feiern, aber ich verfolge im Augenblick keinen größeren konkreten Auftrag.

Wenn man jetzt an Sie herankäme, hätten Sie dann Ideen oder würden Sie sich eher freuen, wie Sie eingangs sagten, Begrenzungen zu erfahren?

Ich denke, das würde ich dann in einem reziproken Diskurs sicher klären!

Michaela Preiner führte das Interview mit Gerald Resch im Café Vindobona am 24.11. 2011

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Gerald Resch (c) Wien Modern Lavinie Haala

Interview mit dem österreichischen Komponisten Gerald Resch anlässlich des Festivals Wien Modern 2011.

Wie ist das für Sie, wenn Sie ein Werk von sich bei der Uraufführung das erste Mal hören?

Meine Vorstellung ist doch ziemlich genau, daher ist es nicht sehr überraschend; ich weiß ja, was ich geschrieben habe. Bei manchen Sachen, die ich mir anders vorgestellt habe – da geht es vor allem um Balance – wenn ich zum Beispiel höre, was die Hörner spielen, weiß ich, dass ich anstelle von Mezzopiano doch besser Mezzoforte notieren hätte sollen. Das sehe ich dann als meinen Fehler an, den man aber leicht ausbessern kann.

Kann man diese Ausbesserungsarbeiten mit jenen am Theater vergleichen, bei welchen man ja auch noch bemüht ist auf die Reaktionen des Publikums einzugehen?

Nein, eigentlich nicht, denn ich arbeite ja nicht auf die Reaktionen des Publikums hin, sondern in Bezug auf meine eigene Vorstellung. Was ich aber schon mache, ist der Versuch, mit dem, was ich schreibe, spannend zu bleiben. In gewisser Weise bin ich mein erster Hörer. Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich mir dann auch sagen, wenn mir jetzt fad ist, ist dem Publikum vielleicht auch schon fad. Aber vielleicht stimmt das auch nicht, denn Komponisten tendieren immer dazu, zu schnelle Tempi zu wählen. Man sitzt ja wochenlang über einer bestimmten Stelle, die man dann ja irgendwann genau kennt und dann denkt man sich „weiter, weiter, weiter“. Für jemanden, der das aber zum ersten Mal hört, ist es vielleicht zu rasch, wenn man mit ungewohnten Inhalten konfrontiert wird.

Eines Ihrer Hauptcharakteristika ist für mich das Überraschungsmoment, das so gut wie in jedem Ihrer Stücke vorkommt.

Es gibt viel zeitgenössische Musik, die sehr diskontinuierlich ist, in der sehr viele Brüche aufeinanderfolgen, sehr starke Kontraste in sehr kurzer Zeit eingesetzt werden. Das ist in meiner Musik nicht so. Bei mir geht es fast immer um recht logische, deutliche Prozesse die sich entwickeln. Wie das z.B. in meinem Violinkonzert Schlieren der Fall ist. Die Geige beginnt alleine, dann kommen die Schlagzeuger dazu, dann die Solobratsche und der Orchesterapparat schwingt sich wirklich erst peu à peu ein – bis er irgendwann stärker ist als der Solist, der dann fast in diesem Orchester-Klangbad ertrinkt. Aber das braucht alles seine Zeit, eine gewisse Trägheit, eben einen gewissen zeitlichen Verlauf. Diese Neigung zur Kontinuität ist für mich schon ein sehr großer Unterschied zu Komponisten wie dem frühen Wolfgang Rihm zum Beispiel, bei dem oft sehr stark kontrastierende Elemente unmittelbar aufeinanderfolgen.

Ist das ein Generationenunterschied, eine Anti-Haltung die bedeutet, ich gehe das anders an?

Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Die Persönlichkeiten sind einfach unterschiedlich gestrickt. Mir erscheint es interessanter, die Hörer in gewisser Weise an der Hand zu nehmen und in die Musik hineinzuziehen als Unterschiedliches einigermaßen wirr vorzuzeigen.

Sie erzählen mit ihrer Musik eigentlich gerne, oder?

Ja, ich vermute schon. Mir kommt auch vor, dass in den letzten Jahren das dramaturgische Denken wichtiger wird. Am Beginn einer Komposition habe ich meist eine Menge loser Ideen und denke mir dabei auch, dass ich als Schluss dieses oder jenes einsetzen könnte, aber ich weiß noch nicht genau, wohin es mich im Verlauf der Komposition tragen wird. Die Möglichkeiten konkretisieren sich im Laufe der Arbeit und dann bin ich plötzlich an einer Stelle, an der sich das Stück soweit klar entwickelt hat, dass ich es als spannend empfinde, genau jetzt einen Bruch einzuführen. Also ist dieses Überraschungsmoment von dem Sie sprechen, das es so gut wie in jedem Stück gibt, doch mit ziemlichem Bedacht eingesetzt. Das ist so wie bei einer Pointe, bei der müssen Sie sich gut überlegen, wo Sie sie setzen. Im Englischen heißt Pointe ja timing, was es genau trifft.

Sie haben in den letzten 10 Jahren kontinuierlich 1-3 Kompositionsaufträge pro Jahr erhalten. Komponieren Sie eigentlich immer und sagen Sie dann „das kann ich jetzt für diesen Auftrag verwenden“ oder läuft das bei Ihnen anders ab?

Nein, eigentlich ist es so, dass ich die Einschränkungen, die mit einem Auftrag oft verbunden sind, gerne habe. Das ist eine Charakterfrage. Es gibt den berühmten Roman von Georges Perec „La disparition“ in dem er alle Buchstaben verwendet, bis auf den einen, der im Französischen am Häufigsten vorkommt, nämlich das E. Dieser Roman ohne E ist eine Unglaublichkeit. Ein Roman von 300 Seiten der ohne diesen Buchstaben auskommt. Versuchen Sie nur einen Satz zu formulieren ohne E! Sie werden automatisch auf völlig andere Dinge kommen, die Sie ausdrücken, wie wenn Sie ohne Einschränkung sagen könnten, was immer Sie wollen. Dieser Georges Perec bzw. das Oulipo, wie diese französische Richtung aus den 70er Jahren genannt wird, also ouvroir de litterature potentielle, hat mich immer sehr begeistert. Also dieses „was mache ich aus einer Einschränkung“. Bei mir beginnen sofort die Augen zu glühen und das Hirn zu rattern, wenn ich weiß, ich hab eine inspirierende Einschränkung. Bei Cantus firmus, dem Stück, das ich vergangenes Jahr für das Festspielhaus St. Pölten geschrieben habe, wusste ich, dass bei der Aufführung danach die 2. Symphonie von Mendelssohn, Lobgesang, aufgeführt werden würde. Ein großes Stück für Chor und Orchester und Texten aus der Heiligen Schrift, eine richtig affirmative Gotteslobmusik. Und ich sollte das Stück für die erste Konzerthälfte schreiben. Das war eigentlich eine unglaubliche Bürde, etwas zu finden, was von dem Mendelssohn nicht erdrückt wird, ihn auf eine sinnvolle Art und Weise kommentiert und trotzdem meine Musik ist. So etwas mag ich sehr und finde ich hochspannend. Deswegen habe ich mich über diesen Auftrag auch sehr gefreut.

War es für Sie immer schon klar, dass Sie mit der Musik etwas zu tun haben werden oder hätten Sie genauso gut in andere Künste abgleiten können?

Ich selber hatte als Jugendlicher den Eindruck ich könnte alles Mögliche werden, aber meine damaligen Lehrer meinen rückblickend, dass es für sie klar gewesen sei, dass ich Musiker werden würde. Ich hatte damals wohl eine sehr verklärende Selbstsicht.

Sind Sie diesbezüglich erblich vorbelastet?

Nicht wirklich. Meine Eltern sind beide Lehrer, mein Großvater war ein tschechischer Kellner und da gehörte es natürlich auch dazu, dass man Geige spielte, damit die Leute im Gasthaus mehr Schnaps tranken. Wobei schon irgendein Gen ausgebrochen sein dürfte, das ein paar Generationen übersprungen hat, da mein Bruder auch Musiker ist und an einem Gymnasium Musik unterrichtet.

Gibt es für Sie Parallelen in anderen Künsten, wie der bildenden Kunst, der Literatur, im Theater die das widerspiegeln, was Sie in Ihren Kompositionen machen?

Ich empfinde persönlich in der bildenden Kunst speziell der letzten 30 Jahre eine ganz starke Zweigleisigkeit. Einerseits das Aufbrechen in die Intermedialität, reziprok dazu aber das Festhalten am Tafelbild. Bei Künstlern wie Gerhard Richter zum Beispiel, der sowohl konkret als auch abstrakt arbeitet, ist diese ganze Bandbreite vorhanden und das ist mir vielleicht ein wenig verwandt. Ich habe den Eindruck, dass ich ein musikalischer Tafelbildmaler bin, dass ich gerne diesen viereckigen Rahmen habe, der bei mir in erster Linie instrumentale Konstellationen bedeutet und dass ich aber innerhalb dieses Rahmens auch zwischen konkret und abstrakt wechseln kann. Das mach ich dann situationsbedingt. Manchmal ist es wichtig, sehr konkret zu sein, manchmal ist es viel spannender, zu abstrahieren. Ich habe vor einigen Tagen mit einer befreundeten Komponistin, Leah Muir, gesprochen. Ihr Freund beschäftigt sich mit Gehirnforschung und wir unterhielten uns darüber, dass ein Gehirn bei Kippbildern, wenn das Gehirn permanent überlegen muss „ist das jetzt nur ein Muster, oder sehe ich da eine konkrete Form drinnen?“ wohl am alleraktivsten ist. Viel aktiver, als wenn Sie einfach nur konkret Figuren sehen und auch viel aktiver als würden Sie erkennen, dass das eine abstrakte Figuration ist. Genau dieser Zwischenbereich, in dem man nicht weiß, ob das schon konkret ist oder nicht, ist auch so etwas wie eine ästhetische Erfahrung.
Bei meinem Stück Grounds beispielsweise gehe ich von einer Gambenfantasie von Henry Purcell aus, die 1680 komponiert wurde. In diesem Stück leite ich das ganze musikalische Material aus einem Cantus firmus ab, der der Purcell-Fantasie zugrunde liegt. Das ist ein kompliziertes Verfahren, in welchem ich mit genetischen Generationen arbeite, sodass beispielsweise die Akkorde, die ich verwende, in irgendeiner entfernten Art und Weise auch aus dieser Purcell-Grundlage herauskommen. Die Dramaturgie dieses Stückes, das 5 Sätze hat, ist die, dass ich sozusagen mit einem normalen Resch-Stück beginne und immer mehr in die Purcell-Region gehe, bis ich dann im 4. Satz diese originale Fantasie von Purcell tatsächlich zitiere und mich schließlich im 5. Satz davon wieder in meine eigene Musik hinein entferne. Das bedeutet ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, bei der auch etwas von der Abstraktion ins Konkrete übergeht und sich dann auch wieder ins Abstrakte zurückzieht.

Haben Sie je auch mit Elektronik in Ihren Stücken eingesetzt?

Ich habe ja Komposition einerseits und Musikwissenschaft andererseits studiert und hatte dann den Eindruck, dass mir etwas ziemlich Essentielles fehlt. Etwas Spontaneres, Unakademischeres, was ich in einem Lehrgang für Elektroakustik nachholen wollte. Ich begann das zu studieren, konnte dies aber nur ein Jahr lang tun. Dann kam meine Tochter auf die Welt und damit war klar, dass ich Geld verdienen musste. Bis heute habe ich großes Interesse an der Elektroakustik, aber ich fühle mich darin als Dilettant. Ich glaube, dass da ganz maßgebliche Dinge passieren, die ich auch versuche zu erleben, aber ich weiß noch nicht, ob ich das selbst jemals lernen und für mein eigenes Komponieren verwenden werde.

Feiert bei Ihnen die Postmoderne fröhliche Urstände, weil Sie einen historischen Klangapparat bemühen?

Darin bin ich noch nicht postmodern. Das machen viele andere Kollegen ja auch. Das Orchester ist einfach auch ein Apparat, der in seiner Standardkonfiguration gewissermaßen ein Maximum an Möglichkeiten birgt. Ich nenne da nur das Stück von Clemens Gadenstätter „Fluchten/Agorasonie, das auch für Standardorchester geschrieben ist, mit Integration ganz weniger Zusatzinstrumente. Aber im Grunde ist das ein Orchesterstück für dreifaches Holz und Blech, weil man da einfach so gut wie alles machen kann. Ich glaube nicht, dass die Verwendung eines Orchesters in seiner Standardaufstellung, wie bei einer Tschaikowsky-Symphonie, bereits so etwas ist wie „Sich-verbunden-fühlen“ mit einer Tradition. Trotz seiner langen Geschichte bietet dieser „Apparat“ – das Orchester – einfach ein Füllhorn an akustischen Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, Sie lassen alle Geigen auf dem tiefsten Ton spielen und alle Celli auf dem allerhöchsten. So etwas werden Sie in einem Orchester noch nie gehört haben. Das ist nur ein ganz banales Beispiel. Es gibt einfach Millionen von Möglichkeiten. Insofern sehe ich persönlich auch keine Notwendigkeit, ein Orchester durch Verwendung einer Tonbandschicht zu sprengen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man das, was in der Tonbandspur geschieht, auch einfach ins Orchester hineininstrumentiert.

Man hat gerade während des Festivals Wien Modern die Möglichkeit, viele zeitgenössische Positionen hintereinander zu hören. Inwieweit bildet das für Sie eine Beeinflussung?

Das ist schon sehr wichtig. Ich finde es am Beruf des Komponisten auch sehr schön, dass man über die Kollegen gut Bescheid weiß. Komponist sein ist ja etwas recht Ungewöhnliches, es gibt in Österreich nur ein paar Hundert davon und irgendwann kennt man die ja auch. Jetzt hatte ich die Freude, Kollegen aus England kennenzulernen, wie Emily Howard, mit der ich mich auch ein bisschen befreundet habe und es ist einfach spannend, Werkstattgespräche zu führen. Zu fragen „wie machst Du das?“ oder „wie ist die Situation der Ensembles in Deinem Land?“ oder was auch immer.

Sind Sie selbst einem Ensemble besonders verbunden?

Von Studentenzeiten her dem Ensemble „Phace“, das meine Stücke aufgeführt hat und mich begleitete. Ansonsten mit dem Ensemble Kontrapunkte, bei dem ich mich freue, dass sich sein Dirigent Peter Keuschnig seit vielen Jahren für meine Kompositionen interessiert. Das ist besonders schön, weil sich in einer kontinuierlichen Zusammenarbeit viel reifere Früchte ernten lassen. Dann hatte ich dieses Jahr Premiere, da mich der erste große Klangforum-Auftrag ereilt hat. Das Klangforum ist ja ein absolutes Spitzenensemble für zeitgenössische Musik. Das Stück, das ich da geschrieben habe, war aufgrund der räumlichen Gegebenheiten ohne Dirigent zu realisieren. Es war für das Foyer des Konzerthauses komponiert worden und das hätte für Ensembles, die weniger eingespielt sind, schon große Schwierigkeiten mit sich bringen können. Es war toll zu sehen, wie das Klangforum damit überhaupt kein Problem hatte. Mir fiel auch bei den Proben ein Stein von Herzen, als absehbar war, dass die Akustik funktionierte, was ja bei diesem großen Raum nicht sicher war.

Wie lange brauchen Sie im Durchschnitt für eine Komposition?

Ich schreibe im Durchschnitt 2-3 Stücke im Jahr. Es ist immer die Frage, ab wann ich zu rechnen beginne. Bei jeder Komposition gibt es ziemlich umfangreiche Vorarbeiten: Materialsammlungen, Referenzstücke kennenlernen und analysieren, Klangverläufe ausprobieren usw. Bei Collection Serti, dem Stück für das Klangforum wusste ich 2009, dass ich einen Auftrag bekommen würde. Ds begann ich einmal ganz vage Ideen zu sammeln. Im Laufe des Jahres 2010 ist Sven Hartberger (Anm: jetziger Intendant des Klangforums) mit dem Oskar Serti-Projekt an mich herangetreten. Seine Frage war, ob ich mir vorstellen könnte, für die sehr spezifische Situation im Foyer, eben räumlich verteilt, ohne Dirigent, das „Erste Bank“ Preisstück zu widmen. Und so habe ich ein Stück für einen speziellen Anlass und für einen speziellen Raum komponiert. Man wagt schon etwas Besonderes, wenn man sich für ein halbes Jahr hinsetzt, um eine Viertel Stunde Musik zu schreiben, die dann auch für eine ganz bestimmte Idealsituation maßgeschneidert sein soll.

Lothar Knessl sagte in seiner Eröffnungsrede dieses Jahr bei Wien Modern, dass Komponisten komponieren müssten, egal, ob sie dafür etwas bekämen oder nicht. Stimmen Sie dem zu?

Im Prinzip schon. Aber es ist die große Frage, von welchem Standpunkt man das sieht. Natürlich will man als Komponist in erster Linie Stücke schreiben, und mitunter schreibt man auch gern etwas für diesen oder jenen Freund – ohne Geld. Aber diese grundsätzliche Bereitschaft nehmen Veranstalter auch ganz gerne als Vorwand, sich aus der Pflicht zu stehlen, die Entstehung einer neuen Komposition mitzufinanzieren. Ein Veranstalter käme zwar niemals auf die Idee einen Musiker zu engagieren, ohne etwas zu bezahlen. Bei Komponisten ist das aber etwas anderes. Da geht man mitunter leider davon aus, dass es eine Ehre sei, ein Stück erstmals z.B. im Musikverein zu Gehör bringen zu dürfen und man als Komponist doch dafür dankbar sein müsse. Dieser Meinung bin ich aber definitiv nicht. Das sehe ich auch als Verpflichtung meiner Berufsgruppe gegenüber. Wenn jeder Komponist sagen würde, „gerne, ich schreibe etwas gratis wegen der Ehre“, dann hätten wir ein unglaubliches Preisdumping und die Szene würde ausgehungert und innerhalb kurzer Zeit könnte dann niemand mehr in irgendeiner Art und Weise vom und für das Komponieren leben.

Empfinden Sie, dass es in Österreich eine Ballung an Musikinteresse gibt, welches sich außerhalb des Landes, speziell außerhalb Europas sehr schnell verdünnt?

Ich kann sagen, dass ich in Österreich mittlerweile zu jenen Komponisten gehöre, die sehr gut wahrgenommen werden, aber außerhalb von Österreich so gut wie gar nicht. Ich habe während des Festivals Wien Modern mit einem Kölner Journalisten gesprochen, der mir sagte, dass die dortige Szene viel stärker auf Stockhausen und andere regionale Künstler konzentriert ist, als hier bei uns. Und dass eine breite Internationalität, wie sie heuer Wien Modern gezeigt hat, oder auch das Klangforum vertritt, dort gar nicht möglich sei.

Wenn man sich nun aber die Kunstlandschaft ansieht, so ist es doch speziell die Musik, die derart „national“ unter sich bleibt. „National“ nicht im Sinne von Gesinnung, sondern nur im Sinne von räumlichem Zusammenleben und Arbeiten in einer bestimmten Nation. Die bildende Kunst hingegen überspringt die Grenzen doch viel schneller.

Ich denke, das liegt daran, dass bildende Kunst immer auch einen Marktwert hat. Sie können heute das Bild eines aufstrebenden chinesischen Künstlers kaufen. Wenn Sie ein gutes Gespür haben, ist dieses Bild in 10 Jahren das 5-fache wert. Das ist bei Musik nicht der Fall. Das ist einerseits ein Dilemma. Andererseits ist es aber etwas unglaublich Poetisches zu sagen, dass Musik eigentlich ja nichts wert ist. Wenn Sie sich heute eine Partitur von mir kaufen ist die gar nichts wert, sie klingt ja nicht. Selbst in dem Augenblick, in dem sie klingt, ist sie noch immer nichts wert, weil sie ja einfach nur Luft ist, die sich bewegt und Ihr Ohr erreicht. Sie können sich das nicht an die Wand hängen oder sich damit schmücken, dass Sie reich sind, weil Sie meine Partitur besitzen. Sie sind es nicht.

Sie befinden sich damit ja komplett außerhalb des kapitalistischen Wertesystems.

So empfinde ich das tatsächlich.

Macht Ihnen das Freude oder tut Ihnen das leid?

Ich sehe es als einen legitimen, anderen Blick auf dieses Dilemma. Man jammert im Allgemeinen darüber, dass es für die zeitgenössische Musik so wenig Publikum gäbe, dass man sich in einer Nische befände. Man fragt sich nach der gesellschaftlichen Relevanz des eigenen kompositorischen Tuns. Ich denke aber, dass es auf der anderen Seite auch ein großer Freiraum ist zu sagen, dass es – gerade weil die zeitgenössische Musik außerhalb des kapitalistischen Wertesystems steht – ja doch ein Publikum gibt. Bei Oskart Serti waren an zwei Abenden jeweils 600 Leute, die als eine große Gemeinschaft inmitten „meiner“ Musiker teilweise mit geschlossenen Augen standen und dieses Stück intensiv erlebten. Das ist ja nicht Nichts!

Ist es nicht so, dass sich die Demokratie an ihren Minderheiten beweist? Und nur dann, wenn Minderheiten frei das ausleben können, was sie möchten, leben wir in einem freien demokratischen Land? Der andere Gesichtspunkt ist, dass sich eine Gesellschaft – egal ob Demokratie oder nicht – ja vor allem auch durch ihren Rand definiert. Wenn man nun das Zentrum als Ballung von Menschen sieht, dann hat man natürlich nach außen hin diese Ausdünnung zu den Minderheiten. Man fragt sich immer was bringt das, was kostet das, wer hat was davon, dieser viele Aufwand für die wenigen Leute! Aber es fragt sich eigentlich niemand: Was würden alle diese Menschen machen, denen das gefällt, die gerade dafür ein Auge, ein Ohr, ein Sensorium haben, wenn wir diese Projekte nicht am Leben erhalten würden.

Oder wollten wir in einer Gesellschaft leben, die so etwas nicht mehr ermöglicht? Ich würde mich unweigerlich fragen, ob Wien dann noch die Stadt wäre, in der ich gerne und freiwillig lebe. Ich bin auch davon überzeugt, dass der Umgang mit den Interessen von Minderheiten ein unmittelbarer Indikator für die Reife und die Toleranz einer Gesellschaft ist.

Minderheit bedeutet in Ihrem Fall ja auch Verteidigung der zeitgenössischen Kunstpositionen.

Ja, obwohl das jetzt doch ein bisschen zu kämpferisch klingt. Es gibt auch viel sichtbarere Minderheiten, zum Beispiel die Minderheit der Bettler. Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass vor jedem Billa jemand steht, der eine Zeitung verkaufen möchte? Schafft es eine Gesellschaft zu akzeptieren, dass es diese Menschen auch gibt, oder dreht man sich empört weg und findet das unmöglich, weil es diese Menschen früher nicht so sichtbar gab? Das ist tatsächlich eine Frage von Reife. Ich erinnere an dieser Stelle nur daran, dass im Islam der Bettler eine Bereicherung für die Gesellschaft ist, weil er Ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt, Gutes zu tun.

Weil Sie es selbst angesprochen haben: Könnten Sie auch in einer anderen Stadt als Wien leben?

Ich kenne durch mein Studium natürlich einige europäische Städte, aber ich glaube, dass gerade für meinen eigenen musikalischen Ton Wien die richtige Stadt für mich ist. Ich habe gestern bei einem Konzert von Francis Burt und Friedrich Cerha eine ganz schöne Formulierung gefunden. Burt sprach in dem Programmheft von dem „latenten espressivo“ dass es in Wien gäbe, was ihn auch in den 50er Jahren dazu gebracht hätte, bewusst von London nach Wien zu ziehen. Diese Einschätzung teile ich. Dieses „latente espressivo“ als Hintergrundrauschen dieser Stadt ist etwas, womit ich gut kann.

Beziehen Sie sich damit auf die Gruppe jener Menschen, die Musik machen bzw. sich in diesem Umfeld bewegen?

Nicht unbedingt. Zweifelsohne ist die musikalische Infrastruktur in Wien eine hervorragende im Vergleich zu vielen anderen Städten dieser Größe. Aber ich mag vor allem auch die Art, in der in Wien im Alltag Dinge möglich sind. Es ist dem Straßenbahnfahrer streng untersagt, dass er Ihnen mit einem Kinderwagen in die Straßenbahn hilft und er tut es aber trotzdem. Es ist dieses slawische Temperament, das Wien so bereichert. Dieses „es geht doch irgendwie“. Ich bin ja auch ein Zugereister, nicht hier geboren, obwohl ich schon seit 20 Jahren in Wien lebe. Ich lebe sehr gerne in der Brigittenau. Schätze es immer, wenn ich über den Fluss, den Donaukanal muss. Ich mag das sehr, dass man da etwas hinter sich lässt, die Seite wechselt und wie auf einer kleinen Insel lebt.

Jede Stadt hat ja auch ihr eigenes Tempo. Schlägt sich das bei Ihnen auch beim Komponieren nieder?

Das Komponieren ist per se eine unfassbar langsame Tätigkeit. Um hier die Relationen deutlich zu machen: Um 15 Minuten Musik zu schreiben, brauche ich zumindest 400 Stunden. Das ist eine unglaublich luxuriöse Situation. Total unökonomisch. Aber Sie brauchen auch lang um im besten Fall etwas zu machen, was dann auch wirklich schön ist. Man hat auch nicht weniger lang an Heiligenstatuen geschnitzt oder an einem Wasserspeier, der vom Stephansdom herunter guckt. Das ist alles Überfluss an Zeit und Lebensenergie, die da hineingesteckt wurde. Für einen Menschen, der komponiert, dehnt sich die Zeit extrem. Die 15 Minuten Stückdauer werden gedehnt auf 400 Stunden Arbeit. Eine Stadt wie Wien, die sicherlich ein langsameres Tempo hat als z.B. London, wo ich in den letzten Jahren regelmäßig war, ist so einer langsamen Tätigkeit wie dem Komponieren möglicherweise tatsächlich förderlich. In Wien kann ich 4 Stunden am Vormittag sitzen und komponieren und habe das Gefühl, währenddessen nichts Wesentliches versäumt zu haben. Auf diese Weise kommt man kompositorisch gut voran.

Haben Sie mittelfristige Pläne?

Ich habe viele Pläne, aber ich warte auf Angebote. Ich hatte bei Wien Moderne schöne Aufführungen und durfte damit wunderbare Erfolge feiern, aber ich verfolge im Augenblick keinen größeren konkreten Auftrag.

Wenn man jetzt an Sie herankäme, hätten Sie dann Ideen oder würden Sie sich eher freuen, wie Sie eingangs sagten, Begrenzungen zu erfahren?

Ich denke, das würde ich dann in einem reziproken Diskurs sicher klären!

Michaela Preiner führte das Interview mit Gerald Resch im Café Vindobona am 7.11. 2011

OP Art in meiner Jugendzeit – 60er hergehört!

Heute, 40 Jahre später, erinnere ich mich angesichts der Ausstellungsexponate noch sehr genau an diese unbeschwerte Zeit. Die Arbeiten haben für mich plötzlich eine altersregressive Funktion und mir wird bewusst, dass nicht nur ich, sondern auch die Vertreter dieser Kunstrichtung, inzwischen einige Jahrzehnte an Leben hinter uns haben. Die meisten der Damen und Herren, die in den 60er und 70ern die Blütezeit ihrer Kunst erlebten, sind heute zwischen 70 und 80 Jahre alt. Einige Künstler und Künstlerinnen, die in der Ausstellung durch Werke vertreten sind, leben nicht mehr. So gesehen gestaltet sich die OP Art in der Schirn als „Farewell-Schau“. Es erscheint mir wie eine späte, wenn nicht eine der letzten möglichen öffentlichen Verneigungsgesten einer ganzen, obgleich auch schon betagten Künstlergeneration gegenüber, die aber zum größten Teil das Glück hat, dies noch zu Lebzeiten zu erfahren. In den letzten Jahren war es oftmals still geworden um die OP Art und deren Vertreter. Und nun können wir erleben, dass eine schon beinahe vergessene Kunstrichtung wieder aufersteht. Kunst als zeithistorisches Phänomen muss, wie wir sattsam wissen, einfach nach ihrem ersten Höhenflug ein tiefes Tal durchschreiten um danach wieder an Akzeptanz zu gewinnen. Die Kunstgeschichte liest sich als eine stete Abfolge solcher Wellenbewegungen. Dass sich die Sinuskurven der Kunstverachtung bzw. -akzeptanz im Laufe der Jahrhunderte immer stärker verengen hängt, vor allem in unserer Zeit, wesentlich mit den Informationsmöglichkeiten zusammen. Das Tempo, in welchem Erinnern auf Vergessen folgt hat sich, zum Glück für die OP Art Generation, drastisch erhöht. Wie man gut an den Reaktionen der jungen Ausstellungsbesucher sehen kann, üben die Bilder und Objekte nach wie vor, oder besser schon wieder, einen ungetrübten Reiz auf dieses Publikum aus, was wiederum die Produzenten und Produzentinnen ungemein freuen wird. Legen diese Reaktionen doch eine lebendige Spur in die Zukunft, in welcher sich kommende Generationen, zwar verwöhnt von computergenerierten Sinnestäuschungen, in Ausstellungen wie dieser, wahrscheinlich immer noch fasziniert mit der OP Art beschäftigen werden.

Diese Ausstellung bietet speziell meiner Generation, also Menschen, die in den 60ern geboren und aufgewachsen sind, die Möglichkeit, sich analytisch- retrospektiv der Kunstströmung der eigenen Jugend zu nähern. Dies kann, historisch betrachtet, als Novum in der menschlichen Biographieretrospektive bezeichnet werden. Noch unsere Vorfahren im 19. Jahrhundert lebten mindestens über zwei Generationen in einem relativ stabilen kulturellen Umfeld, von den davorliegenden Jahrhunderten ganz zu schweigen. Das 20. Jahrhundert, mit seinem kaum nachvollziehbaren Tempo der Entwicklung von neuen, technischen Errungenschaften war das erste, in welchem es schien, als kämen unsere Großeltern nicht nur aus einer anderen Generation, sondern fast schon von einem anderen Planeten. Die größten sozialen Veränderungen, die Manifestation einer bis auf den heutigen Tag nicht enden wollenden Jugendkultur und die Emanzipation, deren Folgen von den heutigen Jugendlichen wie selbstverständlich gelebt werden, ereigneten sich in unserer Jugend. Dass es zu Zeiten der OP Art erst wenige Künstlerinnen gab, denen der Durchbruch gelang, schlicht aus dem Grund, weil sich noch viel weniger Frauen als heute ihr Brot mit der Kunst verdienten, wird auch anhand der Ausstellungsliste deutlich.

Durch die rasante Weiterentwicklung der computerunterstützten Technik und nicht zuletzt der damit veränderten Sehgewohnheiten, nimmt sich ein Teil der kinetischen OP Art- Arbeiten wie Dinosaurier der PC-Spielwelt aus. Tatsächlich könne gerade jene Werke, welche das Publikum dazu animieren, durch Drücken einer einzelnen Taste die Abfolge von Lichtreizen oder anderen Aktionen auszulösen, als erste Gehversuche der elektronischen Unterhaltungslandschaft erkannt werden.

Es ist schon ein besonderes Gefühl, einen Teil meiner eigenen Vergangenheit – nämlich meine jugendlichen Bildidentifikationen – museal dargestellt zu betrachten. Jetzt weiß ich, warum Teenager mich seit geraumer Zeit mit „Sie“ ansprechen – ein Umstand, der mir anfangs Schauer über den Rücken laufen ließ.

Michaela Preiner

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