Das Ensemble "Solistes XXI" in der Kirche St. Pierre le Jeune (c) Philippe Stirnweiss
Eine der bemerkenswertesten Uraufführungen zeitgenössischer Musik in diesem Jahr war am 6. Oktober 2010 in der Kirche St. Pierre le Jeune in Straßburg zu erleben. Die „Solistes XXI“ unter Rachid Safir führten das Stück „Mon commencement est ma fin“ – zu Deutsch – „Mein Anfang ist mein Ende“ des französischen Komponisten Philippe Leroux auf.
Dieser verfasste ein Werk rund um eine Motette von Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377) mit demselben Namen, welcher dieser zu seinem eigenen Text geschrieben hatte. Darin verweist er auch sprachlich auf eine Rondeauform, die sich in ihrem Schluss ihrem Beginn gleicht. Neben dieser Basis verwendete Leroux jedoch noch Stücke von 5 weiteren Komponisten, sowie weitere von de Machaut selbst, die er teilweise im Original beließ und teilweise überarbeitete und setzte ihnen eigene Kompositionen gegenüber. Das Spannende daran war, dass sich unter den insgesamt 25 Kompostionen 5 völlig eigenständige von Leroux befanden. 10, bei denen er eine Überarbeitung des Originales vorgenommen hat, 9 welche in der Originalversion erklangen und eine, die von Pierre Boragno als Improvisation über das Hauptthema eingefügt wurde und die dieser auf dem Dudelsack beisteuerte.
Gerade die Verschränkung dieser musikalischen Arbeit war es, die den Zauber des Werkes ausmachte. Aber bei weitem nicht nur das. Das Ensemble „Solistes XXI“ sang und spielte, als ob Engelszungen im Raum gewesen wären. Verkörperten Liebe und Angst, Lust und Leidenschaft, Wahnsinn und Entrückung in allen nur erdenklichen klanglichen Facetten. Die zu Beginn, als das Publikum noch in die Kirche strömte, eingespielte Sprachkulisse, ließ dieses auf ein ungewöhnliches Ereignis einstimmen. Nacheinander nahmen die Sängerinnen und Sänger beinahe unbemerkt verteilt in den Kirchenbänken Platz, um sich dann, nach einem kurzen gesanglichen Intermezzo von den eingenommenen Plätzen aus, in Richtung Bühne vor dem Lettner zu bewegen. St. Pierre le Jeune ist eine jener wenigen Kirchen in Frankreich, in welcher diese architektonische Bereicherung, vor der sich einst nur das gewöhnliche Volk, dahinter aber der Klerus versammelte, erhalten geblieben ist. Die Tridentinische Reform im 16. Jahrhundert, die als Antwort auf die Reformation reagierte, ließ die Funktion des Lettners auf, woraufhin viele eingerissen wurden. In der Straßburger Kirche bot sie an diesem Abend auch die Möglichkeit, die Stücke von Leroux mit moderner Beleuchtung noch hervorzuheben. Auf die schönen Renaissancemalereien wurden bunte Farbschlieren geblendet, die einen zusätzlichen, optischen Akzent boten. Während des ersten Stückes unterstrichen die Interpreten ihren Gesang mit Gesten, welche die mittelalterliche Notation in eine wunderbar einfache Bildsprache übersetzten.
Leroux´s Kompositionen wurdens stets von einem deutlich hörbaren Aus-und Einatmen der Sänger angekündigt, bzw. verabschiedet. Ein besonderes Hörerlebnis, welches tatsächlich einen transzendenten Charakter besitzt, der das Publikum auch dazu veranlasste, sich extrem leise zu verhalten. Viele der kurzen Stücke, die sich ganz stark dem gesungenen oder auch gesprochenen Wort unterwarfen, wiesen eine immer wieder kehrende Gemeinsamkeit auf: ein auf- oder absteigendes Glissando, das durch die reinen und perfekten Stimmen eine unglaubliche Schönheit entwickelte. Die Geschmeidigkeit der beiden Sopranstimmen und ihr außergewöhnlicher Einsatz ließen Staunen und Aufhorchen. Hélène Decarpignies und Raphaële Kennedy wechselten innerhalb von Sekunden den stimmlichen Ausdruck zwischen wilder Raserei, Flüstern und Wohlklang – eine bewundernswerte Leistung, die ein Höchstmaß an Können erforderte. Ihnen standen der Countertenor Damien Brun, die Tenöre Laurent David und Stephan Olry, der Bass Marc Busnel sowie der Bariton Jean-Christophe Jacques in nichts nach. Aber ohne Caroline Delume an der Laute, Hager Hanana am Cello und der Fiedel, sowie Pierre Boragno an den Flöten und dem Dudelsack wäre der Hörgenuss nicht ganz so groß gewesen. In perfekter historischer Musizierpraxis unterstrichen sie die jeweiligen Harmonien, boten rhythmischen Halt und ließen in solistischen Darbietungen die Schönheit des Originals, aber auch die atemberaubende neue Interpretation der Musik in das Kirchenschiff verströmen.
Die Erarbeitung dieses Werkes erforderte eine intensive Probenarbeit und die Exaktheit, der Liebreiz und die Pracht, die in dieser Aufführung vorexerziert wurde, kann von den Interpretinnen und Interpreten nach eigenen Aussagen noch höchstens 1 Woche aufrecht erhalten werden. Danach müssten erneute Proben intensiv aufgenommen werden um so, wie an diesem Abend, an der Partitur bleiben zu können.
Mögen Zeitgenossen Leroux vielleicht des wohldurchdachten Kalküls bezichtigen, historische Musik als Ohrenöffner und –schmeichler der Seinen gegenüberzustellen und schon alleine dadurch das Publikum zu fangen – man soll ihnen diese Aussage beruhigt nicht aus dem Mund nehmen. Dieses Kalkül ging voll und ganz auf, aber nicht in einer platten, abgeschmackten Form, sondern in einer höchst raffinierten, in der Philippe Leroux mithilfe von Rachid Safir etwas gelang: seine eigene glasklare kompositorische Handschrift unter Beweis zu stellen. Dreimal schade, dass dieses Konzert nicht aufgezeichnet wurde.
Dass die Kirche an diesem Abend nicht beheizt worden war und deshalb der Kritikerin einen passablen Schnupfen bescherte, sei nur als Fußnote angemerkt. Es wäre keiner Erwähnung wert, hätte sie dadurch nicht noch einige weitere Konzerte des Festival Musica versäumt, was wiederum unverzeihlich ist. Aber zumindest darf sie sich schon auf die neue Ausgabe 2011 freuen und dann vorausschauend – wärmer ausgerüstet in ein Konzert gehen, dass nicht im Konzertsaal stattfindet.
Das Nadar Ensemble unter Daan Janssens (c) Philippe Stirnweiss
Das 30. Konzert des Festival Musica fügte sich nahtlos an die Nr. 28 an, in welchem einen Tag zuvor schon ausschließlich die Jugend zu ihrem Recht kam. Das „Internationale Musikinstitut Darmstadt“ präsentierte mit dem blutjungen „Nadar Ensemble“ unter der Leitung von Daan Janssens, der auch als Komponist vertreten war, drei Komponisten und – endlich – auch eine Komponistin mit Werken aus jüngster Zeit. Es ist nach wie vor kaum zu glauben, dass unter den zeitgenössischen Komponisten Frauen nach wie vor eine Ausnahmeerscheinung darstellen. Beim Festivals Musica, das hier als durchaus repräsentativ herangezogen werden und mit den anderen europäischen Festival verglichen werden kann und bei dem insgesamt Werke von 65 Komponisten gespielt wurden, fand sich eine einzige Frau, nämlich Malin Bång. Dass Komponisten in der Historie die Vormachtstellung hatten braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, dass es aber auch heute offenkundig den Frauen nicht gelingt, zahlenmäßig auch nur annäherungsweise an die Phalanx der Männer heranzutreten, ist schwer erklärbar.
Daan Janssens „en paysage de nuit“ präsentierte sich gleich zu Beginn als sehr stimmiges und schönes Stück, das mit ganz wenigem, aber umso gezielterem Toneinsatz auskommt. Eine Viola d´amore fügt sich mit ihrem weichen Ton herrlich in die übrige Klangkulisse, in welcher Instrument für Instrument seinen Einsatz nahtlos vom anderen davor übernimmt. Selten schwebt die zeitgenössische Musik in so herrlichem, klaren Zaubergewande daher wie in diesem leisen, beschaulichen Werk, das man gerne öfter hören möchte. Meisterlich vom Komponisten selbst dirigiert, hätte der Schluss auch als Auftakt aufgefasst werden können – dem nichts als eine schöne, lange Stille folgte.
Malin Bång, die 1974 geborene Schwedin, zeigte im Gegensatz zum Belgier Janssens eine völlig andere Herangehensweise. Ihr „turbid motion“ war im wahrsten Sinne des Wortes ein turbogeladenes Werk. Neben einigen Streichern und Bläsern waren auch zwei Percussionisten zugange, die mit Lautsprechern ausgestattet, wechselweise ihre meist lautstarken Parts in diese performten. Die Saiten des Klavieres wurden gestreichelt, jene der Stimmen und der Instrumente elektronisch verfremdet und zwischen schwelender Unruhe und angstvoller Hetze entwickelte sich ein Klangbild, dem man am besten mit geschlossenen Augen lauschte. Denn da war in keiner Weise mehr klar, welches Instrument und welche Stimme welchen Klang erzeugte. Eine großstädtische Geräuschimpression, deren Stärke in der Neuartigkeit der erzeugten Klangkombinationen lag.
Das 22minütige Werk „in hyper intervals“ des Deutschen Johannes Kreidler war nicht nur anspruchsvoll, was den kompositorischen Aufbau betraf. Ganz kurze, klangliche Fragmente aus dem Pop-Segment, elektronisch eingespielt, wurden von Liveinstrumenten überlagert, aber auch wiederum freigegeben. 22 Minuten lang standen musikalisches Experiment und musikalischer Kommerz in einer sich ergänzenden Kakophonie gegenüber. Der Zufall schien oftmals Regie zu führen und dennoch war der Dirigent am Pult vollauf damit beschäftigt, exakte Einsätze für das Ensemble vorzugeben. Ein interessantes Phänomen, dass die Frage nach dem Metrum auch in Werken wie diesem an oberster Stelle stehen. Kreidler, der auch Philosophie studierte, beschäftigt sich gerade auch in diesem Werk mit Metafragen, wie der Copyrightproblematik und jener der Freiheit in der Kunst. Vielleicht kommt Kreidler bei einer Überarbeitung zum Schluss, dass es nicht die Längen sind, die das Werk tatsächlich spannend machen.
Zum Abschluss des Konzertes erklang „Fremdkörper“ von Stefan Prins. Das Schlagwerk, die Gitarre, das Cello und die Flöte waren alle samt und sonders an einzelne Lautsprecher angedockt, zusätzlich wurde mit Elektronik der Klang weiter verfremdet. Es entstand dadurch ein derart dichter Klangnebel, dass man die einzelnen Stimmen nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Wie ein vielfältiges Grundrauschen strömten die Töne durch den Raum und bestimmten die Komposition.
Beim 28. Konzert des Festival Musica konnte man sich intensiv mit der neuesten musikalischen Produktion von jungen Komponisten auseinandersetzen. Das Ensemble „Accroche Note“ spielte im Börsensaal in Straßburg Werke der Franzosen Yann Robin, Christophe Bertrand sowie Jérôme Combier.
Robins „Phigures“ präsentierte sich als kleines, kammermusikalisch angelegtes Werk, dessen Streicher und Bläser sich aufeinander sinnhaft bezogen und dem auch eine kurze Klavierkadenz eingeschrieben war. Völlig konträr dazu stand seine zweite Arbeit „Art of Metal II“, geschrieben für Kontrabassklarinette. Armand Angster bediente sein Instrument kongenial und wurde vom Ircam-Team elektronisch bestens unterstützt. Zwischen dem Scharren und Toben eines wilden Tieres, dem Flattern eines riesigen Insektes und dem rhythmisch äußerst anspruchsvollen Einsatz des Instrumentes lagen alle Klangwelten, die er aus seinem Instrument hervorholen konnte. Die elektronischen Einspielungen erlaubten dem Solisten, zu seiner eigenen Begleitung zu spielen, was sicherlich für ihn auch ein besonderes Spielerlebnis auf der Bühne darstellte.
Die Aufführung von „Diadème“ des vor ca. 2 Wochen verstorbenen Komponisten Christophe Bertrand, war aufgrund dieses tragischen Ereignisses extrem emotionsgeladen. Francoise Kubler, deren klarer Sopran sich sicher durch die Partitur bewegte, konnte ihre Gefühle während des Applauses kaum zurückhalten. Die rasche Veränderung in der Dynamik der Stimmpartitur zu Beginn des Stückes, äußerst schwierig zu singen, gelang ihr ohne sichtbare Anstrengung. Zwischen Recitativ und Arie angesiedelt, erforderte das Stück viel Fingerspitzengefühl vor allem von ihrer Seite. Das 4-sätzig angelegte Werk ließ jedoch auch der sie begleitenden Klarinette und dem Klavier genügend Raum, sei es in ausgesprochenen Duettsituationen, sei es in einer Kadenz für das Klavier. Pierre Jean Jouve´s Gedicht, dass Bertrand als Ausgangsmaterial gewählt hatte, wurde von Kubler klar und deutlich intoniert, was ebenfalls ihr Können unterstreicht.
Mit Jérôme Combier´s „Gone“ endete das Konzert im ausverkauften Saal. Neben drei Streichern, dem Klavier und der Klarinette kam vor allem der elektronische Apparat kräftig zum Einsatz. Starke Halleffekte und langes Nachrauschen schufen gänzlich neue und interessante Klangqualitäten. Das Rauschen des Windes war mehrfach zu vernehmen und plötzlich wurde klar, dass Combier hier einerseits fast erzählend Raum- und Zeitzustände beschreibt, andererseits jedoch zugleich auch wiederum nahe an der Beschreibung von menschlichen Seinszuständen arbeitet. Bei diesem Werk hatte man ganz deutlich nicht primär den Wunsch die Komposition nachvollziehen zu können. Vielmehr war man mit der Wahrnehmung dieser Klangsituationen beschäftigt, die in Gedanken permanent räumliche Ideen entstehen ließen. Seine Komposition bildete so große KIanghallen, dass man meinte, sich in ihnen zu bewegen. Immer wieder durchbrochen von kleinen Streichertrios, fiel man auch schon einmal in ein dunkles, schier bodenloses, tiefes Klangloch, aus dem man aber danach auch wieder befreit wurde. Nachdenklich leise und verhallend endete das Stück.
Combier zeigte an diesem Nachmittag sicher am deutlichsten, worin sich junge Musik heute von der ihr vorangegangenen unterscheidet, und dass es spannend ist und sich lohnt, sie zu hören.
Nicholas Mergenthaler als junger Heiner Müller in "Le Père" (c) Philippe Stirnweiss
Heiner Müllers kurzer Text „Der Vater“ aus dem Jahre 1958, der auf biografischen Angaben basiert, wurde als Auftragswerk des französischen Staates an den Komponisten Michael Jarrell vergeben, der im selben Jahr der Entstehung des Stückes geboren wurde. Bereits am 3. Juni 2010 fand beim Festival in Schwetzingen die Uraufführung statt, danach wanderte es weiter nach Paris.
Straßburg erlebte anlässlich des Festival Musica ebenfalls eine Aufführung, in der sich auch viele junge Leute befanden. Und das aus mehreren Gründen zu Recht. Einerseits zeigt Heiner Müller hier, wie er das Geschehen rund um seinen Vater persönlich erlebte und künstlerisch aufarbeitete. Andererseits wäre es nicht ein Text von Heiner Müller, wartete er nicht noch mit mindestens einer weiteren Ebene auf. Die Geschichte, zwischen 1933 und den 70er Jahren angesiedelt, gibt nämlich auch ein politisches Sittenbild Deutschlands jener Zeit wieder. Das, was Heiner Müllers Vater als Sozialdemokrat erlebte, eine 1jährige Inhaftierung im Jahr 1933 unter den Nationalsozialisten und später, nach dem Krieg, eine abermalige Repression im ehemaligen Ostdeutschland, war kein Einzelschicksal. Die falsche politische Zugehörigkeit kostete Tausenden in diesen Jahren das Leben oder bedeutete, wie in Müllers Fall, schlichtweg die Gefährdung der persönlichen und der Existenz der Familie.
Auch die Inszenierung selbst basiert auf zwei Grundpfeilern. Einerseits Jarrells Vertonung, die sich bewusst nur auf 6 Percussionisten zurückzieht, die von drei Frauenstimmen begleitet werden und andererseits auf die Regie, welche mit starken, symbolträchtigen Bildern arbeitet. Der Regisseur André Wilms erhielt dafür Hilfe von Adriane Westerbarkey, welche für die plakativen Kostüme, sowie das subtilere Bühnenbild sorgte.
Eine – beinahe – durchsichtige Wand trennt den Vater während seiner Abwesenheit vom Sohn, der scheinbar ratlos und verirrt zwischen den von der Decke gespannten, weißen Fäden und den dahinter positionierten Musikern wandelt, nachdem sein Vater von der Gestapo abgeführt worden war. Ungläubig und unschuldig zugleich betrachtet er die kalte Welt, die ihn umgibt und registriert, was rings um ihn geschieht, nicht immer jedoch nur aus einer neutralen, beobachtenden Position. Die Spielkameraden, die ihn ausschließen, da sie mit dem Sohn eines Verbrechers nicht spielen dürfen, erfahren nur indirekt seinen Zorn. Zu braunen Schmutzknödeln geknetete kleine Erdbällchen landen wutentbrannt auf jener kaum sichtbaren Wand, dessen Ziel in diesem Moment der Vater ist. Jener Mann, der, wie Heiner Müller es im Text in einer Strophe zusammenfasst, als nicht geborener Vater besser gewesen wäre. Das Kind Heiner, dargestellt von Nicholas Mergenthaler, und der erwachsene Schriftsteller, der seine Geschichte meist dem Publikum zugewandt erzählt, werden parallel auf der Bühne dargestellt. Gilles Privat, der den Erwachsenen verkörpert, spricht seinen Text souverän ungeachtet der Musikunterlegung. Meist hält sich diese auch während der sprachlichen Passagen ganz begleitend zurück, nur in dramatischen Augenblicken verändert sich auch kurzzeitig der Klangpegel nach oben, sodass das ein- oder andere Wort davon bewusst übertönt wird. Eine der berührendsten Szenen zeigt den Buben, wie er alleine unter einem Tisch sitzend, an einem kleinen Hölzchen schnitzt. Über ihm fallen dicke, weiße Schneeflocken vom Himmel und bilden bald eine wärmende Decke auf dem Tisch. Dieses Bild der Isolation sollte für Müller im übertragenen Sinne wohl zeitlebens gelten.
"Le Père" nach Heiner Müller (c) Philippe Stirnweiss
So abwesend der Vater ad personam in diesem Stück ist, so präsent hingegen ist jedoch die Mutter. In der Inszenierung tritt sie gleich dreifach auf. Susanne Leitz-Lorey, Raminta Babickaite und Truike van der Poel verkörpern die konstante Bezugsperson Müllers im gleichen, gelben Kleid mit weißer Mütze und verdeutlichen, dass es die Mutter war, die ihm über viele Jahre hinweg Halt und Schutz bot. Beständig begleitet sie in ihrer Dreieinigkeit – vielleicht eine bewusste Aufnahme und Uminterpretation eines der wichtigsten christlichen Dogmen – ihren Sohn, der auf ihre Anwesenheit immer zählen kann. Sie erst gibt ihm Raum für seine Reflexion über den Mann, dem er eigentlich nie wirklich nahe stand und zugleich auch beste Projektionen im Freud´schen Sinne. Als unantastbare, aber doch begehrliche Frau im weißen Brautunterrock kann sie genau in diesem Sinne interpretiert werden. Musikalisch als Sopran, Mezzo-Sopran und Alt angelegt, stehen die Partien in ständigem Bezug zueinander und erleuchten das ansonsten selten stark akzentuierte Klanggeschehen, wenngleich auch auf meist unaufdringliche Art und Weise. Mit dem perfekten Einsatz von Elektronik zeigt Jarrell, wie sehr er am Puls unserer Zeit komponiert.
Als Kind war Heiner Müller wütend auf seinen Vater, weil er der Familie Abwesenheit und Entbehrungen brachte. Als junger Mann stand er ihm eher verachtend gegenüber. Als Müllers Vater 1951 Ostdeutschland verließ, verblieb der Schriftsteller in diesem Land. Dass sein Vater als Beamter für die Auszahlung von Pensionen an Menschen zuständig war, die nach seinem Dafürhalten Mörder waren und somit pensionsunwürdig, empfand er wohl auch als Verrat an den eigenen Idealen. Die Trennung der Familie wurde von ihm selbst, was in der Inszenierung mehr als deutlich wird, auch als eine Art Befreiung empfunden. Genau zu jenem Zeitpunkt, als er ein eigenbestimmtes Leben begann, verließ sie den Osten. Das letzte Zusammentreffen, von dem Müller auf der Bühne erzählt, gestaltet sich ähnlich wie jenes im Jahr 1934 im Konzentrationslager Sachsenhausen. Damals getrennt durch ein Gitter, am Lebensende getrennt durch eine Glasscheibe im Krankenhaus in Charlottenburg, sieht er seinen kranken, bleichen Vater lediglich aus der Distanz. Eine Distanz, welche die Beziehung zwischen Vater und Sohn durchgehend charakterisierte.
Der Bär, die Hure, die Frau im weißen Unterrock mit roten Boxhandschuhen – sie alle unterstreichen Müllers Erinnerung sowohl aus der märchenhaft unbestimmten Ideenwelt des Kindes, als auch den reflektiert wahrgenommenen Erfahrungen des Mannes. Die Frauen, die leblos am Boden liegen bleiben oder im weißen Unterrock nie wirklich Bezug zu Müller aufnehmen, sprechen eine deutliche, wenngleich stumme Sprache. Insgesamt 4 Frauen, mit seiner Mutter waren es 5, standen im Laufe des Lebens an seiner Seite – eine davon, die Schriftstellerin Ingeborg Schwenkner, nahm sich das Leben.
Jarrells Komposition erweist sich viel stärker als Musiktheater, denn als Oper und sollte wohl besser auch als solche bezeichnet werden, um kleinkarierten Kritikern, die sich an einer enzyklopädischen Nomenklatur festbeißen, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die elektronischen Einspielungen, unterstützt vom Team der zeitgenössischen Musikschmiede IRCAM in Paris, schufen neben den rhythmischen Klangnebeln, welche „Les Percussions de Strasbourg“ gestalteten, einen diffusen Raum, in den sich das Geschehen wunderbar einschmiegte. Ein Beispiel dafür, dass Jarrell mit seiner Musik dem Stück mehr dienend denn protzend zur Seite steht und Wort und Bild daneben gleichberechtigt vertreten bleibt. In diesem Sinne ein kleines Gesamtkunstwerk, über das nicht nur die Schüler, die dieser Aufführung beiwohnten, länger nachdenken dürfen.
„Le Père“ wurde von Arte-live-web aufgezeichnet und ist 6 Monate abrufbar.
Für das 27. Konzert im Rahmen des Festival Musica war das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Direktion von Emilio Pomárico nach Straßburg verpflichtet worden. Neben den Konzerten von Franco Donatoni, Aureliano Cattaneo und Arnold Schönberg erklangen auch die „Paysages avec figures absentes – Nachlese IV“ von Michael Jarrell mit Ilya Griongolts an der Geige. Der 1958 in der Schweiz geborene Jarrell ließ sich bei dieser wunderbaren Komposition von Philippe Jaccottet inspirieren, der ein Buch mit demselben Titel geschrieben hat. Was die Schwierigkeit angeht, so könnte man getrost behaupten, dass Jarrell hier Anleihen bei Paganini genommen hat und der Interpret Ilya Griognolts tatsächlich als Teufelsgeiger agierte. Schon zu Beginn zeigte sich seine große Virtuosität. Er wechselte scheinbar mühelos in rasantem Tempo im Forte zwischen Legato- und Staccatopartien und, so als wollte schon in den ersten Takten gezeigt werden, mit welchen klanglichen Möglichkeiten das Stück aufwarten wird, zupfte er noch zusätzlich, was die Saiten hergaben. Der komplizierten Rhythmus, den er alleine gegen das Orchester auszuspielen hatte, schien ihm ins Blut übergegangen zu sein und kein einziger, noch so schwierig notierter Ton kam schräg. Die Rolle des Orchesters kann mit „begleitend“ beschrieben werden, ja es steht fast immer ganz im Dienste hinter der Violine. Ab und zu nur gebieten laute Einsprengsel der Bläser, der Geige Einhalt. Doch die lässt sich nicht verbieten. Immer wieder und immer wieder repetiert sie ihr Thema, darauf vertrauen könnend, dass das Orchester ihre trockenen Tonreihen mit Wärme und Farbe unterlegt. Erst als sich ein Glockenspiel dazugesellt, tritt eine Beruhigung ein. Ganz wie ein Zu-sich-Kommen aus einer Raserei, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte, besinnt sie sich am Ende, um schließlich leiser und immer leiser werdend zu verhauchen. Ein wirklich beeindruckendes Werk, das man gerne immer wieder hören möchte und eine außerordentliche Leistung des aus Petersburg stammenden Solisten, der in Straßburg zu Recht dafür gefeiert wurde.
Aureliano Cattaneo (c) Lucia Nunez Garcia
Doch nicht nur Michael Jarrell lieferte an diesem Tag eine beeindruckende Darbietung seines Könnens ab. Auch Aureliano Cattaneo, der 36 Jahre alte italienische Komponist zeigte, dass neue Musik sich ihrer Wurzeln bewusst wird und nicht mehr zwangsläufig ein Schockmäntelchen anziehen muss. In „Selfportrait with orchestra“, einer Auftragsarbeit aus diesem Jahr, ließ er tief in seine Seele blicken. Nach einem beinahe unsicheren Beginn kippt sein klanglicher Kosmos rasch ins Dunkle – und diese Ambivalenz begleitet das gesamte Stück bis zum Schluss. Immer wieder drohen die Posaunen und unterbrechen den dazwischen vorherrschenden, flirrenden Klangcharakter. Extrem schöne, da stark differenzierte Schlagwerkpassagen, in denen gewischt und geschnarrt wird und die wiederum in eine verhaltene Drohgebärde kippen, werden von Teilen abgewechselt, in welchen zarte Flöten- und Xylophontöne sich über die leise agierenden Geigen legen. Als schließlich die Hörner ein kleines Duett anstimmen und kurz darauf Kuhglocken zu hören sind, weiß man, dass man sich nicht im sonnigen, italienischen Süden befindet. Und auch die kleine Melodie, welche die Geige am Schluss vorführt zeigt, dass in Cattaneos Gedächtnis ein musikalischer Schatz von großer Bandbreite nach Außen drängt. Der Wechsel zwischen inneren, geistigen und äußeren, ja ganz narrativen Erzählsträngen, fasziniert ganz besonders und kennzeichnet dieses berührende Stück Musik. Dass Jarrell dem jungen Cattaneo gleich nach der Aufführung herzlich gratulierte, war wohl mehr als eine schöne Geste.
Franco Donatonis „Voci“ aus dem Jahre 1972/73 war ein gut gewählter Einstimmer für die beiden darauf folgenden Stücke Jarrells und Cattaneos. Seine dramatischen Klangstelen, die durch leises Wogen immer wieder durchbrochen wurden waren, genauso wie alle anderen Stücke des Abends, von Emilio Pomárico kennerhaftest dirigiert worden. Seine überaus klare Zeichengebung folgte den Partituren bis in kleinste Details, ohne sich darin jedoch zu verlieren. Dass ihm bei Arnold Schönbergs „Variationen für Orchester opus 31“ schließlich die Spitze seines Taktstockes durch einen Schlag auf das Pult effektvoll abhanden kam zeigte, mit welcher Intensität er am Arbeiten war. Schönbergs Variationen waren als Abschluss gut gewählt, konnte man von ihnen doch noch einmal auf die beiden neuen Werke des Abends zurückblicken und – es verwundert nicht – einiges entdecken, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gänzlich verloren schien: Allein durch das Gehör nachvollziehbare Kompositionsschemata, gepaart mit klanglich wohligen Sensationen. Das Festival Musica macht, nicht nur an diesem Abend deutlich, dass sich die kleine Armada von zeitgenössischen Komponisten bereits seit Längerem auf neue, spannende und zugleich auch vertraute Horizonte zubewegt.
Das Ensemble de percussions beim Festival Musica (c) Philippe Stirnweiss
Mit dem „Ensemble de Percussions“, einer Formation aus Musikstudenten der Hochschule für Tanz und Musik in Paris, ließ das Festival Musica bei seinem 18. Konzert den Saal bei France 3 Alsace erbeben. Auf dem Programm standen Werke Von Philippe Schoeller, Iannis Xenakis, Martin Matalon sowie Yann Robin.
Eingebettet in Schoellers und Robins Arbeiten, die jeweils mit 11 Schlagwerkern und einer Schlagwerkerin besetzt waren, führten Victor Hanna und Emmanuel Hollebeke ihre Interpretation von Xenakis „Rebonds A et B“ vor. Die beiden jungen Männer bewiesen nicht nur enorme Virtuosität sondern auch einfühlsame Musikalität und präsentierten Xenakis Werk als zwei sich gegenüberstehende, eigenbestimmte Teile. 2 Bongos, 3 Tom-Toms und 2 große Trommeln auf der einen Seite standen 2 Bongos, 1 Tumba, 1 Tom-Tom, 1 großen Trommel sowie einem Set von 5 wood-blocks gegenüber. Eine, vor allem durch seine unterschiedlichen Klangqualitäten und Tonhöhen stringente Komposition, die keinerlei Raum für Interpretationen zuließ – wie alle Werke bei diesem Konzert . Für Adrien Pineau, der danach Matalons „Short stories“ auf dem Vibrafone performte, hätte es keine genialere Einstimmung geben können. Bewundernswert ist seine Beherrschung des Instrumentes sowie sein musikalisches Gedächtnis. Spielte er doch das 2005 entstandene Stück auswendig. Die kurzen Stücke, die Martin Matalon aufeinander bezugnehmend hintereinander stellte, liefen jeweils über den gesamten Tonumfang der drei Oktaven des Instrumentes. Durch den Wechsel der Schläger wurde eine zusätzliche Klangerweiterung erreicht. Der frenetische Applaus kam zu Recht.
Philippe Schoellers „Archaos Infinita 1 & II hatte zu Beginn gegen ein dünnes Kinderstimmchen anzukämpfen. Die wohl dosierten Pausen, die den verdichteten Klangwolken, die sich graduell in den Tonhöhen voneinander unterschieden gegenüberstanden, waren zu Beginn von einer kleinen Besucherin lautmalerisch kommentiert worden. Gute Nerven zeigte dabei Michel Cerutti, welcher das Ensemble unbeirrt über diese Klippe schiffte. Die harten Schläge, die das Werk zwischendrin akzentuieren, waren Vorboten für die sich zusammenballende Lautmasse, die schließlich infernalische Züge annahm. Schoellers energiegeladenes Stück stand jenem von Yann Robin gegenüber, der mit „Titans“ ebenfalls ein Werk für 12 Schlagwerker geschrieben hatte. Bei ihm sind es nicht vereinzelte, harte Akzentuierungen eines Musikers, sondern Unisonoschläge aller, welche eine ähnliche Rhythmisierung zeigten. Die auf- und absteigenden Wellenbewegungen und die scharfen Obertöne, welche die unterschiedlichen Teile voneinander trennten bzw. neu einleiteten waren ein weiteres Charakteristikum. Robin reizt die Energie und Möglichkeit dieses vollen Klangapparates ganz, ja fast bis zur Schmerzgrenze aus und lässt Titans in einem wahrlich donnernden Finale enden.