Bei einem Blütendinner im Garten der historischen Kammermeierei in Schönbrunn wurden neue Geschmäcker erkundet. Johann Reisinger, Wolfgang Palme und Ingrid Greisenegger luden zu einem ganz besonderen kulinarischen Event.
Die Sonne scheint hell am wolkenlosen, blauen Himmel. Der Rasen ist kurz geschnitten und gibt unter den Schritten sachte nach. Der lange Tisch hinter dem Haus im sommerlichen Garten ist festlich gedeckt. Längliche Blumenschalen mit frisch gepflückten Blüten warten auf die Gäste, die erst durch das Gebäude schreiten müssen, vorbei an einer offenen Küche, in der konzentriert gearbeitet wird. Es ist nicht irgendein Haus in dem an diesem Tag von dem Sternekoch Johann Reisinger, assistiert von Berufsnachwuchs, aufgekocht wird. Die ehemalige Kammermeierei Kaiserin Elisabeths in Schönbrunn, umgeben von Obstbaumwiesen des Lehr- und Forschungszentrums für Gartenbau, hat ausnahmsweise seine Pforten für besondere Gäste geöffnet.
Auf Einladung der Tageszeitung Kurier und der City Farm Schönbrunn treffen sich an diesem späten Nachmittag Menschen, die ein Faible für Blumen und gutes Essen haben. Nur wenigen Wienerinnen und Wienern ist die Location bekannt und so muss das akademische Viertelstündchen eingehalten werden, bis schließlich alle eingetroffen sind. „Blütendinner“ nennt sich der ausgefallene Event, den Ingrid Greisenegger, verantwortlich für das „Grüne Welt Journal“ gemeinsam mit Johann Reisinger und Wolfgang Palme auf die Beine, respektive unter die über hundertjährige Linde neben dem noblen Wirtschaftsgebäude gestellt haben. Palme ist nicht nur Leiter des Lehr- und Forschungszentrums für Gartenbau, sondern auch im Vorstand der City Farm Schönbrunn tätig, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gärtnern möglichst vielen Kindern, Jugendlichen und auch erwachsenen Interessierten nahe zu bringen. Vom Känguruhapfel bis zur Cherrygurke wird hier alles angebaut, was den Speiseplan gemüsig-bunt gestaltet. Zugleich wird auch dafür gesorgt, dass Sortenvielfalt nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt.
Blumen auf dem Teller sind trendig, aber nichts Neues
In den letzten Jahren hat der Trend zu natürlichem Essen merklich zugenommen und es gibt wohl wenige Berufenere als Johann Reisinger, diesen Trend auch zu vermitteln. Pionier der ersten Stunde, verfolgt er mit Wolfgang Palme seit nun schon 15 Jahren die Idee, gesunde Lebensmittel wieder auf die Tische der Konsumentinnen und Konsumenten zu bringen. Koch und Innovator durch und durch, arbeitet er beständig an neuen Kreationen, immer mit dem Gedanken, das Produkt so naturbelassen wie möglich auf den Teller zu bringen.
Blütenkrüge und Blütensirupe (c) European Cultural News
Mit einem Blütenapertif in der Hand, einer herrlichen Mischung aus Rosen-, Lavendel- und Malvensirupen, aufgespritzt mit prickelndem Mineralwasser, lauschen die Gäste unter der schattenspendenden Baummajestät den einleitenden Worten von Wolfgang Palme, der über das Frühstückszimmer von Kaiserin Sissi erzählt, das kurz zuvor alle durchschritten haben. Er erinnert an ihre Vorliebe für kandierte Veilchen und leitet über zu dem, was die Besucherinnen und Besucher in Kürze erwartet. Ein 8-gängiges Gourmetmenü auf der Grundlage von verschiedenen Blüten. Zuvor aber bietet er eine Führung durch die City Farm an, in der gerade der Sommer Einzug gehalten hat.
Brunnenkresse, bis auf die letzte Blüte für das Dinner abgeerntet, empfängt die kleine Gruppe nur mit ihren satten, grünen Blättern. Weiter geht es entlang von wohl geordneten Beeten in denen Artenvielfalt herrscht. Alles, was hier blüht, kann auch gegessen werden. Das Risiko, dass Kinder hier von Blüten naschen, die giftig sind, ist also Null. Es ist ein schönes Gefühl, verschiedene Kräuter wie Borretsch, den es kaum einmal irgendwo zu kaufen gibt, zu erkennen. Hier wird er in der weißblütigen und blaublütigen Variante angebaut, aber der Gestank von Brennesselsud, angesetzt, um Schädlinge natürlich zu vertreiben, trägt dazu bei, dass man sich rasch und mit Freude von dem großen Trog neben den Kräuterbeeten entfernt. Marillen und die ersten kleinen Äpfel liegen als Fallobst auf der Wiese unter den Bäumen gleich nebenan und bieten ein opulentes Mahl für allerlei Gekreuch und Gefleuch. Nach dem Kennenlernen von südamerikanischen und asiatischen Raritäten hat sich der Gaumen schon ein wenig eingestimmt und die Vorfreude auf das Essen an der Tafel wächst. Nach diesem kurzen Ausflug in die Botanik wird es schließlich ernst.
Die blumengeschmückte Tafel lockt verführerisch
„Suchen Sie sich einen Platz wo immer Sie wollen“, mit diesen Worten wird die kleine Gruppe von Reisinger wieder am langen Bankett empfangen. Es macht Spaß, sich plötzlich neben und gegenüber von völlig fremden Menschen niederzulassen, die aber alle, das ist gewiss, eins gemeinsam haben: Die Lust, Neues zu entdecken und die Geschmacksnerven an Ungewöhnlichem zu schulen. „Alles, was sie an Blumenschmuck am Tisch finden, ist zu essen“. Reisinger macht Mut, zuzugreifen, doch es bedarf noch einer kleinen Einschulung seines Kompagnons Palme, um sich wirklich beherzt an den Blüten zu bedienen.
Blütenkost (c) European Cultural News
Wunderschön auf einer kleinen Schale angerichtet, werden verschiedene Blätter als Einstimmung kredenzt. Gelbes von Melonen und Kürbissen, rote Taglilien, violette Chrysanthemen und noch einiges mehr. Langsam wird unter Anleitung eine kleine, rohe Köstlichkeit nach der anderen in den Mund gesteckt und versucht, die unterschiedlichen Geschmäcker abzuspeichern. Die anfänglich skeptischen Blicke verwandeln sich. Nun ist den Gästen eher das Aha-Erlebnis ins Gesicht geschrieben. Die Knusprigkeit, die Säure oder auch ein liebliches Aroma der unterschiedlichen Blumen verblüffen und überzeugen. „Taglilie ist mein Favorit“ erklärt mir meine Sitznachbarin und kaum ausgesprochen, darf sie sich über den zweiten Gang freuen. „Taglilie gefüllt mit ein wenig aromatisierter Mascarpone, genießen Sie es!“ ist von unserem Koch zu hören.
Taglilien gefüllt mit Mascarpone überraschen die Gäste (c) European Cultural News
„Es gibt Menschen, die haben eine Art Beißhemmung vor Blüten.“ Wolfgang Palme weiß, wovon er spricht. Für viele Workshopteilnehmerinnen und –teilnehmer in der City Farm Schönbrunn ist es, wenn sie kommen, das erste Mal, dass sie Blüten verkosten. Blumen als Schmuck auf dem Tisch, das ja, aber als Köstlichkeit im Mund? Schon seit der Steinzeit wurden Blüten in verschiedenen Variationen zubereitet und verspeist. Im Laufe der Industrialisierung ging viel von dem Wissen um den essbaren Blütengarten verloren, aber seit den 90er Jahren steigt die Zahl der Kochbücher, in welchen Blüten eine Hauptrolle spielen, jährlich. Auf dem Tisch stehen neben Mineralwasserflaschen auch Krüge mit Leitungswasser. Darin sommerliche Blumenbuketts. Wer feine Nasen und Gaumen hat, spürt die unterschiedlichen Aromen sofort aus dem Wasser heraus. Dezent, ganz fein sind die Blumennoten zu schmecken, wie flüchtiges Parfum, nur, dass man es nicht riechen, sondern schmecken kann. Eingestimmt in die florale Geschmackswelt folgt nun ein Gang nach dem anderen. Die frischen, heißen Roggenfladen mit schwarzem Sesampüree und Erdmandelpaste darf man selbst mit Blüten vom Tisch garnieren. „Je mehr umso schmackhafter, nur rauf damit“, ermuntert Reisinger die Neulinge in Sachen Blütenkost. Die darauffolgenden Ziegenfrischkäseröllchen sind mit einem köstlichen, sauren Blütenpesto bedeckt. Rot schimmert es unter den krossen Kürbiskerncrackern hervor. Diese hat Reisinger aus dem Rückstand erzeugt, der beim Kernölpressen übrigbleibt. Einem grünen Mehl, das wertvolle Mineralstoffe in sich trägt und meistens als Futtermittel Verwendung findet. Welche Verschwendung, kommt einem rasch in den Sinn, während man fröhlich daran herumknuspert.
Lebensmittel, die diese Bezeichnung auch tatsächlich verdienen
Urgetreide vom Meierhof aus Horn mit Fruchtgemüse und Blüten ist jetzt an der Reihe. Eine Zutat, die zu den beliebtesten auf dem Speiseplan von Johann Reisinger gehört. Fruchtig und gemüsig zugleich überzeugt das Gericht, das sich nicht entscheiden kann als noble Gastgeberin oder erdverbundene Magd aufzutreten. Von der Hokkaidoblüte gibt es anschließend nicht nur Blatt und Frucht. Sie ist mit einem wunderbar thymian-würzigen Püree aus der violetten Trüffelkartoffel gefüllt. Die Kürbiswürfelchen daneben warten mit zart gereiften Gölles-Balsamicotröpfchen auf. Gerade so viel, dass sie eine Geschmacksverstärkung ergeben, aber sich dabei selbst nicht in den Vordergrund drängen. Weiter geht es mit mariniertem Seesaibling mit Begonien. Wunderbar, mit wieviel Leichtigkeit Reisinger dieses Gericht serviert. „Wir verwenden für das gesamte Menü nur ganz, ganz wenig Fett“. Mit dieser Aussage erleichtert er das Gewissen vieler Schmausender.
Zwar wird das Essen zelebriert, aber es herrscht doch eine fröhliche Grundstimmung. „Das ist ja keine Beerdigung“ ruft der Meisterkoch dennoch einmal in die Runde. Aber er übersieht dabei, dass der Genuss bei den meisten Anwesenden im Vordergrund steht. Sein Sensorium ganz auf die neuen Geschmackskomponenten einstellen verlangt Aufmerksamkeit. Aber mit dem Süppchen von Speisechrysanthemen bricht dann jeder kommunikative Damm. So er bis dahin noch bestanden hat. Denn nun wird fleißig darüber philosophiert, ob man beim nächsten Friedhofsbesuch nun nicht doch ein Körbchen zum Blüten-Pflücken mitnehmen sollte. Auch ein edles Blütendinner verträgt jede Menge Humor.
Kräuterkapaun mit Ringelblume (c) European Cultural News
Erst der Sulmtaler Kräuterkapaun mit Ringelblume von der Familie Strohmeier bringt die Unterhaltung wieder zurück auf den Boden der Tatsächlichkeiten. Gefüttert mit Kräutern, die dafür sorgen, dass das Geschlechtsorgan des Hahns nicht richtig ausgebildet wird. An der Seite von frittierten Petersilnudeln präsentiert er sich als prächtiger, gehaltvoller Gaumenkitzler. Sein Fleisch ähnelt in keiner Weise den in einem Monat hochgezüchteten Hühnern aus dem Supermarkt, sondern hat Rasse und Klasse. Die Ringelblume ist ein Attribut an seine steirische Heimat, in der sie auf keiner unkultivierten Wiese fehlt.
Mittlerweile werden nach und nach die Taschenlampenfunktionen der Handys aktiviert. Glühwürmchen sollen damit nicht imitiert werden, aber die Sonne hat einem sternenklaren Himmel Platz gemacht. Der Abend, der eigentlich um 21 Uhr zu Ende sein hätte sollen, geht in die Verlängerung und mit dem Aufstellen von Zitronella-Kerzen wird versucht, den Gelsen, die mittlerweile auch Appetit bekommen haben, eine wirksame Waffe entgegenzusetzen.
Marillentarte mit Lavendel- und Hibiskusblüten (c) European Cultural News
Den süßen Abschluss bildet eine Marillentarte mit Lavendel- und Hibiskusblüten. Ein herrliches Blütensorbet als Begleitung und ein schöner Klecks von Schlagsahne bilden auf dem Teller ein majestätisches Triumvirat und am Gaumen eine zauberhafte Liaison.
„Das Programm war einfach zu groß, wir haben so viel präsentiert und ich wollte auf keinen Fall die Gäste durch das Menü peitschen.“ Johann Reisinger weiß, dass jede Degustation mit Herausforderungen aufwartet, die neu sind. Aber seine Flexibilität überträgt sich wie selbstverständlich auf die Menschen rund um ihn. Die Weinbegleitung vom Weingut Lamprecht, einem Steirer der biologisch-dynamische Weine erzeugt und alle Produktionsschritte von Hand vollführt, tut sicher ein Übriges dazu, dass die Stimmung locker und fröhlich geworden ist.
Nur ein harmonisches Team schafft solche Höchstleistungen
Unter dem spontan einsetzenden Applaus der Geladenen holt Johann Reisinger seine beiden Adjutanten aus dem Haus. Stefan Broyer und Lukas Marxer sind zwei seiner Schüler, die in der Herta Firnberg Tourismusschule bei ihm gelernt haben. „Sie sind keine Handlanger, sondern das sind junge Leute, die verstanden haben, worum es mir geht. Sie sprechen meine Sprache und tragen meine Idee weiter hinaus in die Wirtschaft“. Der Stolz ist dem Gastgeber ins Gesicht geschrieben. Gemeinsam mit einigen jungen Damen, die für das Service zuständig waren, bildeten sie ein harmonisches Team, das sein gemeinsames Ziel an diesem Tag zu hundert Prozent erreichte.
Hier noch ein „Auf Wiedersehen“, da ein „schön war´s Sie kennengelernt zu haben“, dann geht´s auf den Heimweg. Das Gras unter den Füßen ist ein klein wenig kühler geworden und kitzelt leicht in den Sandalen. Der kleine, nächtliche Spaziergang zur U-Bahnstation in Hietzing entlang der weißgetünchten Schönbrunner Gartenmauer gestaltet sich mit einer neuen, sehr netten Bekanntschaft äußerst kurzweilig. Visitenkärtchen werden ausgetauscht und neben einem ganz unglaublichen Wissenszuwachs aus dem Reich der Kulinarik und Botanik haben sich auch wunderschöne Kontakte ergeben, die in den nächsten Tagen sicherlich eins gemeinsam haben: Sie werden ihrer Familie, ihren Freunden, Kollegen und Bekannten etwas vom Blütendinner im Garten der Kammermeierei in Schönbrunn vorschwärmen.
Astrid Griesbach inszenierte jüngst in Wien Schillers Räuber. Für Kinder ab 8, wohlgemerkt! Mit „Nathan der Weise“ bestritt sie zuvor schon eine Inszenierung im Dschungel, die durch Tempo, Witz, Tiefgang und Intelligenz auffiel. Anlässlich ihrer neuesten Arbeit trafen wir uns zu einem Interview.
Die energiegeladene Puppenspielerin, Theatermacherin und Regisseurin hat seit 2009 eine Professur an der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“in Berlin im Fach Puppentheater und arbeitet oft mit jungen Nachwuchskünstlerinnen und –künstlern zusammen.
Kann man außer in Berlin noch Puppentheater studieren?
Ja, es gibt in Stuttgart eine Abteilung für Figurentheater, das oftmals noch mehr ins Visuelle geht. Dann natürlich Charleville in Frankreich aber auch in Spanien. Also überall da, wo Kaspertheater nicht gleichgesetzt wird mit Kinderkasperl sondern mit Narren. Da sind die Franzosen mit dem guignol oder grand guignol allen sehr voraus.
Wie groß ist denn der Zulauf zu diesem Studium?
Nicht wahnsinnig groß, denn die Meisten wollen Schauspiel, Schauspiel! Was aber total verrückt ist und die letzten Jahre sich abzeichnet, ist, und das ist der ganz große, neue Wechsel: Wir bekommen immer mehr Schauspieler, die sich bewerben. Die fertig sind und von guten Schulen kommen. Die merken, dass sie in dem Theater, wie es jetzt läuft, kein kreativer, sondern nur ein ausführender Teil sind. Bei uns kann man etwas gestalten, da ist so etwas wie in göttlicher Funke dabei. Und ich behaupte ganz kühn, dass es die Administration ist, welche die Schauspieler zwingt, über ihren Beruf nachzudenken.
Warum die Administration?
Im Burgtheater-Heft steht ganz vorne das Ensemble drin. Das ist bei uns in Berlin überhaupt nicht mehr so. Heute kennt niemand mehr die Namen. Das begann in der Tanzszene. Da kennt man wenn`s hoch kommt, noch die Choreografen. Aber den, der auf der Bühne ist, den kennt man nicht mehr. Heute emanzipieren sich Regisseure, aber auch hauptsächlich Intendanten. Der Schauspieler als solcher ist austauschbar geworden. Diese Austauschbarkeit spürt man auch. Warum sollen die denn brennen, wenn sie morgen verbrannt werden können? Die Situation im deutschen Theater definiert sich im Moment nur mehr aus: Preiswerter, billiger, schneller und angepasster, und wenn`s geht: Entertainment, Entertainment. Das Theater steht auf dem Höhepunkt des sich selbst Verbrennens. Das macht sich gerade selbst vom Acker. Die Institution geht vielleicht krachen, aber die Ideen sind immer noch da. Es müssten sich Ensembles bilden, die eine gewisse Spielweise haben und sich dann erst einen Intendanten suchen. Heute ist es genau umgekehrt. Der Intendant wählt aus: Die gefällt, mir die, die auch. Aber sie bleiben, wenn`s hochkommt, überhaupt nur zwei Jahre. Wenn die nicht mehr können, holt man sich die nächsten. Das ist das Menschenverachtendste, was man Leuten, die kreativ arbeiten wollen, antun kann. In Deutschland ist der Schauspieler faktisch ein Sozialhilfeempfänger.
Sie haben viele Jahre Erfahrung im Puppenspiel und im Speziellen auch mit der Situation im ehemaligen Osten und jetzt in Berlin.
Wir haben nun schon 42 Jahre diese Einrichtung in Berlin. Die Gründung erfolgte ja noch zu DDR-Zeiten und die Abteilung Puppenspiel hängt mit dem russischen Kasper, dem Petruschka zusammen. Einem sehr zarten, sehr klugen Wesen, das zum Beispiel an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sehr gegen den Klerus vorgegangen ist. Petruschka hat sich über den Popen sehr lustig gemacht. Man hat ihn nicht von der Bühne verbannt, wie es die Deutschen gerne tun, sondern man hat ihm das scheinbar Wichtigste genommen – nämlich die Sprache. Er durfte auftreten, aber er durfte nicht reden. Er trat auf – und er pfiff! Und das Publikum wusste, was gemeint war. Das ist wirklich ein Narr, eine närrische Figur. Und diese Tradition gab es bei den Russen noch sehr lange und hat auch zur Gründung dieser vielen Puppentheater geführt. In der DDR mussten sie aber doch immer auch zugleich das Kinderpublikum mitabfassen. Als wir dann angefangen haben für Erwachsene zu spielen, war auch die Stasi schnell da. Das war dann wirklich scharf, scharf.
Es gab den berühmten „Jäger des verlorenen Verstandes“. Da hatte der Kasper anstatt einer Pritsche zum Zuhauen die Faust. Die Faust hieß Erich und sobald der Kasper etwas gesagt hat, das nicht konform war, hat er sich selbst gehauen. Das war natürlich der Brüller. Diese Sachen wurden immer im Geheimen gespielt, denn in der Figur saß ein Anarchist. Das ist seltsamerweise nach der Wende komplett verloren gegangen. Es schwappte da ganz schnell diese westdeutsche Figur des Sparkassenkaspers und des Verkehrskaspers über. Das ist das größte Verbrechen überhaupt, dass man so eine Figur Regeln erklären lässt! Wie spare ich oder wie gehe ich über die Straße! Ich denke, wenn der Kasper wirklich erklärt, wie man über die Straße geht, dann sagt er: „Liebe Kinder, ihr braucht dazu zwei Bälle. Den ersten Ball schiebt ihr runter, dann werden die Autos quietschen, aber sie halten an. Euer Ball ist zwar verloren, aber ihr habt ja noch einen zweiten. Den müsst ihr festhalten und dann rennt ihr rüber, aber ganz schnell!“
Der Kasper ist immer närrisch, er ist ein Narr. Er verrückt etwas, erklärt sich für verrückt. Das heißt ja eigentlich, ich ziehe mich aus der Mitte raus, setze mich ganz bewusst an eine andere Stelle und gucke von der Stelle aus auf die Mitte. Dann bin ich ja ver-rückt. Aber in diesem Verrücktsein ist viel Wahres und das fehlt oft im Theater.
War das auch ihr Zugang von Jugend an zum Puppentheater?
Ich bin in so einer wahnsinnigen Theaterstadt geboren – in Meiningen. Ich war ein Zwerg, als ich mit meinen Eltern in Opernaufführungen ging. Hans von Bülow, Max Reger, die großen Orchesterleute, die alle zwischen 1870 und meist 1914 Bewegendes gemacht haben, waren in Meiningen. Theater war auch schon immer das, was mich interessiert hat. Und dann hatte ich auch immer den etwas anderen Blick, ich glaube, ich hatte immer schon eine Meise! Dann kam aber das Puppentheater als große, große Entdeckung dazu und die zweite, große Entdeckung war, dass ich während meines Regiestudiums das große Glück hatte, Castorf im Genick zu sitzen. Der war für mich der Über-Kasper. Er ver-rückte Sachen vor allem in den frühen Phasen am Theater wirklich. Da fühlte ich mich völlig bestätigt. Ich denke halt so, ich sehe es halt so, liebe Welt, komm mit mir klar.
Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als hätten sie mit der lieben Welt Probleme.
Es gibt schon Probleme mit der lieben Welt! Deswegen habe ich auch nie die ganz große Karriere gemacht. Aber ich versuche einfach Menschen zu überzeugen, dass so, wie ich ticke, das ganz einfach spannend sein kann, mit mir Theater zu machen. Und das ist besser, als wenn ich in irgendwelchen Institutionen sitzen würde. Da wäre ich vielleicht gefährlich.
Sie beschäftigen sich mit einer Mischform des Theaters in der sowohl Puppen als auch Menschen zum Einsatz kommen. Reizt Sie das ganz besonders?
Ja, das wird man hier auch noch einmal sehen. Mich reizt so etwas wie eine Buffon-Technik. Buffone sind eigentlich die Hüter der Geschichte. Sie sind nur angetreten, um diese Geschichte in der Welt zu lassen. Und man kann sie nur in der Welt lassen, wenn man sie spielt. Das Papier zerfällt, alles zerfällt und irgendwann kann man auch die digitalen Sachen nicht mehr lesen. Man muss sie spielen und wie die guten, alten Nomadengeschichten weitertragen. Jede Geschichte verändert sich durch denjenigen, der sie erzählt, aber auch durch die Zeit, aus der heraus sie erzählt wird. Mein Standort ist hier, im Jetzt, 2015. Ich weiß nicht, wie ich sie vor 100, 30 oder auch letztes Jahr erzählt hätte. Ich kann es nur von heute heraus erzählen und hoffe, dass es jemand anderer dann weiterträgt und von seiner Welt heraus erzählt. Für dieses Erzählen brauche ich diese Mittler, diese Hüter der Geschichte. Das sind natürlich keine Wissenschaftler, sondern auch die saugen sich raus, was für sie wichtig ist.
Wie kann man sich Ihre Regiearbeit vorstellen in Zusammenarbeit mit den Jungen?
Ich beginne immer mit Durchläufen. Wir spielen alles durch, komplett, bis zum Umfallen. Manchmal zum Beispiel für Dreijährige, ganz runtergefahren, um zu sehen, wer hier böse und gut ist. Manchmal machen wir es als nordkoreanische Oper, von der wir alle keine Ahnung haben, was aber besonders toll ist, weil da plötzlich Formen kommen, an die man überhaupt nicht denkt. Man kann den Durchlauf als Mafia-Film machen – wir gehen immer wieder ganz unterschiedlich mit dem Thema um, umspülen es, immer mehr, immer mehr, bis sich herauskristallisiert was uns wichtig ist. Das ist wie ein Sieb, das am Anfang grob ist und bei dem viel durchfällt. Das nächste Sieb ist feiner und irgendwann ist es dünn und es bleiben die wichtigen Fäden drin. Dann gucken wir auf den Text, was im Text für junges Publikum das transportiert, was wir wollen. Wir schauen, wo wir unseren Mund selber aufmachen müssen, wo wir witzigen Nummern haben müssen, um Niedriges und Erhabenes nebeneinander zu haben, damit das Erhabene ein bisschen höher steigt und das Niedrige so richtig schön auf den Boden klatscht. Da geht es darum, einen Unterhaltungswert anzubieten. Irgendwo hinzukommen und eine wissenschaftliche Abhandlung geboten zu bekommen, das ist es nicht. Nein, das Publikum soll Spaß dran haben, Lust und eine Erkenntnis. Und ein Erkenntnisgewinn geht natürlich über einen lustvollen Zugang leichter als über eine Hirnmaschinerie. Ich mache dann die Auswahl und es bleibt bei mir zu sagen: Das bleibt drin. Das häufigste Wort in dieser Phase ist „nein“. Ich bin da ziemlich hart im Aussortieren. Dann fügt es sich, dass die Geschichte anhand von Bildern, anhand von kleinen Geschichten und großen Fäden erzählt wird. Irgendwann schmilzt anhand der vielen gemeinsamen Proben auf der Bühne so etwas wie eine Bande zusammen. Es probt ja nie jemand alleine, wir sind immer alle da. Aber die Auswahl, wie man was setzt, das hat schon mit meinem Blick zu tun.
Konkret, was nun das Stück „Die Räuber“ betrifft – was war hier ihr Eingreifen?
Ich hab zum Beispiel für die Bügelbretter am Anfang gesorgt. Die sehen einfach gut aus, wenn die so rumstehen. Aber wir behaupten dann in dem Stück einfach, dass sie den alten Frauen unterm Bügeln von den Räubern gestohlen wurden. Wir hatten ganz zu Beginn die Idee, dass das, was wir hier sehen, so etwas wie ein explodiertes Kinderzimmer ist. Daher auch die verschiedenen Figuren. Dann auch die Hybride, die hier zu sehen sind. Wie jener bei dem Beine ohne Haare zu sehen sind, richtig pubertär schon, der Rest ist aber noch Teddykörper. Oder andere Figuren bei denen man sieht, dass da gerade etwas passiert aber man kann`s noch nicht greifen. Es ist aber etwas im Umbruch aber irgendwie möchte man doch noch den großen Kuschelbären. Franz und Karl sehen in ihren Masken auch ganz verwachsen aus. Maske, Material und Zeichenhaftigkeit interessieren mich sehr. Und dann auch das Thema der Aufmerksamkeit. Ich gebe den Bügelbrettern eine bestimmte Aufmerksamkeit. Meine Aufmerksamkeit ist vielleicht das Wertvollste was ich besitze. Dadurch, dass ich einem Objekt meine Aufmerksamkeit gebe und einen Raum und einen Rahmen dazu schaffe, bekommt es eine besondere Wertigkeit. Wie diese alten Bügelbretter, die wir in einem ganz alten Lager gefunden haben und die einmal in den 50er Jahren in einem großen Bügel-Kombinat im Einsatz waren. Wir brauchen nicht immer etwas Neues, es ist ja alles da, wir müssen es nur sehen.
In Ihren Stücken ist nicht nur aufgrund des Kasperls oder Buffons immer ein historischer Bezug spürbar.
Ja, die Geschichten wandeln sich natürlich, aber wenn wir sie verlieren, dann wird es schwierig. Das Theater ist ein wunderschönes Medium mit dem man sie mitnimmt. Vielleicht gibt es nur sieben große Geschichten auf dieser Erde, in tausenden von Variationen. Aber diese großen Geschichten müssen wir immer wieder mittragen. Das ist für mich der Atem des Theaters. Wenn das Theater diesen Atem verliert und nur noch einen modischen Zeitausschnitt, ein gekästeltes „Jetzt“ wiedergibt, dann ist mir das zu wenig. Zuwenig für dieses großartige Ereignis „Theater“, das Generationen von Menschen nicht losgelassen hat. Es ist mir zu wenig, es nur nach einem Marktwert zu bewerten und als Event zu benutzen. Es ist kein Event! Unterhaltung ja, aber kein Event.
Hatten Sie schon von jungen Menschen Rückmeldungen, nachdem diese Ihre Stücke gesehen hatten?
Ja, ich hatte eine Rückmeldung von einer jungen Frau, die hat inzwischen schon fertig studiert, die sagte: „Als ich Ihren Lear gesehen habe, habe ich aufgehört, Sprachwissenschaften zu studieren und angefangen mit Puppentheater.“ Mit Christine Müller, so ist ihr Name, habe ich dann den Tell gemacht. Ja, solche Rückmeldungen gibt es mehrere, das freut mich natürlich sehr.
Ihre Stücke haben viele Ebenen, bieten etwas für die Kleinen, aber auch für die Erwachsenen an.
Ja, das ist eines meiner Hauptanliegen. Ich bin gegen die Ghettoisierung von Theater. Ich mag „Kindertheater“ nicht, weil man dabei denkt, dass man speziell für die kleinen Kinder Theater machen muss. Quatsch. Man muss für alle Theater machen. Man muss für die Familie Theater machen, damit man gemeinsam dahingehen kann. Es gibt keine Kinderwelt. Wir leben alle in einer Welt. Das regt mich immer so auf! Martin Linzer, der leider kürzlich verstorbene, sehr, sehr tolle Kritiker von „Theater der Zeit“ hat einmal geschrieben: „Das ist perfektes Kindertheater für Erwachsene“. Das ist das, was mir wirklich am Herzen liegt. Früher ging man mit allen ins Theater. Ich ging mit meinen Eltern in irgendwelche Opern von denen ich nichts verstanden hab außer dass es toll war, dass es tolle Musik war. Und ich erinnere mich, dass meine Mutter draußen immer die Schuhe gewechselt hat, weil sie sagte, in so einen Tempel kann sie nicht mit Straßenschuhen gehen. Diese Achtung vor dem Theater war super. Wir sind uns da heute gar nicht bewusst, was wir da von unseren Altvorderen so mitbekommen haben. Sie haben uns etwas hinterlassen, das wir einfach schnöde als „alt“ abtun. Alt im Sinne von: Das ist nicht mehr hip, nicht mehr in. Aber das Theater ist einer der wenigen Räume in denen man gemeinsam eineinhalb Stunden lang etwas erleben kann. Man darf nicht rumzappen, darf nichts machen, man muss sich einlassen auf die Ideen, die da vorne so eine Handvoll Leute haben. Das ist subversiv. Ich halte Theater in dieser Zeit für einen subversiven Raum. Wenn das mehr Künstler kapieren würden, dann würde das auch für das Publikum wieder spannender werden. Theater ist Sinnbild und nicht Abbild von Realität.
Sie haben für das Theater, das Sie in Frankfurt an der Oder gründeten den Namen „Theater des Lachens“ gewählt. Wie kam es dazu?
Die Stadt lag ja an der willkürlich gezogenen Grenze zu Polen. Da gab es keinen Austausch, überhaupt nicht. Kein gemeinsames Wachsen wie zum Beispiel im Saarland. Und wir haben uns dann gedacht, was ist das Geringste, was uns dennoch miteinander verbindet. Und das ist das Lachen. Das hat am Anfang sehr, sehr gut funktioniert. Da saßen auch polnische Kinder drin, die sich gekringelt haben. Genau das wollten wir. Lachen ist nicht nur das Verbindende, sondern Lachen hat auch noch etwas Anderes. Wenn man lacht, kann man nichts Anderes machen. Wenn man richtig lacht, ist der Körper geteilt. Das Zwerchfell hat uns im Griff. Man kann nicht laufen, man kann nicht an was Anderes denken. Man steht da, ist wie ein Krüppelchen, kann keinen Schritt machen. Ich finde das super. Das ist eine Auszeit des Hirns. Wenn man über etwas lachen kann, dann kann man es auch verarbeiten und damit umgehen. Und das finde ich etwas Grandioses.
Eine Abschlussfrage.
Warum sollen Menschen denn ins Theater gehen?
Weil es der spannendste Ort außerhalb ihrer Realität ist, eine eigene Realität zu erleben.
Interview mit Simon Mayer nach seinem Auftritt im Brut mit „Sons of Sissy“
Wart ihr überrascht, dass das neue Stück beim Publikum so gut angekommen ist?
Es hat einen Tag vor der Premiere einen Moment gegeben, da hab ich gewusst: Jetzt wird`s. Dass wir dann bei der Premiere 6 Mal für den Applaus rauskommen mussten, damit hab ich nicht gerechnet.
Es sind ja nicht alle, die mitgemacht haben, ausgebildete Tänzer.
Nein, Matteo Haitzmann ist Volksmusiker, macht auch Experimentelles und studiert seit diesem Jahr an der Bildenden „Performancekunst“. Mit Patrick Redl und Manuel Wagner war ich schon in der Ballettschule beim Staatsopernballett. Sie sind beide, wie ich auch, Musikanten. Wir unterscheiden aber mittlerweile klar zwischen den professionellen Musikern, die das auch studiert haben, und uns Musikanten.
Was war der Ausgangspunkt für die Produktion?
Das, was wir als Basismaterial hernehmen, ist nichts Volkstümliches, sondern es ist Volkstanz und Volksmusik. Für Mattheo käme es einer Rufschädigung gleich wenn man sagen würde, dass er volkstümliche Musik macht. Das ist ja etwas anderes.
Im Stück kam viel von der Instrumentalisierung der Volksmusik und des Volkstanzes durch die Nazis durch.
Ja, das stimmt, das war auch unsere Intention. Als Werkzeug, damit die Transformation zustande kommt vom Basismaterial über das kurzfristige Entfremden und dann Lösen von dem Altballast, nehme ich das Ritual her. Gewisse energetische oder spirituelle Werkzeuge, um dies auf einer tieferen Ebene zu lösen. Es ist vergleichbar mit einer Person, die zum Energetiker geht. In dem Fall tragen wir den Volkstanz quasi zum Energetiker und bringen das Anliegen vor: „Ich bin der Volkstanz oder die Volksmusik, kannst du mir nicht helfen, mit ein paar Prozessen einiges zu lösen? Etwas lösen, was ich in der Vergangenheit an Traumen durchgemacht habe.“ Es gibt im Volkstanz und in der Volksmusik so viele schöne Elemente, die den Leuten so viel Freude machen und auch heilend sind. Je mehr man in die Geschichte des Volkstanzes zurückgeht, umso mehr kommt von der rituellen Idee und der heilsamen Aspekte zum Vorschein.
Wolltet ihr durch das Stück den Volkstanz in einen anderen Status überführen?
(Foto: Anna Hein)
Ja, aber wir sind im Moment noch nicht ganz dort. Wir sind noch am Austesten, auf der Bühne haben wir noch nicht die Freiheit, die wir dazu auch brauchen. Jetzt schauen wir zum Beispiel gerade darauf, welches Publikum lacht wann. In Wien lacht man mehr, in Zürich zum Beispiel weniger. Jetzt war einmal Premiere, Zürich, Mannheim und Dornbirn folgen schon fix.
Das Thema ist ja eines, das auf den deutschsprachigen Raum zutrifft. Würde das auch in anderen Ländern vom Verstehen her funktionieren?
Mittlerweile weiß ich, dass es auch dort funktioniert. SunBengSitting, das Stück davor, in dem es um eine ähnliche Thematik geht, war schon in Europa auf Tournee. Ich hab total gute und interessante Reaktionen darauf gehabt. Egal ob in Norwegen, Deutschland oder Slowenien. Überall gibt es Bilder, die die Leute im Kopf haben. Auch wenn es nur die Referenz von „sound of music“ ist. Je nachdem mit welcher Referenz man an das Stück geht, liest man es anders. Mit „sound of music“ liest man es anders als wenn man sagen kann: Ja, ich kenne die ganze Nazivergangenheit. Aber auch „sound of music“ gehört einmal aufgelöst. Ich habe den Film jetzt vor ein paar Wochen einmal gesehen und mir gedacht: Ja, eigentlich ist das eine ähnliche Transformation. Auch da ist die Nazigeschichte drinnen und es ist Kitsch. Aber ich denke mir: Keine Angst vor Kitsch!
Was ist deine Hauptmotivation, dass du immer wieder auf das Thema Heimat und Volkstanz und Volksmusik zurückkommst?
Antwort hier hören:
Ihr werdet dann in einigen Passagen auch frei, geht weg vom herkömmlichen Formenkanon.
Ja, das mag vielleicht auch aussehen als würden wir uns über den Volkstanz lustig machen. Aber das macht der Volkstanz an sich ja auch schon. In der Volkstanzgruppe erfinden wir immer wieder neue Formen in denen wir uns auch über andere Tänze lustig machen. Interessant ist ja auch, dass es Elemente gibt wie zum Beispiel einen Sprung, den hab ich bei Ultima Vez gesehen. Und dann komm ich in die Volkstanzgruppe und dort machen die den gleichen Sprung. Das finde ich sehr interessant. Ich höre auch immer wieder, dass wir uns über Volkstanz lustig machen würden, aber nicht von den Kollegen aus der Volkstanzgruppe selbst. Als sie bei der letzten Produktion zugeschaut haben, haben sie gesagt: Wow, so haben wir das ja eigentlich noch gar nie gesehen. Und das freut mich total, denn das ist genau das, was ich will. Etwas von einer anderen Perspektive aus auch zu hinterfragen. Viele von ihnen wissen auch gar nicht, dass das auch mit der Nazivergangenheit was zu tun hat.
Ist die Zeit für eine Aufarbeitung ideal oder notwendig?
Ja, mir kommt vor, dass nun endlich einmal der Abstand zu der Zeit da ist. Es kommen viele junge Volksmusikgruppen die schöne Musik machen und das nicht mit allem möglichem anderen vermischen. Genauso ist es mit dem Volkstanzen. Das interessiert wieder mehr Leute. Es gibt einen „organic dancefloor“ in Wien, die solche Sachen machen. Die jüngere Generation kann das jetzt aus einem anderen Blickwinkel sehen. Es so nehmen, wie es vielleicht ursprünglich auch gemeint war. Dass es aus einer gewissen Lebensfreude heraus gemacht wird. Für mich hat es auf einer tieferen Ebene auch eine total heilsame Wirkung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde vieles vom Tanz niedergeschrieben und die Leute haben das dann gelernt. Das wird dann irgendwann einmal problematisch, weil es dann nur mehr um die Form geht. Dann gibt es auf einmal Schuhplattelwettbewerbe, die nennen sich dann sogar Gaupreisplatteln.
Wie definierst du den Begriff von Heimat?
Im Sinne von zu sich selbst kommen, aber eher ritual- und meditationsbezogen. Grad wenn man viel unterwegs ist, muss man die Heimat in sich finden und nicht woanders.
Simon Mayer „SunBengSitting“ (Foto: Anna Hein)
Das Thema des Nackt-Tanzens beschäftigt dich ja auch immer.
Ja, vor allem dann, wenn es um Uniformität geht. Einerseits sind wir dabei uniform und gehen in etwas Militärisches hinein, andererseits sind vier nackte Körper auch wieder individuell. Jeder hat seinen eigenen Körperbau, seine eigene Physis. Es ist nicht nur das Befreien von den Trachten und der Altlast, sondern auch das Befreien von gewissen Bildern, die man um das Thema hat.
Gibt es schon Pläne für ein neues Stück?
Ja, ich möchte gern mit dem Material aus SunBengSitting und Sons of Sissy etwas für viele Leute machen. Für eine große Gruppe. Eine Art Volkstanzmassenritual. Und dann gibt es noch Ideen, aber nichts Konkretes für ein- oder zwei Bühnenstücke.
Interview mit Yvonne Birghan van Kruyssen, Intendantin des Festival Szene Bunte Wähne
Wie lange sind Sie schon beim Festival Szene Bunte Wähne?
Seit Jänner 2012.
Das ist jetzt Ihre dritte Saison die Sie programmiert haben. Wird das Tanzfestival Szene bunte Wähne außer in Wien noch an einem anderen Ort gezeigt?
Nein, das ist wirklich nur für Wien. Unseren Hauptsitzt haben wir in Horn im Waldviertel und machen dort unsere Arbeit. Wir machen dort Projekte an Schulen, Vermittlungsprogramme und haben jährlich ein Art performing Programm. Begründet wurde dies vor nun schon 25 Jahren durch Stephan Rabl. Der großartige Gedanke dahinter war dass man internationales Theater für junges Publikum für das Landpublikum zugänglich macht. Für die Kinder und Jugend vor Ort. Dass man eben nicht nur einmal im Jahr nach Wien fährt, um ins Theater der Jugend zu gehen, sondern dass man wirklich das Angebot vor Ort nutzen kann. Ich komme ja aus Deutschland und ich muss sagen, ein Festival für zeitgenössischen Tanz in dieser Art ist ja wirklich irre. In Deutschland fängt man damit gerade jetzt erst an. Wir sind dort sehr gut vernetzt. Wir machen zum Beispiel jetzt Projekte mit dem Fußballklub oder wir haben in der Region zwei Theaterschulen laufen. Dort geben wir Theaterunterricht und arbeiten wir mit Schülern. Wir arbeiten mit dem Niederösterreichischen Architekturverband.
Ihr Tanzfestival hat ja jedes Jahr ein eigenes, übergeordnetes Thema.
Genau, dieses Mal ist es ja der „Traum vom Fliegen“. Im letzten Jahr war es „Das Meer in mir“, im nächsten Jahr werden es „Grenzgebiete“ sein. Wir befinden uns in Horn ja an der Grenze. Und Tanz als Kunstform ist ja auch eine Art Grenzgebiet. Das möchten wir gerne öffnen und immer wieder neu hinterfragen. Im Sommer haben wir eine Märchenakademie. Da werden Kinder Märchen erforschen, die auch zu diesem Thema bearbeitet werden.
Sind Sie selbst viel unterwegs, um sich viel anzusehen, oder kommt vieles auch auf Sie zu, weil das Festival ja bekannt ist.
Es gibt viele Gruppen die ich aus meiner früheren Arbeit kenne und die ich auch begleite. Da schaue ich, was es Neues gibt, was ist interessant bei ihnen, wie entwickeln sich die Gruppen. Aber ich schaue auch viel, fahre viel zu Premieren und schaue, was in verschiedenen Ländern gerade aktuell ist. Aber ich bekomme auch viel zugeschickt und dann fahre ich auch los und schaue mir das eine oder andere an, wenn es mich interessiert.
Sie sind schon eine ganze Zeit in diesem Metier tätig, waren es ja auch schon vor dem Festival. Haben sich die Inhalte der Aufführungen in den letzten Jahren verändert?
Es gibt immer aktuell politische Geschichten, die werden auch immer wieder neu bearbeitet oder mit neuen Gesichtsweisen versehen. Ich bin seit 15 Jahren im Kinder- und Jugendtheater und kann sagen, dass sich der zeitgenössische Tanz rasant weiterentwickelt. Das ist schön zu sehen, dass das auch hier in Österreich so ist. Wir können hier auf dem Tanzfestival fünf österreichische Produktionen präsentieren, insgesamt sind es 12. Dasselbe machen wir dann im Herbst genauso. Wir geben internationalen Gästen einen Fokus auf die nationalen Produktionen und zeigen damit, wie sie sich entwickelt. Und sie entwickelt sich sehr gut. Auch nicht zuletzt durch das Haus hier, an dem viel an Grundarbeit geleistet wird. Auch was Herr Rabl mit seinem eigenen Ensemble an zeitgenössischem Tanz hier entwickelt ist zeigens- und sehenswert.
Gibt es Unterschiede bei der Publikumsreaktion von Kindern und Jugendlichen was Tanz oder Theateraufführrungen betrifft?
Die Zugänge sind ähnlich offen. Man hat ja so eine Angst vor zeitgenössischem Tanz, das klingt schon so hochtrabend. Aber dieses Grundbedürfnis eines Kindes sich zu bewegen und die Bewegung zu sehen wie die Bewegung wieder zurückkommt, das ist einfach da. Ich glaube, dass wir daran arbeiten müssen, den Erwachsenen die Angst davor nehmen müssen in eine Tanzvorstellung zu gehen. Das ist bei Familienvorstellungen oder Vorstellungen für ganz Kleine gar nicht so das Problem. Aber wenn wir so ab 9+ denken, dann wird`s schon schwierig.
Die Entscheidungsträger, ob sie gehen oder nicht sind ja die Erwachsenen.
Genau. Bei den Kleinkindern ist das noch etwas anderes. Da geht man viel schneller als bei den Größeren. Das heißt dann, das interessiert die gar nicht, aber das stimmt nicht. Wir haben das gesehen bei „Nicht zu stoppen“ – das hat sie voll interessiert. Was die Jungs da auf der Bühne gemacht haben war so rasant. Das nehmen die dann auch so auf und zwar pur. Auch weil das ein Teil ihres Bewegungsalltags ist. Das wird oft unterschätzt.
Haben Sie auch direkte Rückmeldungen von Kindern oder Jugendlichen, die nach einer Vorstellung Lust bekommen haben auch so etwas zu machen?
Unsere Tanzvermittler kommen auch aus Tanzschulen oder Institutionen, die sich mit Tanz befassen. Die gehen ja direkt in die Schulen. Ja, es gibt diesen Zulauf, aber wie lange das dann anhält, ist etwas anderes.
Wechselt die Szene von den Choreografinnen und Choreografen sehr schnell oder gibt es einen Kern, der sich immer wieder mit Kinder- und Jugendtanz beschäftigt?
Es gibt tatsächlich welche, die sich nur damit befassen, aber es kommen auch immer wieder neue nach. Natürlich hat man auch immer Gruppen, die man immer wieder einlädt, weil sie so gut sind mit jungem Publikum und sich auch trauen, mit ihm etwas zu machen. So wie zum Beispiel die Eröffnungsproduktion „Tramway, Trott und Tiefkühlfisch“ von Nevski Prospekt mit Yves Duil??, der ja einen großen Namen hat in der Szene für junges Publikum. Und es ist immer wieder schön zu sehen, in welchen Konstellationen sie neue Sachen erarbeiten. Es war sehr schwer zu verkaufen. Denn war wir als Erwachsene kennen, diesen Trott, den wir jeden Tag immer wieder aufs Selbe erleben, projizieren wir ja eigentlich immer nur auf uns. Die Kids haben aber auch dasselbe Problem. Und die hatten so einen krassen Zugang zu diesem Stück, das war unglaublich. Wie sie sich gefreut haben, als plötzlich so ein Störelement in diesen Alltagstrott kam. Aber dadurch dass wir ja an zwei Schulen arbeiten, erfahren wir auch von den Kindern, die ihren Tagesablauf erzählen, der immer wieder derselbe ist und dass sie sich total freuen, wenn sie bei uns sind und mit uns spielen. Da merkt man dann auch, wenn die in gewisser Weise manchmal austicken. Weil es ihren Alltagsstress und Trott komplett durchkreuzt.
Ist es für Sie schwer, aus einer großen Fülle letztendlich nur eine kleine Schar an Produktionen zu präsentieren? Ich nehem an, dass der Hauptgrund ein budgetärer für die Auswahl ist.
Ja, in erster Linie ist das eine finanzielle Geschichte und: Ja, es ist schwierig. Man muss ja manches Mal auch „bedienen“. Man kann ja auch nicht sagen: Ich bringe jetzt nur das Beste vom Besten, das wäre natürlich großartig. Es ist zwar alles gut, was wir zeigen, dass ist ja nicht die Frage. Aber ich muss auch schauen, dass sich Produktionen für Altersgruppen, die einfach kommen, auch gut verkaufen lassen. Da muss ich auch manches Mal einen Kompromiss eingehen.
Welche Altersgruppe ist bei dem Festival am stärksten vertreten?
Das ist sehr gut aufgeteilt. Ich könnte aber viel mehr für die Allerkleinsten spielen. Das geht eigentlich automatisch. Damit hadere ich aber auch noch immer ein bisschen.
Warum?
Ein, zwei Produktionen finde ich in Ordnung. Aber ich möchte auch immer gerne Geschichten präsentieren und neue Formen zeigen. Wenn man zu viel für Kleine programmiert dann stimmt die Balance nicht mehr.
Gefällt Ihnen das Umfeld in dem Sie arbeiten, macht Ihnen das Spaß? Haben Sie für sich das gefunden, was Sie gerne machen?
Ja, voll! Das war mein Traum und ist mein Traum.
Wünschen Sie sich etwas für die nächste Zukunft?
Dass wir weiter arbeiten können und dass wir uns entwickeln können. Manchmal wünsche ich mir ein bisschen mehr Zeit. Wir sind drei Leute und wir drei wuchten die gesamte Geschichte. Diese zwei Festivals im Jahr plus unsere Projekte und Produktionen. Wir selbst produzieren nicht, aber wie co-produzieren . Wie zum Beispiel vor zwei Jahren mit einer holländischen Tanzkompanie und einer Berliner Theaterkompanie. (roses???), die wir im letzten Jahr gespielt haben. Und damit haben wir viel in Bewegung gesetzt, was zeitgenössischen Tanz für Kinder und Jugendliche in Deutschland betrifft. Wir haben auch Preise gewonnen usw. weil es eine besondere Form der Zusammenarbeit war und eine spezielle Form der Präsentation. Das ist wirklich viel. Wir haben im Mai eine große Produktion und im Juni eine große Produktion, alles mit Schülern. Das ist dann schon irgendwann ein wenig „fffhui“. Dann haben wir das große Festival im Waldviertel. Wir werden ja 25 Jahre alt. Da gibt es Feiern und viele Extra-Geschichten.
Wie sieht es denn mit der Finanzierung aus? Ist die stabil? Brauchen Sie mehr oder sagen Sie wir sind froh, dass wir das haben.
Wir mussten einen neuen Antrag stellen und haben eine Vierjahresförderung, die niedriger ist als vorher, aber ich bin sehr froh, dass wir sie bekommen haben. Es ist nicht viel, finde ich, für das, was ich eigentlich auferlegt leisten soll, weil die Häuser in denen wir spielen ja auch bezahlt werden wollen. Wir spielen ja auch hier nicht frei, sondern wir müssen das hier alles frei finanzieren. Ein bisschen mehr wäre schon schön? 2017 läuft die Förderung aus. Meine erste Amtshandlung war, den Antrag zu schreiben. Aber wir haben das Geld dann bekommen. Ich musste mich entscheiden, ob ich mit der Reduzierung auskomme oder mit der Unsicherheit, dass ich jedes Jahr neu beantragen muss. Ich habe mich für die Sicherheit der vier Jahre entschieden. Wir sind heuer in der großartigen Situation, dass uns drei Botschaften unterstützen. Das gab es bisher noch nicht. Das ist das erste Mal, dass auch die Botschaften an uns herangetreten sind.
Welche Botschaften sind das?
Luxemburg, die flämische und die holländische Repräsentanz. Ich habe selten so schöne Gespräche gehabt, das ist etwas ganz Seltenes. Und ich habe auch für das Herbstfestival Botschaften, die uns angerufen haben.
Woher kommt das Interesse von dieser Seite?
Wir hatten letztes Jahr im Herbst einen Dänemark-Schwerpunkt und die Dänische Botschaft war so begeistert, dass sie uns in diesem Jahr das selbe Geld noch einmal zur Verfügung stellen. Wir hatten eine tolle Eröffnung, den Menschen hat es voll getaugt. Es waren so viele Leute aus dem Waldviertel da.
Wie geht´s Ihnen persönlich im Waldviertel?
Sehr gut! Ich liebe es.
Ist Ihnen dort nicht zu viel Wald und zu viel Viertel?
Am Anfang schon. Ich bin ja direkt aus Berlin nach Horn gezogen. Die erste Woche war ein bisschen schwierig, die zweite auch noch, weil es dort so ruhig ist, dass ich gar nicht schlafen konnte. Dann habe ich aber einfach tolle Menschen kennengelernt. Und ich bin dort jetzt ein Teil der Stadt. Das ist einfach ein ganz, ganz tolles Gefühl. Ich habe das gerade erlebt, dass jemand zu mir gesagt hat: Du, wir haben Dir das noch nicht gesagt, aber Du gehörst zu uns. Das ist etwas ganz Schönes, weil man weiß, dass man etwas in den drei Jahren richtig gemacht hat.
Ferdinand Schmalz erhielt 2013 den Retzhofer Dramapreis, wurde 2014 bei der Kritiker-Umfrage von „Theater heute“ zum Nachwuchsautor gekürt und wird in diesem Jahr abermals eine Uraufführung eines seiner Stücke erleben. Geboren in Graz, studiert er Philosophie und Theaterwissenschaften in Wien und freute sich über die Aufführung von „am beispiel der butter“ im Vestibül des Burgtheaters. Grund genug für ein Interview, für das wir uns in der Kantine des Burgtheaters trafen.
Wie fühlen Sie sich denn gerade? Befinden Sie sich in einer Hochstimmung?
Danke, sehr gut. Das war ein gutes Jahr, 2014.
Haben Sie sich beim Einreichen Ihrer Stücke Chancen ausgerechnet?
Es ist lustig. Ein Freund von mir sagte mir vor Kurzem, dass ich, als ich das Stück „am beispiel der butter“ beim Retzhofer Dramapreis eingereicht habe, gesagt habe: „Ich probiere es und wenn ich den Preis nicht bekomme, dann stehe ich wenigstens mit einem fertigen Stück da. Vielleicht kann ich das dann jemandem anderen anbieten.“ Ich habe mich selbst an diese Aussage aber gar nicht mehr erinnert. Dass alles so gut gelaufen ist, da ist auch immer Glück dabei. Es war das Jahr, in dem in Leipzig die Intendanz gewechselt wurde und das Stück dort uraufgeführt wurde. Das hat schon die Aufmerksamkeit auf das Stück gezogen. Und auch, dass es für Mühlheim nominiert war. Auch dass es Herr Missbach (Anm: Dramaturg am Burgtheater) gelesen und gut gefunden hat, war natürlich auch von Vorteil.
Sie sind ja auch abseits des Schreibens sehr theateraffin, haben als Komparse am Burgtheater gearbeitet aber auch Regieassistenz am Schauspielhaus und in Düsseldorf gemacht und anderes mehr.
Ja, schon. Auf jeden Fall.
Ist das von Vorteil im Sinne von Einblick haben, was muss ich machen, an wen muss ich mich wenden?
Ja und nein würde ich fast sagen. Leute, die ganz von der Literatur kommen, die mit dem Theaterbetrieb noch nichts zu tun hatten, fordern das Theater ganz anders heraus, weil sie gar nicht wissen, wie die Mechanismen funktionieren.
Inwiefern fordern sie?
Sie denken nicht in Konventionen. Denken auch nicht immer gleich die Umsetzung mit. Das ist auch ein Vorteil. Andererseits, wenn man weiß, wie Theater funktioniert, hat das auch seine Vorteile. Die Gefahr dabei ist nur, dass man betriebsblind wird. Man muss sich, auch wenn man viel mit Theater zu tun hat, immer wieder herausfordern, muss neu denken. Das Theater wächst auch immer mit den Herausforderungen. Die muss man stellen und nicht immer auch das Gefühl haben, etwas bedienen zu müssen.
Sie bedienen sich eines Pseudonyms, warum eigentlich?
Ein guter Freund von mir, Valentin Aigner, der bei Gunter Damisch Druckgrafik studiert hat, hat mich mal als Walross karikiert. Unter die kleine Skizze hat er „Schmalz“ hingeschrieben. Weil ich es in meiner Küche aufgehängt habe, ist es dann ein Spitzname im Freundeskreis geworden. Also der Name war schon lang vor dem Stück „am beispiel der butter“ da. Aber es hat schon was mit der deftigen Sprache in meinen Texten zu tun. Grundsätzlich interessiert mich an einem Pseudonym das Spiel mit der Autorenidentität. Wenn man als Autor auftritt, merkt man schnell, dass eine Geschichte gefordert wird, die zu den Texten passt. Was prägt einen? Was hat einen zum Schreiben gebracht? Wer ist man wirklich? Ich glaube, dass wir in jedem Kontext, in dem wir auftreten, Figuren von uns selbst spielen, mal weniger, mal mehr fiktive Geschichten von uns erfinden, sei es in der eigenen Familie, im Freundeskreis oder bei öffentlichen Auftritten, doch es bleibt immer ein unerzählbarer Rest von uns. Das Autorenpseudonym soll auf ironische Weise unterstreichen, dass es nur wieder eine weitere Figur von vielen ist, die man in seinem Leben spielt.
Die Stücke, die sie veröffentlicht haben, haben von ihrer Titelgebung her eine Affinität zu Lebensmitteln. Wie ist das zustande gekommen?
Die Titelidee für die Butter kam daher, dass ich gefunden habe, dass sich an den Lebensmitteln gesellschaftliche Entwicklungen zeigen. Man kann so etwas wie gesellschaftliche Entwicklungen erschmecken. Das hat mich interessiert. Was für jeden haptisch erfahrbar ist, muss man nicht in eine riesige Theorie packen, sondern man kann sagen: Die Butter schmeckt nicht mehr wie früher. Das hat schon eine Aussage, dass sich in den Produktionsbedingungen etwas verändert hat oder dass sich weiter darüber hinaus auch gesellschaftlich etwas verändert. Das war die Idee. Dosenfleisch klingt nur vom Titel her, als würde es noch einmal stark um Lebensmittel gehen. Dort ist es aber auf einer Metaebene angesiedelt. Darin geht es um drei Figuren, die vom Unfall angezogen sind, bei dem es um Blech und Unfallopfer – also Dosenfleisch – geht. Aber es spielt natürlich auch mit dem Lebensmittel. Was bedeutet es, Lebensmittel zu konservieren, was bedeutet es, Leben überhaupt zu konservieren? Wie viel Leben steckt noch in unseren Lebensmitteln? Auch das kann man sich einmal fragen. Und dann denke ich auch, dass Essen und Sprache auch sehr viel miteinander zu tun haben. Aus der Öffnung, in die wir unser Essen hineinstopfen, reden wir auch. Da könnte man sich ja auch einmal fragen, warum wir nicht aus der Nase reden oder aus den Ohren, oder nur mit den Händen. (lacht) Das liegt alles nah beieindander. Das Kauen, Worte zerkauen, Sprache und Essen zerkauen, hängt auch zusammen.
Essen Sie selbst gern?
Ja!
Welchen Zugang haben Sie selbst zu Lebensmitteln?
Ich versuche immer auch, so gut wie möglich, die Massenproduktionen zu umgehen. Wenn ich in die Steiermark nach Hause fahre, komme ich meist mit einem riesigen Sack Essen wieder zurück. Ich kenne dort die Produzenten direkt, kaufe auch beim Bauern direkt das Fleisch.
Sie sind in Admont zuhause. Sind Sie dort auch ins Stifsgymnasium gegangen?
Ja, genau. Ich hab dort auch im Schulspiel die ersten Theatererfahrungen gemacht.
War das für Sie förderlich oder hinderlich?
Das war förderlich. Ich hatte eine gute Deutschprofessorin, die leider letztes Jahr verstorben ist. Sie hat uns wach gemacht für sehr viele Dinge. Hat uns auch Bücher vor der Zeit gegeben. Andere haben gesagt: „Nein, das kann der noch nicht lesen“, aber sie meinte, „das ist genau das Richtige für dich“. Mit ihr hatten wir eine Schulspielgruppe. Dann gab es einen tragischen Schülerselbstmord. Wir hatten uns vorher entschieden, dass wir Wedekinds „Frühlingserwachen“ machen wollten. Dann stand das zur Debatte, ob wir das wirklich machen können. Es war aber eine gute Aufarbeitung. Da habe ich das erste Mal kapiert, was Theater kann und welches Potential es in so einem gesellschaftlichen Rahmen hat. Es war dort viel unaufgearbeitet. Viele Leute haben nur gewusst, dass es einen Selbstmord gegeben hat, sich aber nicht damit auseinandergesetzt. Während der Probenzeit hat sich dann auch noch ein dreizehnjähriger Schüler umgebracht. Das war schlimm. (schweigt einige Sekunden)
Stand für Sie schon früh fest, dass sie Schriftsteller werden wollten?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe eine Fachbereichsarbeit geschrieben zum Thema „Das radikale Volksstück in der 68er Generation“ – hab mich mit Peter Turrini und Wolfgang Bauer beschäftigt. Aus dem heraus habe ich Lust gehabt, mich theoretisch mit dem Theater zu beschäftigen. Ich hatte Lust zu erfahren, was Theater eigentlich ist, wie es funktioniert. Aus dem Impetus heraus habe ich angefangen, Theaterwissenschaft zu studieren. Ich bin aber draufgekommen, dass ich mit dieser Motivation einer Minderheit angehöre. Sehr viele Leute wollen Regisseure werden und schaffen die Aufnahmeprüfung nicht und finden sich dann in der Theaterwissenschaft. Oder Schauspieler, oder Filmemacher. Es heißt ja Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Und ich war einer der Wenigen, der richtig an Theorie interessiert war.
Haben Sie abgeschlossen oder studieren Sie noch?
Ich musste das aufschieben und jetzt läuft der Diplomlehrgang aus. Ich war schon kurz vor dem Diplom, was ein bissl ärgerlich ist und den Master muss ich mir jetzt auch aufheben.
Abgesehen vom Zeitaufwand – fanden Sie das Studium förderlich oder hinderlich fürs Schreiben?
Es war schon förderlich, finde ich. Ich habe aber auch meine Schwierigkeiten mit dem Studium gehabt. Aber das hängt damit zusammen, dass ich immer selber gerne entscheide, in welche Richtung meine Lektüre weitergeht. Man hat thematische Vorgaben und bei mir war das oft so, dass, wenn ich ein Buch gelesen habe, es für mich logisch war, etwas anderes weiterzulesen als das Vorgeschlagene. Da gab´s dann aber z.B. den Rahmen Griechische Tragödie, mit der ich mich auch sehr gerne auseinandersetze, aber manchmal ist es für mich dann wichtiger, nicht im thematischen Rahmen zu bleiben, sondern etwas Anderes weiterzulesen. An sich hat das aber meine Phantasie auch angespornt.
Sie verwendeten für das Stück im Schauspielhaus „Die Agonie des Friedens“ und für „am beispiel der butter“ zwei unterschiedliche Sprachmodelle. Ist die Lust und Freude am Experimentieren mit der Sprache für Sie auch ein wesentliches Element, um zu schreiben?
Ja, das finde ich schon. Ich suche immer nach unterschiedlichen Formen, je nachdem, was ich behandle. Einerseits ist immer der Versuch da, eine größere Dichte und Konzentration oder Intensitäten zu schaffen, was auch immer über Rhythmisierungen funktioniert. Durch einen Umbau des Satzbaues schaffe ich Irritationen. Das sind kleine Störfaktoren für den Schauspieler oder Sprecher, die die Konzentration steigern. Das ist für mich eine Suche, die nie aufhört.
Wie kommen Sie zu Ihren Themen?
Das ist unterschiedlich. Ich arbeite derzeit an einem neuen Stück. Dafür erzählte mir im Zug ein Typ von einem „Herzerlfresser“, der in der Nähe von Kindberg sein Unwesen getrieben hat. So etwas trage ich dann ewig lang mit mir herum und hab es im Hinterkopf. Dann merkt man, wenn einem etwas länger nicht in Ruhe lässt, dass das eigentlich ganz gut wäre, etwas drüber zu schreiben.
Das sind dann eher exogene Faktoren.
Ja, genau. Bei der Butter war es so, dass ich mit einem Freund eine Installation machen wollte. Bevor ich zu schreiben begonnen habe, arbeitete ich in einem Künstlerkollektiv, in dem wir Installationen, die wir auch mit Texten bespielt haben, machten. Da wollten wir damals selbst ein Butterdenkmal bauen. Wir haben das bei einer Off-space-Galerie in Wien eingereicht. Aber die waren nicht wirklich begeistert, 20 Kilo Butter in der Galerie über ein Monat stehen zu haben, die dann ranzig wird. Dann habe ich das wieder fallen lassen später aber wieder aufgegriffen. Es sind Themen, an denen ich schon dran war und zu denen ich später wieder zurückkomme. Es braucht oft ein, zwei Anläufe dass ein Stück draus wird.
Ihre Stücke sind mit sozialkritischen Komponenten versehen.
Ja, das sind oft Sachen, die mich beschäftigen und nicht in Ruhe lassen. Zum Beispiel die soziale Gerechtigkeitsvorstellung von Hans in „am beispiel der butter“ und seine Erfahrungen mit einem Souverän. Dorfsouveräne, das habe ich selbst am eigenen Leib miterlebt. Da gibt es Landfürsten, die über den Dingen stehen. Dass das auch mit einer größeren gesellschaftlichen Ordnung zu tun hat, finde ich ganz spannend zu verfolgen. Auch das noch einmal höher zu heben und zu fragen: Wie ist unsere Gesellschaft eigentlich aufgebaut, dass es das gibt?, finde ich spannend.
Es gibt ein Videointerview mit Ihnen, da fahren Sie mit einem Einkaufswagen durch einen Supermarkt. Darin sagten Sie, dass das, was in einer Kleinstadt passiert, auf die Gesellschaft im Allgemeinen umgelegt werden kann.
Auf jeden Fall. Ich wollte auch schon einmal ein Stück in Kaindorf spielen lassen, weil ich finde, dass das einen so guten Namen hat. Man könnte es ja auch mit „e-i“ lesen. Kein-Dorf. Mich interessieren eben Modelle. Manche sagen, wenn man zu modellhaft denkt, dann vereinfacht das alles. Aber die Vereinfachung finde ich auch ganz gut, weil sie wie eine Lupe funktioniert. Man kann dann schon genauer hinschauen, wie Mechanismen funktionieren. Gerade das lässt sich im Kleinen ganz gut erforschen. Das Theater ist für das modellhaft Beispielhafte oft ganz gut, weil es selbst auch einen Laborrahmen darstellt.
Wie geht es Ihnen damit, wenn Sie ein Stück in einer Art Kindesweglegung an einen Regisseur oder eine Regisseurin übergeben. Haben Sie damit ein Problem?
Grundsätzlich nicht. Ich sehe das vielleicht etwas lockerer als andere Kollegen. Weil ich mir auch denke, dass der Text ein gewisses Gerüst ist, das einmal steif, einmal weniger steif ist. Dann muss das erst mit Leben und Fleisch gefüllt werden. Eine ziemlich arge Erfahrung als Autor ist, dass man zuhause in seinem Kämmerlein sitzt und dann muss die Idee durch dieses Nadelöhr der Schrift. Man sitzt zuhause und hat eine Welt vor sich. Dann muss das auf Schwarz-Weiß ins Zweidimensionale herunter gebrochen werden, um dann wieder eine Riesenwelt zu schaffen. Das macht das aber auch wieder wahnsinnig spannend. Da muss man auch gewisse Tricks finden, wie man etwas in anderen Leuten auslöst. Man versucht ja auch, durch den Sprachgebrauch eine gewisse Körperlichkeit auf die Bühne zu bringen. Eine Körperlichkeit in ein absolut unkörperliches Medium hineinzuschreiben, ist auch eine lustvolle Aufgabe. Wenn unabgesprochen viel Fremdtext mit hineingenommen wird, ohne Autorenabsprache, was mir noch nicht passiert ist, dann verstehe ich, wenn Verbote herausgegeben werden, oder wenn man sagt: Gut, aber da bitte nicht mehr meinen Namen drüberschreiben.
In Amerika gibt es viel stärkere Regeln und härtere Gesetze, die den Autoren erlauben, viel stärker einzugreifen.
An sich finde ich es gut, dass es noch einmal einen Interpretationsspielraum für die Regie gibt und dass sie damit eine neue Perspektive auf den Stoff werfen. Ich kann mir schwer vorstellen, meine eigenen Texte zu inszenieren. Vielleicht muss ich mich da einmal widerrufen. Aber die Angst, die ich da hätte, ist, dass ich mich selbst dem Text gegenüber nicht fremd genug machen könnte. Gerade dass ein Text auch ein Geheimnis hat, ist auch wichtig für die Umsetzung. Manche Regisseure legen dann noch einmal einen ganz anderen Rahmen drüber und dann kommt noch eine Dimension dazu. Das macht das noch spannender.
Ist das für Sie dann wie ein Aha-Effekt?
Schon, auch, auf jeden Fall. Das war so beim Retzhofer Dramapreis. Der wird ja mit Workshops begleitet und das Eigenartige oder das Gute dort ist auch, dass man mit einem Text hinkommt und die anderen den Text lesen. Man darf nicht mitlesen, es wird einem selbst vorgelesen. Und dann diskutieren die anderen drüber und man darf nichts dazu sagen. Da ist man radikal aus dem eigenen Werk rausgeworfen und dabei ist es spannend zu sehen, was da überhaupt erst ankommt. Da muss man erst einmal umgehen lernen wie explizit man gewisse Sachen machen muss und auch wie wenig wahrgenommen wird. Oder manches, das man selbst nur als Detail erachtete, wird wieder von anderen als riesig wahrgenommen. Ich habe gerade ein Buch mit dem Titel „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahnemann gelesen. Es geht darum, wie Aufmerksamkeit funktioniert. Ich hab das auch im Zuge eines Schreibworkshops gelesen, weil es ja auch darum geht, dass man ja nur immer zwei Stunden Zeit hat. Und in diesen zwei Stunden muss man das Publikum maximal bei Aufmerksamkeit halten. Der Autor sagt, dass es grundsätzlich ein schnelles und ein langsames Denken gibt. Das schnelle Denken ist das reflexhafte Denken, bei dem man sofort in eingefahrenen Spuren ist. Dass man aber das langsame Denken zum Beispiel für komplexe, mathematische Funktionen braucht. Und da fällt dann eine gewisse Aufmerksamkeit weg. Er hat Versuche gemacht, dass er Leuten gesagt hat, sie müssen beim Basketballspielen zählen, wie oft der Ball wechselt. Und währenddessen ging einer mit einem Gorillakostüm über das Spielfeld. Das haben die Leute aber gar nicht wahrgenommen.
Beim Rezensieren von Stücken funktioniert das genauso. Ich weiß von mir, dass ich einen sofortigen Reflex habe, aber dass ich dann gerne auch einmal eine Nacht darüber schlafe. Dann kommen auch andere Assoziationen – wie zum Beispiel bei Ihrem Stück, das Sie für das Schauspielhaus geschrieben haben und das ja viele Anspielungen verschiedener Art enthält. Werden Sie eigentlich beim Stückeschreiben bleiben? Es gibt ja auch andere Texte von Ihnen.
Ich würde auch gerne ein bisschen Prosa schreiben, aber zur Zeit tun sich Möglichkeiten auf, die will man natürlich auch nutzen.
Sie erleben ja gerade einen richtigen Hype.
Ja, aber irgendwie hoffe ich auch, dass ich einmal Zeit habe, einen Roman zu schreiben.
Was ist für Sie die größere Königsdisziplin, der Roman oder das Theaterstück?
Schwer zu sagen, weil das so unterschiedliche Medien sind. Man kann auch nicht sagen, dass der Roman mehr Zeit braucht. Manche schreiben einen Roman in einem halben Jahr und es wird super. Aber ich glaube, wenn man sich eingehender mit einem Thema befasst, dann sind zwei, drei Jahre keine unrealistische Zeit. Man kann aber ganz anders erzählen, weil es nicht nur so diese komprimierte Zeit ist, die man im Theater zur Verfügung hat. Nach zwei Stunden ist ja auch die Aufmerksamkeit vom Zuschauer schon ein bisschen weg. Ich kann da fast keine Wertung machen.
Sie sind, so wie ich Sie gerade erlebe, ein sehr kommunikativer Mensch. Das Schreiben ist ja etwas Einsames. Finden Sie für sich eine schöne Balance?
Es geht. Ich glaube, es war früher noch viel schlimmer. Diese Schreibkammer, die abgeschottete, oder der Hölderlinturm, das ist nicht mehr ganz aktuell. Auch die Dramatiker haben früher ein Stück erst fertig geschrieben und sind dann zu den Theatern gegangen. Heute ist man viel mehr in Arbeitskontexten mit eingebunden, wenn man das will. Es gibt schon auch da wieder eine Bandbreite von Arbeitsweisen, aber ich bin z.B. mehrmals in der Woche in Gesprächen mit Dramaturgen, teilweise mit Schauspielern, die auch Ideen haben, dann mit der Lektorin, die Feedback gibt. So einsam, wie man sich das so romantisch vorstellt, ist es nicht mehr. Es gibt auch die Tendenz zu kollektiven Schreibmethoden. Das würde ich auch gerne mehr machen. Gerade im Internet gibt es jetzt neue Werkzeuge wie zum Beispiel das Google Docs, das von vielen Kollegen genutzt wird. Dabei hat man ein Dokument, auf das verschiedene Leute Administratorenrechte haben. Da kann man auch ein wenig changieren. Man kann jemanden einsetzen, der nur Kommentarfunktion hat oder Leute, die mitschreiben können. Dabei entwickeln sich ganz andere Arbeitsmethoden, die ich sehr spannend finde. Da würde ich eigentlich gerne mehr ausprobieren. Da schreibt man dann wirklich im Kollektiv. Mir wurde erzählt, dass man, während man einen Satz hineinschreibt, diesen z. B. jemand anderer, der auf der anderen Seite der Erde sitzt, gleich darauf wieder löscht. Der tippt den raus und überschreibt ihn wieder. Das ist eine ganz neue Arbeitsweise, die auch spannend ist.
Was ist in der nächsten Zeit geplant? Sowohl was das Schreiben angeht, aber auch die Umsetzung im Theater? 2015 kommt „Dosenfleisch“.
Ja, die Autorentheatertage haben das ausgeschrieben und es wurden drei Autoren ausgewählt. Wien, Zürich und Berlin bringen dann jeweils einen dieser Texte. Dosenfleisch wird wahrscheinlich in Wien am Burgtheater gemacht werden. Die Uraufführung ist während des Festivals in Berlin, und dann geht es nach Wien. Ich schreibe außerdem an einem neuen Stück, das „der Herzerlfresser“ heißen wird.
Ja, darüber haben Sie schon kurz erzählt. Die Steiermark ist für Menschenfresser offenbar ein guter Boden. Ich erinnere mich an einen Fleischhauer in Graz, bei dem vor ca. 30 Jahren zwei Briefträger verschwanden. Man fand Teile von ihnen in seinen Kühlanlagen, andere dürfte er verwurstet haben.
Grauslich und ich hab gehört, das jetzt auch wieder dieser Haarabschneider unterwegs ist.
Das ist ja auch etwas ganz Eigenartiges. Das Aneignen von etwas Originärem, Körperlichem von jemand anderem, vielleicht auch noch das Horten bedeutet ja eine extreme Machtausübung, die aber trotzdem ganz subtil bleibt.
Ich habe mich gerade in den Kannibalismus eingelesen. Das geschieht auch oft aus dem Wunsch und aus der Angst heraus, die Teile am sichersten Ort zu verwahren, den es gibt. Dabei gibt es auch Rituale, bei denen man die bösen Geister bannen möchte, indem man die Stücke auch zu seinem Eigenen macht.
Ich habe aber dennoch den Eindruck, dass es in ihren Arbeiten nicht am Einzelschicksal hängen bleibt. Sondern es geht ja zugleich immer ums Hinschauen, was sich in der Gesellschaft tut. Wir sind ja gerade noch unter dem Eindruck der Attentate die in Paris passiert sind. Glauben Sie, dass unsere Demokratien bestehen werden oder sehen Sie Gefahr in Verzug?
Ich glaube, dass wir gerade an einem Entscheidungspunkt sind, an dem alles offen ist. Es ist noch nicht alle Hoffnung verloren, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass die Leute an gewissen Punkten wieder Selbstvertrauen bekommen. Das hängt ganz stark mit Solidarität zusammen. Das hängt ganz stark damit zusammen, dass man nicht nur alles vom Individuum aus denkt, weil das ein wahnsinnig großes Problem wird, das auch systemimmanente Folgen hat. Das reicht schon in so viele Bereiche der Gesellschaft. Die Lebensmittelindustrie, die ich aufgegriffen habe, ist ja nur ein Teilbereich. Ich habe mich in letzter Zeit viel mit Einkaufszentren und Gewerbeparks beschäftigt. Daran merkt man, dass die Strukturen so ausgerichtet sind, dass wir nur als Einzelwesen dort existieren dürfen. Nur als Individuum uns wahrnehmen dürfen. Diese Räume, in denen man sich eigentlich begegnen kann, wo auch eine öffentliche Meinung entstehen kann, dieser öffentliche Raum wird nach meinem Gefühl knapper. Da braucht es in nächster Zeit ein starkes Bewusstsein, dass das sehr wichtig ist, auch dass Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. Gerade wenn wir über Migrationsfragen sprechen. Ich finde, das wird sofort auf eine Angstschiene gebracht, die aber auch wieder vereinzelt. Nach dem Motto – alles wird unsicher und man muss vor den „kriminellen Migranten“ sein Eigentum schützen. Dabei wird viel zu wenig auch von politischer Seite hingewiesen, dass das ein Problem ist, das wir gemeinsam lösen müssen. Das kann nicht durch irgendwelche Gesetze geregelt werden. Sondern da muss jeder irgendwie mithelfen und sich auch gegenüber den Leuten, die zu uns kommen, aus schlimmsten Verhältnissen, aus Kriegsgebieten kommen, solidarisch zeigen. Es gibt viele Probleme, auch den Umweltschutz, die man nur wieder über eine starke Gemeinschaft wird lösen können. Da braucht es, glaube ich, Grundkenntnisse darüber wie man miteinander umgeht, die verloren gegangen sind.
Elisabeth Bakambamba Tambwe wurde in Kinshasa geboren und kam als Kind mit ihren Eltern nach Frankreich. Sie studierte Bildende Kunst, arbeitete im Objektbereich und wechselte ihr Metier, weil sie das Publikum in ihre Räume und Installationen miteinbeziehen wollte. Im Tanzquartier präsentierte die Choreografin und Tänzerin im Jänner ihr neuestes Werk „Symposium“. Eine Arbeit, in der die Zusehenden mit einer Reihe von unterschiedlichen Szenen konfrontiert werden, die teils zum Mitmachen, aber vor allem zum Mitdenken anregen. Das Gespräch fand einen Tag nach dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo statt.
Die Künstlerin bedankt sich zu Beginn unseres Treffens dafür, dass wir das Interview in Französisch aufnehmen. Und unversehens beginnt das Gespräch, ohne konkrete Fragestellung, mit vollem Tempo. Französisch sei zwar nicht ihre Muttersprache, aber sie musste die Sprache rasch lernen, um sich zu integrieren, beginnt die Choreografin ihre Erläuterungen.
„Man spricht in Frankreich zwar von Integration, aber eigentlich ist das eher eine Assimilierung denn eine Integration. Man muss sich vom System richtiggehend „verdauen“ lassen. Es geht dabei darum, dass man in der Masse verschwindet und so auch besser kontrollierbar wird. Es ist viel mehr so, dass man versucht, die vorhandenen Unterschiede zu nivellieren. Wo bleibt aber da die „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?“ Mich irritiert, dass Frankreich die Unterschiede der einzelnen Völkergruppen nicht wahrnimmt, denn das ist ja der eigentliche Reichtum einer Gesellschaft. Das Ausland blickt auf Frankreich und sagt, wie toll dass doch ist, wie viele unterschiedliche Ethnien dort leben und wie gut das funktioniert. In Wahrheit gibt es diese pluralistische Gesellschaft aber gar nicht, weil die Integration gar nicht stattfindet. Was jetzt in der Gesellschaft passiert, ist auch charakteristisch. Es gab früher organisierte Bewegungen, die hauptsächlich arabischen Ursprungs waren. Heute gibt es viele kleine Gruppierungen, die nach und nach ins Leben gerufen werden und sogar faschistische Organisationen schwarzafrikanischen Ursprungs. Das gab es früher nicht. Das ist eigentlich der Ausdruck der Unzufriedenheit, die immer größer wird. Die Leute haben einfach genug und die Menschen wollen auf diese Weise ihre Unzufriedenheit äußern. Sie sagen jetzt: Wir haben unsere Rolle, unser Ausgesperrtsein wohl verstanden, aber was können wir jetzt machen? Um weiter zu kommen, werden gewisse Klischees einfach beibehalten. Man ist jetzt in einer ganz absurden Situation. Denken Sie an die Menschen, die wir jetzt gerade verloren haben, das ist ganz unglaublich. Cabut, Wolinski, alle diese Leute. Das waren Menschen, die haben meine Jugend begleitet. Sie sind immer gegen den Extremismus aufgetreten, gegen die Front Nationale, gegen den Islam und nun sind sie getötet worden. Das ist schrecklich.
Das hat auch mich als Journalistin extrem getroffen, betroffen gemacht.
Seit dem Krieg in Algerien gab es keine vergleichbare Situation. Ich verstehe nicht, wie es so weit kommen konnte. Hier wiederholt sich die Geschichte. Man kennt die Konsequenzen, aber die Menschen sind wie Schafe, die immer dasselbe machen, sie haben aus der Geschichte nichts gelernt. Das ist eine Kritik an Europa, aber eine ganz spezielle an Frankreich. Ich schaue ja auch, was in Afrika los ist. Der Kongo hat Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Der Kolonialismus und die Diktatur haben sich auf das Denken der Menschen ausgewirkt. Man muss erst einmal wieder den Geist entkolonialisieren, bevor man die Körper in eine Autonomie entlassen kann. Erst muss der Geist die Freiheit suchen, dann ist man erst fähig, sich seinen eigenen Freiraum zu schaffen. Man spricht jetzt oft vom afrikanischen Kommunitarismus. Aber tatsächlich herrscht ein unglaublicher Individualismus. Die Leute haben unglaublich Angst, dass es ihnen an etwas fehlt. Man kümmert sich reflexartig zuerst einmal um seine eigene Familie. Und wenn was überbleibt, dann schaut man weiter.
Sie haben in Ihren Arbeiten immer politische Momente. Sie haben auf der Bühne bei „Symposion“ eine Riesenschlange gezeigt, die ein schwarzes Tier verschlang und dabei einen Teil eines Textes von Sarkozy lesen lassen, der wirklich ganz unglaublich ist und den ich vorher nicht kannte. So etwas ist für mich ein explizit politisches Zeichen.
Ich weiß nicht, ob das wirklich der richtige Begriff ist. Ich selbst fühle mich nicht politisch. Mein Gefühl bringt mich dazu nachzudenken, wie es um die Beziehung zu den anderen Menschen steht. Ich sehe, dass die Angst vor dem anderen wächst und dass diese Angst über die Grenzen der Hautfarbe hinausgeht. Eine Angst vor dem anderen, der anders ist als man selbst. Diese Angst wird von den Medien noch kultiviert. Aber eigentlich müsste man gerade den Reichtum dieser Unterschiede erkennen. Gerade diese Unterschiede erlauben eine Dynamik und eine Vielfalt und bedeuten einen Zugewinn. Wenn man einmal zu einer Integration kommt und diese Unterschiede zulässt, dann kann man eine Gemeinschaft bilden. Wenn man aber den anderen dazu zwingt, im selben Rhythmus zu funktionieren wie man selbst, dann reduziert man die Kapazität des anderen einfach und macht sie zunichte. Dann hat man eine Art von Marionette vor sich. Das funktioniert einfach nicht. Es ist wichtig, dem anderen Freiraum zu geben, seinem Rhythmus auch Freiraum zu geben. Ich glaube, das ist wichtig.
Man hat dein Eindruck, dass Sie Ihren Tänzerinnen und Tänzern tatsächlich einen eigenen Rhythmus und eine große Freiheit zugestehen. Kann man das mit der Arbeit vergleichen, die auch Robyn Orlin pflegt, mit der Sie ja auch zusammengearbeitet haben?
Elisabeth Tambwe im Stück „In a world of butterflies it takes balls to be a caterpillar … some thougts of falling …“ (Foto: Thomas Lachambre)
Das ist etwas anderes. Ich werde Ihnen erzählen, wie ich arbeite und wie ich mit Robyn zusammenarbeite. Ich habe eine klare Struktur im Kopf, die es gilt zu destrukturieren, neu zu artikulieren, um eine andere zu rekonstruieren. Ich glaube, dass es nicht nur eine Art und Weise gibt ein Stück zu sehen und zu interpretieren. Normalerweise sind alle Rituale dazu da, eine Performance zu kreieren. Ich versuche aber eine Modifikation. Ich versuche alle Schubladen wegzulassen. Natürlich sprechen wir in Symposium von Freiheit. Aber das heißt nicht, dass man machen kann, was man will. Wenn das so wäre, dann käme diese Freiheit nicht zustande. Es ist ein richtiges Ballett der Körper, das hier kreiert wurde, das ist auch die Schwierigkeit des Stückes. Eigentlich wollten wir bei jenem Stadium beginnen, das sich vor der Show ereignet, vor dem großen Moment. Vor diesem großen Moment passieren Fehler. Wenn man dem Publikum zu Beginn schon die Plätze zuweist, dann funktioniert das nicht. Deshalb kann es sich zu Beginn mit den Performern auf der Bühne kreuzen. Auf der einen Seite arbeitet einer in einem Kostüm, auf der anderen Seite kommt einer im Trainingsanzug, ein Techniker marschiert über die Bühne, überprüft etwas. Es war wichtig, dass die Techniker nicht zu Performern werden, sondern dass sie tatsächlich Techniker bleiben sollten, welche verschiedene Elemente während der Show wieder an ihren Platz bringen. Das war wichtig, deswegen haben wir mit ihnen nicht gespielt. Zusammen haben die Performenden überlegt, haben wir verschiedene Improvisationen ausprobiert, die dann festgehalten, sie bereinigt, je nachdem, was ich in der Szene zeigen wollte.
Bei Robyn ist das anders. Sie gibt ihren Tänzern viel mehr Freiheit, da wird einem richtig schwindlig dabei. Robyn hat eine Idee und arbeitet viel mit den einzelnen Personen. Es gibt dann eine Diskussion, die dann auch auf der Bühne präsent ist. Zum Schluss findet sie einen goldenen Mittelweg, der dann im Endeffekt präsentiert wird. Man hat bei ihr das Gefühl, als ob das Stück das zur Aufführung kommt, von uns wäre. Wenn ich für Robyn performe, performe ich nicht für sie. Es ist dann auch meine Arbeit. Sie sagt: Ich gebe dir die Freiheit – was machst du daraus? Robyn möchte immer, dass man Stellung bezieht. Und es geht bei ihr auch immer um eine Rangordnung. Vielleicht hängt das mit Robyns Geschichte in Südafrika zusammen. Robyn gibt die Freiheit, sagt aber auch: Passt auf, das kann euch auch von innen heraus verschlingen. Einige Tänzer, die mit ihr gearbeitet haben, haben ein überdimensioniertes Ego gehabt und haben gedacht, sie wären der Ursprung von allem gewesen. Aber man muss aufpassen. Zwischen der Position des Tänzers und des Choreografen gibt es einen Unterschied. Als Tänzer bringt man Elemente auf die Bühne mit. Obwohl man aber Ideen mit auf die Bühne bringt und miteinander diskutiert, bleibt man trotz allem ein Instrument. Es kann aber auch eine Beziehung zum Choreografen geben, die von Anfang an klar ist, bei der man als Co-Autor mitarbeitet. Je besser man seine eigene Position versteht, umso mehr Freiheit hat man, glaube ich. Wenn das nicht der Fall ist, kommt es sehr schnell zu Frustrationen. Und das spürt man schnell im Werk selbst.
Robyn hat mir die Möglichkeit gegeben, die afrikanische Materie auf eine andere Art und Weise zu sehen und das mit meinen Erfahrungen in der europäischen Kultur zu verbinden und darzustellen. Robyn kommt aus Südafrika, wo es eine starke ethnische Durchmischung gibt und ich hatte bei ihr die Möglichkeit zu sehen, wie man auch mit schwarzem Humor etwas zum Ausdruck bringen kann. Für mich war das sehr wichtig, weil das manches Mal auch erlaubt, über schwierige und schmerzhafte Themen zu sprechen, aber auf einer anderen Ebene, auf der man die Nachricht dann übermittelt.
Was sind das für Themen?
Die Negierung an sich, das Verstecken. Aber auch die Negierung Afrikas. Die Rede von Sarkozy, die ich in meinem letzten Stück zum Teil zitiere, ist etwas, was man so gar nicht zeigen kann. Das war für mich die obszönste Art und Weise, über Afrika zu sprechen. Darin werden nur Klischees aufrechterhalten und die Idee des Fortschritts komplett begraben. (Anm: Sarkozy hielt 2007 in Dakar eine Rede, gespickt mit kolonialistischem Gedankengut des 19. Jhdts., die in Afrika großes Entsetzen auslöste) Ich glaube, dahinter steht der Wille, den anderen gar nicht richtig anzusehen und ihn nicht zu achten. Auf diese Art und Weise kommt man zu dieser Sprache. Wie kann man sagen, dass es schade ist, dass Afrika nicht in die Geschichte eingegangen ist? Wie kann man 2007 so etwas sagen! Obwohl Frankreich eine Geschichte mit vielen afrikanischen Ländern hatte. Afrika war während der beiden Weltkriege präsent, in großen, historischen Momenten. Afrika hatte Teil an großen Veränderungen, an der Revolution. Viele afrikanische Wissenschaftler haben auch an Forschungen teilgenommen. Wenn man so spricht, wie Sarkozy es tat, annulliert man diese Teilhabe und macht sie mit ein paar Wörtern zunichte. Was bedeutet das für die jetzige Generation? Sie wird einfach entwertet. Die ganze Pluralität wird negiert und eine Hierarchie wieder aufgebaut, in der Afrika nur einen Platz ganz weit unten einnimmt. Wenn man so etwas hört, dann haben die Menschen Mühe, ein Selbstwertgefühl zu kreieren. Das macht Angst. Deshalb sind die Leute auch unzufrieden. Viele leben in Frankreich und Europa und haben dort ihren Alltag. Sie sind glücklich darüber und leben wie die anderen auch. Das Bild, das aber weitergegeben wird von Afrika und den Afrikanern, zum Beispiel im Kino, ist nie wertsteigernd, sondern ganz im Gegenteil. Man kultiviert das Bild von einem kindlichen und naiven schwarzen Körper. Man nimmt dem Afrikaner jede Art von Gedanken und reduziert ihn auf einen Körper. Einen Körper, den man manipulieren kann. Und man projiziert auf ihn, was man projizieren will. Seine eigene Angst, seine Wahnvorstellungen und so weiter.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie in Österreich freier sind?
Was die Freiheit in Österreich betrifft, diese Frage bringt mich jetzt aus dem Gleichgewicht. Als ich nach Österreich kam, habe ich die Leute als sehr kalt und distanziert empfunden. Ich habe sehr schnell verstanden, dass es hier eigentlich um eine totale Unkenntnis des anderen geht. Österreich hatte ja keine Kolonien, aber es gibt hier andererseits auch nicht dieses Schubladendenken. Europa möchte heute aber im übertragenen Sinne lauter Schubladen bauen. Alles organisiert bekommen. Ich wurde in Österreich als Künstlerin wahrgenommen und nicht als Afrikanerin. Ich bin aber etwas verwirrt, wenn ich hier auf afrikanische Themen reduziert werde. Ich glaube aber, dass meine Arbeit darüber hinaus geht. Mir geht es darum, wie man ein Volumen in den Raum setzt. Meine Arbeit hat etwas Skulpturales. Es geht um die Beziehung zueinander, die unterschiedlichen Standpunkte. Nicht um die Beziehung von Schwarz und Weiß, sondern ich möchte über dieses Bild hinausgehen, es ersetzen. Ich frage mich, warum es sofort um eine soziale Fragestellung geht, wenn ein schwarzer Körper auf die Bühne kommt. Die Leute können da offenbar nicht über ihren Tellerrand hinaussehen. Hinter meinen Arbeiten steckt aber ein künstlerisches Programm. Ich kreiere das Stück, bringe meine Geschichte ein, manipuliere die Körper. Von Anfang an inkludiere ich das Publikum, aber auf eine aktive Art und Weise.
Ist es schwer, mit dem Publikum zu arbeiten?
Nein, die Schwierigkeit steckt nur am Beginn. Wenn man glaubt, mit dem Publikum gemeinsam etwas entdecken und kreieren zu können, stellt man fest, dass das nur ein Phantasma ist. Man hat zu Beginn ja keine Liebesbeziehung zum Publikum. Man braucht ein wenig Zeit, man muss sich gegenseitig beschnuppern.
Hängt die Reaktion nur vom Publikum ab, kann diese auch unterschiedlich ausfallen?
Das hängt auch von uns ab. Am ersten Abend lief der Beginn eher ruhig und schüchtern ab. Am zweiten Tag war man schon unbefangener. Auch weil man einiges vom ersten Tag verstanden hat und gewusst hat, dass man einiges ändern kann. Das sind oft nur ganz kleine Dinge.
Sie haben Bildende Kunst studiert. Wie sind Sie zum Tanz gekommen, wann haben Sie sich entschieden als Choreografin zu arbeiten?
Ich habe mich immer mit dem Volumen und dem Raum beschäftigt. Ich habe viel mit der Idee gearbeitet, wie man einen Raum organisch darstellen kann. Wie man ein Volumen schaffen kann, das den Raum ausfüllt. Bis in jede kleinste Ecke. Meine Arbeit zielt darauf ab, die ideale Form zu finden, um den Raum absolut auszufüllen. Ich kreierte als bildende Künstlerin Volumen, die man verändern konnte. Mobile Skulpturen, die jedes Mal auf verschiedene Art und Weise artikuliert wurden. Ich wollte die Decke und den Fußboden miteinander in Verbindung bringen. Und ich wollte das Publikum, die Zusehenden, zum Tanzen bringen. Ich wollte, dass sie z.B. etwas ganz Kleines ansehen, dass sie die Augen zumachen, auf allen Vieren marschieren. Ich hatte eine konische Form gebaut, die innen dunkel war, in die man hineingehen konnte. Das war eine Arbeit, die sich sehr auf den jeweils anderen konzentrierte. Nach und nach wollte ich mich selbst mit einbringen, wollte, dass die Zusehenden tanzen. Ich habe Kurse genommen, um selbst mehr zu tanzen. Ich habe zuerst mit klassischem Tanz begonnen, da ich meinte, dass der klassische Tanz eine sehr wichtige Stellung hätte. Als ich aber in dem Kurs war, hat man mir zu verstehen gegeben, dass ich dort komplett fehl am Platz sei. Ich entsprach niveaumäßig überhaupt nicht und für Anfänger gab es keinen Kurs. Dann kam ich zum Modern Jazz. Das hat mir überhaupt nicht gefallen, die Absicht, die dahinter stand gefiel mir nicht.
Sie waren auf der Suche.
Ja, ich wollte mich einfach bewegen, sehen, was zum Beispiel mit der Hand passiert, mit dem Körper arbeiten, ihn modulieren. Und eines Tages habe ich mit einem super Schlagzeuger gesprochen, der afrikanische Percussionsinstrumente spielte und der in einer afro-kubanischen Band arbeitete. Er hat mir vorgeschlagen, mir den afrikanischen Tanz anzusehen. Das war in Belgien, da waren viele Leute. Und es war super, außer dass ich komplett steif war. Ich stand wie ein Stock immer auf den Zehenspitzen und hatte meine Füße nie wirklich am Boden. Ich, die ich mit klassischem Tanz nichts am Hut habe! Das war so eigenartig, dass die Menschen, die da waren, mich angestarrt haben, wenn ich mit ein oder zwei anderen getanzt habe. Sie meinten, das sei ja gar nicht möglich, dass sich eine Afrikanerin nicht bewegen könne. Das war eine richtige Blamage und ich habe mich geschämt. Aber ich beschloss, dort zu bleiben und den Kurs fertig zu machen und es war mir egal, ob ich mich dabei lächerlich machte. Es war sehr, sehr schwer. Aber ich habe es geschafft. Ich habe verschiedene Ateliers gestartet, mit Kindern, mit Jugendlichen. Ich war mit einer Truppe in Belgien unterwegs, dann in Italien und nach und nach begannen die Leute mit mir zu arbeiten weil sie mit mir als Person arbeiten wollten. Sicher auch weil ich groß bin, Afrikanerin etc. etc. So kam ich immer mehr in den zeitgenössischen Tanz. Aber mich hat nicht so sehr die Handschrift des zeitgenössischen Tanzes interessiert. Mich hat mehr interessiert, wie der Körper funktioniert. Wie man ihn deartikulieren kann. Ich wusste, dass ich auf diese Art und Weise eine eigene Handschrift kreieren konnte. Wenn ich mir eine Schule angeeignet hätte, dann hätte ich mich selbst verloren. Ich konnte aber etwas aus der plastischen Kunst einbringen.
Der Körper und der Raum sind für Sie das Wesentliche schlechthin.
Ja, der Körper ist wesentlich, weil er viel zum Ausdruck bringt. Man spricht sehr viel von dem, was man nicht sagt und was man zu verstecken, zu verschleiern oder zu umgehen versucht. Aber in Wirklichkeit bringt der Körper immer auch das zum Ausdruck, was man verstecken möchte. Auf irgendeine Art und Weise kommt das immer zum Ausdruck. Manchmal auch auf eine perverse Art und Weise. Wenn man so sehr versucht, etwas zu verstecken, kann es manchmal sogar ganz pervers zum Ausdruck, an die Oberfläche kommen. Das ist so, als ob der Körper leck wäre und das zu Versteckende durchschwitzt. Oder man hat die Entscheidung getroffen, sich selbst im Spiegel anzusehen und sich die Frage zu stellen, wer man eigentlich selbst ist. Das ist der schwierigste Moment überhaupt. Vor allem, wenn man dreißig vierzig Jahre lang das vermieden hat. Wenn man diese Entscheidung trifft, alles offen legen möchte, wenn man ein neues Leben beginnen will, das ist dann der schwierigste Moment. Aber wenn dann alles rauskommt, dann ist das wie eine totale Befreiung des Körpers. Obwohl das der schwierigste Moment ist, setze ich das fast mit einem Orgasmus gleich. Man kann das auf unterschiedliche Art rauswerfen und losbringen. Manchmal ist das richtig Scheiße, manchmal ist es wie ein negatives Gepäck, das man mit sich trägt. Eine Last unserer Eltern oder der Geschichte, ein negatives Erbe. Manchmal muss man dieses Gepäck einfach aufmachen und ausleeren. Wenn man das schon macht, dann ist es gut, dass man dieses Gewicht positiv nützt, und einen Sockel draus macht. Scheiße zu Gold machen, könnte man sagen. Schließlich ist das ja auch seine eigene Vergangenheit, die man da öffnet und auf die man schaut. Aber erst auf diesem Sockel kann man sich selbst richtig aufbauen. Was man darauf aufbaut, das erhebt sich dann auch im übertragenen Sinn des Wortes. Weil sich das auf emotioneller Ebene erhebt. Weil man dann einen philosophischen Bezug zum Leben bekommt.
Was sind Ihre neuen Projekte?
Ich hoffe, dass das Stück auf Tournee gehen kann. Noch ist nichts sicher. Ich warte auf die Bestätigungen. Wenn nicht, dann arbeite ich einfach weiter. Ich arbeite an einem Theaterstück, in einem Tanzraum, füge alle Elemente hinzu, die ich liebe. Ob das Musik ist, oder der Körper, der in Bewegung ist und dann geht es auch wieder um Strukturen. Wie schaut man auf ein Stück? Diese Idee, die ich auch in Symposium hatte, möchte ich hier noch erweitern. Auch im neuen Stück möchte ich die Pluralität der Performer wieder zeigen. Es geht immer darum, dass man in sich selbst, um sich selbst und mit sich selbst arbeitet. Ich werde mich mit Themen beschäftigen, die mich seit Jahren nicht in Ruhe lassen und die mich verfolgen, so wie zum Beispiel die Skulptur. Und eine Arbeit mit Robyn ist auch geplant.
Haben sie das Gefühl, dass das Publikum mit Symposion Schwierigkeiten des Verstehens hat?
Adriana Cubides in Elisabeth B. Tambwes Stück „Symposion“ (Foto: Christopher Ohmeyer)
Man kann in dem Stück viel sehen. Als ich das Stück zusammengesetzt habe wollte ich eine Erzählung verhindern, ich wollte es dem Publikum auch nicht bequem machen. Ich wollte keine Frustration bereiten, vielmehr eine Stimmung kreieren, in der Fragen entstehen können. Es ist vergleichbar mit dem Prinzip der Masturbation. Ich versuche das mit den Sesseln zu zeigen. Man versucht, an einen gewissen Punkt zu gelangen, man weiß, dass wird dann ganz toll sein, aber man erreicht das nicht wirklich. Man muss eine Szene nach der anderen sehen, um dann zum Schlusspunkt gelangen zu können. Wenn ich die einzelnen Szenen weiterentwickelt hätte, dann hätte ich vielleicht fünf Stücke bekommen. Für jede Szene ein Stück. So war das Timing so ausgelegt, dass es gerade ausreichte, um eine Frage stellen zu können. Die Dramaturgie entwickelt sich rund um die Idee. Es geht zuerst darum, den Raum zur Fragestellung zu öffnen. Den andern einzuladen, versuchen, ihn hinzusetzen. Alle Personen müssen eingeführt werden. Wie in einem Filmdurchlauf. Alle gehen vorbei, als ob sie gecastet würden. Und schließlich landet man bei der Sarkozy Rede. Einer Rede, die so obszön ist, dass das ja überhaupt gar nicht geht. So etwas kann man nicht sagen. Das Publikum könnte erwarten, dass man nun die Idee dahinter weiterentwickelt. Aber das kann ich nicht. Das Prinzip ist, dass die Szenen nacheinander einfach weiterlaufen. Es geht nicht darum, das Publikum zu beruhigen und ihm Sicherheit zu geben, aber in den einzelnen Szenen arbeite ich sehr stark mit Emotionen und Gefühlen. Ästhetisch habe ich mich an die 80er Jahre angelehnt. Die Musik war sehr sinnlich und emotional aufgeladen und auch die Jungen heute hören wieder diese Musik. Sie erzählt manches Mal von Verzweiflung und einiges darin ist ja wirklich auch sehr roh. Dann gibt es auch tänzerische Elemente des Modern Jazz, der vom Ursprung her auf dem afrikanischen Tanz basiert. Ich wollte von den Tänzern das herausholen, was ihnen im zeitgenössischen Tanz amputiert wurde. Ich möchte all das in das Stück bringen, das versteckt ist, all das, was keiner wissen will. Das Publikum, das einmal in seinem Sessel sitzt, möchte gleich die Show haben. Aber ich gebe die Pornohefte aus, um zu zeigen, die kannst du dir einstweilen einmal ansehen, denn wir sind eigentlich noch nicht so weit. Man kommt ja auch nicht gleich zu einem Orgasmus. Das muss sich entwickeln. Man masturbiert ein wenig usw. bis sich alles nach und nach entwickelt. Ich habe zwei Jahre an dem Stück gearbeitet. Deswegen hat es verschiedene Schichten. Es hat für mich auch etwas mit dem Kunstmarkt an sich zu tun. Heute haben die Leute unglaubliche Angst, ein Risiko einzugehen. Am besten ist es, wenn die Stücke ein gewisses Format haben. Auch wenn Stücke unkonventionell beginnen, muss im Verlauf irgendwann der große Knall kommen. Dann muss der Choreograf zeigen, war er wirklich kann. Immer muss man einen Beweis abliefern, aber ich habe nichts zu beweisen, überhaupt nichts. Das war glaube ich nicht so klar. Ich habe eine Freundin gefragt, ob ich Bilder projizieren soll. Bilder von schwarzen Wissenschaftlern, von Aristokraten, von Schwarzen, die im Mittelalter durch Europa gereist sind. Weil die Referenzen, die immer wieder kommen, Klischees über Afrika sind, Afrika zur Zeit der Kolonisation und der Sklaverei beschreiben. Die Leute wissen gar nicht, dass es zuvor schwarze Aristokraten gab, dass es Komponisten gab. Es gab vor Mozart z.B. Chevalier St. George, einen Schwarzen, der komponierte. Warum nannte man Mozart nicht „den weißen Chevalier St. George?“ Mozart und er kannten sich, weil er der Lehrer von Marie Antoinette war und ein Revolutionär. Solche Bilder wollte ich eigentlich projizieren. Aber die Antwort meiner Freundin war kategorisch: Elisabeth, du hast ja nichts zu beweisen. Warum möchtest du beweisen, dass die Schwarzen auch Franzosen sind? Aber so denke ich. Mein Denken ist einfach vielfältig. Ich denke nicht stromlinienförmig. Ich bin nicht nur Choreografin und Tänzerin. Ich habe Kinder. Während ich koche, schreibe ich meine Projekte. Mein Mann möchte gleichzeitig, dass ich das und das mache. Dann habe ich meine Familie im Kongo, um die ich mich kümmere. Wir sind einfach komplett vielfältig angelegt. Warum sollen wir das zurückhalten und unterdrücken? Nur weil es dann komplex wird und schwerer verständlich? Und weil die Komplexität schlecht zu verkaufen ist? Ja, vielleicht ist das Stück ein wenig schwierig, aber gleichzeitig auch toll für jene, die mit ihrem Gehirn nicht masturbieren, die sich auf die Szenen einlassen können und ihre Gefühle zulassen können.
Würden Sie sich als Philosophin bezeichnen, die sich Gedanken rund um den Tanz macht?
Oh, nein, nein! Ich denke viel, weil ich etwas mache. Wenn man nichts macht, muss man auch nichts denken. Etwas zu machen bedeutet für mich nicht nur, Dingen einen Platz zuweisen. Man macht etwas, wenn man die Notwendigkeit dafür spürt. Wenn man diese Notwendigkeit nicht sieht, dann wird es auf der Bühne leer. Ganz leer. Aber über die Leere zu sprechen kann wiederum auch viel bedeuten. Es gibt Menschen, die das können. Andere scheitern dran, weil es zu geschwätzig wird.
Möchten Sie den Leserinnen und Lesern gerne etwas mitteilen?
Da bin ich jetzt überfragt, muss kurz nachdenken. Ja, wenn ich an die Pornographie denke, dann frage ich mich, warum es möglich ist, pornographische Zeitschriften, mit einem für mich unglaublich gewalttätigen Inhalt, einfach überall auf der Straße zu kaufen. Warum aber darf man das nicht öffentlich machen, nicht darüber diskutieren? Warum dürfen wir das nicht überall affichieren, wenn es dabei doch um die Ausbeutung von Menschen geht? Das ist ein Beispiel für eine Negation, ein Zudecken. Meine Kinder sind Afro-Europäer, die hier aufwachsen und hier die afrikanische Seite nicht um sich haben. Aber diesen Teil von ihnen zu negieren und zu unterdrücken, würde bedeuten, ihn zu verleugnen. Damit macht man sie aber noch verwundbarer. Das wären ja dann ganz verlorene Kinder. Viele Kinder, die Eltern aus unterschiedlichen Kulturen haben, haben es schwer, ihren Platz zu finden. Aber eigentlich müsste man zwischen diesen beiden Polen spielen können. Sie sind weder das eine, noch das andere – aber das, was sie sind, hat eine unglaubliche Kraft. Wenn man diese Schwarz-Weiß-Mischung so auffasst, dass ein Teil stark und der andere Teil schwach ist, dann stimmt das nicht. Aus diesem Grund ist die positive Vorstellung wichtig, ist es wichtig, welche Bilder man vermittelt.