Heiner Müllers kurzer Text „Der Vater“ aus dem Jahre 1958, der auf biografischen Angaben basiert, wurde als Auftragswerk des französischen Staates an den Komponisten Michael Jarrell vergeben, der im selben Jahr der Entstehung des Stückes geboren wurde. Bereits am 3. Juni 2010 fand beim Festival in Schwetzingen die Uraufführung statt, danach wanderte es weiter nach Paris.
Straßburg erlebte anlässlich des Festival Musica ebenfalls eine Aufführung, in der sich auch viele junge Leute befanden. Und das aus mehreren Gründen zu Recht. Einerseits zeigt Heiner Müller hier, wie er das Geschehen rund um seinen Vater persönlich erlebte und künstlerisch aufarbeitete. Andererseits wäre es nicht ein Text von Heiner Müller, wartete er nicht noch mit mindestens einer weiteren Ebene auf. Die Geschichte, zwischen 1933 und den 70er Jahren angesiedelt, gibt nämlich auch ein politisches Sittenbild Deutschlands jener Zeit wieder. Das, was Heiner Müllers Vater als Sozialdemokrat erlebte, eine 1jährige Inhaftierung im Jahr 1933 unter den Nationalsozialisten und später, nach dem Krieg, eine abermalige Repression im ehemaligen Ostdeutschland, war kein Einzelschicksal. Die falsche politische Zugehörigkeit kostete Tausenden in diesen Jahren das Leben oder bedeutete, wie in Müllers Fall, schlichtweg die Gefährdung der persönlichen und der Existenz der Familie.
Auch die Inszenierung selbst basiert auf zwei Grundpfeilern. Einerseits Jarrells Vertonung, die sich bewusst nur auf 6 Percussionisten zurückzieht, die von drei Frauenstimmen begleitet werden und andererseits auf die Regie, welche mit starken, symbolträchtigen Bildern arbeitet. Der Regisseur André Wilms erhielt dafür Hilfe von Adriane Westerbarkey, welche für die plakativen Kostüme, sowie das subtilere Bühnenbild sorgte.
Eine – beinahe – durchsichtige Wand trennt den Vater während seiner Abwesenheit vom Sohn, der scheinbar ratlos und verirrt zwischen den von der Decke gespannten, weißen Fäden und den dahinter positionierten Musikern wandelt, nachdem sein Vater von der Gestapo abgeführt worden war. Ungläubig und unschuldig zugleich betrachtet er die kalte Welt, die ihn umgibt und registriert, was rings um ihn geschieht, nicht immer jedoch nur aus einer neutralen, beobachtenden Position. Die Spielkameraden, die ihn ausschließen, da sie mit dem Sohn eines Verbrechers nicht spielen dürfen, erfahren nur indirekt seinen Zorn. Zu braunen Schmutzknödeln geknetete kleine Erdbällchen landen wutentbrannt auf jener kaum sichtbaren Wand, dessen Ziel in diesem Moment der Vater ist. Jener Mann, der, wie Heiner Müller es im Text in einer Strophe zusammenfasst, als nicht geborener Vater besser gewesen wäre. Das Kind Heiner, dargestellt von Nicholas Mergenthaler, und der erwachsene Schriftsteller, der seine Geschichte meist dem Publikum zugewandt erzählt, werden parallel auf der Bühne dargestellt. Gilles Privat, der den Erwachsenen verkörpert, spricht seinen Text souverän ungeachtet der Musikunterlegung. Meist hält sich diese auch während der sprachlichen Passagen ganz begleitend zurück, nur in dramatischen Augenblicken verändert sich auch kurzzeitig der Klangpegel nach oben, sodass das ein- oder andere Wort davon bewusst übertönt wird. Eine der berührendsten Szenen zeigt den Buben, wie er alleine unter einem Tisch sitzend, an einem kleinen Hölzchen schnitzt. Über ihm fallen dicke, weiße Schneeflocken vom Himmel und bilden bald eine wärmende Decke auf dem Tisch. Dieses Bild der Isolation sollte für Müller im übertragenen Sinne wohl zeitlebens gelten.
So abwesend der Vater ad personam in diesem Stück ist, so präsent hingegen ist jedoch die Mutter. In der Inszenierung tritt sie gleich dreifach auf. Susanne Leitz-Lorey, Raminta Babickaite und Truike van der Poel verkörpern die konstante Bezugsperson Müllers im gleichen, gelben Kleid mit weißer Mütze und verdeutlichen, dass es die Mutter war, die ihm über viele Jahre hinweg Halt und Schutz bot. Beständig begleitet sie in ihrer Dreieinigkeit – vielleicht eine bewusste Aufnahme und Uminterpretation eines der wichtigsten christlichen Dogmen – ihren Sohn, der auf ihre Anwesenheit immer zählen kann. Sie erst gibt ihm Raum für seine Reflexion über den Mann, dem er eigentlich nie wirklich nahe stand und zugleich auch beste Projektionen im Freud´schen Sinne. Als unantastbare, aber doch begehrliche Frau im weißen Brautunterrock kann sie genau in diesem Sinne interpretiert werden. Musikalisch als Sopran, Mezzo-Sopran und Alt angelegt, stehen die Partien in ständigem Bezug zueinander und erleuchten das ansonsten selten stark akzentuierte Klanggeschehen, wenngleich auch auf meist unaufdringliche Art und Weise. Mit dem perfekten Einsatz von Elektronik zeigt Jarrell, wie sehr er am Puls unserer Zeit komponiert.
Als Kind war Heiner Müller wütend auf seinen Vater, weil er der Familie Abwesenheit und Entbehrungen brachte. Als junger Mann stand er ihm eher verachtend gegenüber. Als Müllers Vater 1951 Ostdeutschland verließ, verblieb der Schriftsteller in diesem Land. Dass sein Vater als Beamter für die Auszahlung von Pensionen an Menschen zuständig war, die nach seinem Dafürhalten Mörder waren und somit pensionsunwürdig, empfand er wohl auch als Verrat an den eigenen Idealen. Die Trennung der Familie wurde von ihm selbst, was in der Inszenierung mehr als deutlich wird, auch als eine Art Befreiung empfunden. Genau zu jenem Zeitpunkt, als er ein eigenbestimmtes Leben begann, verließ sie den Osten. Das letzte Zusammentreffen, von dem Müller auf der Bühne erzählt, gestaltet sich ähnlich wie jenes im Jahr 1934 im Konzentrationslager Sachsenhausen. Damals getrennt durch ein Gitter, am Lebensende getrennt durch eine Glasscheibe im Krankenhaus in Charlottenburg, sieht er seinen kranken, bleichen Vater lediglich aus der Distanz. Eine Distanz, welche die Beziehung zwischen Vater und Sohn durchgehend charakterisierte.
Der Bär, die Hure, die Frau im weißen Unterrock mit roten Boxhandschuhen – sie alle unterstreichen Müllers Erinnerung sowohl aus der märchenhaft unbestimmten Ideenwelt des Kindes, als auch den reflektiert wahrgenommenen Erfahrungen des Mannes. Die Frauen, die leblos am Boden liegen bleiben oder im weißen Unterrock nie wirklich Bezug zu Müller aufnehmen, sprechen eine deutliche, wenngleich stumme Sprache. Insgesamt 4 Frauen, mit seiner Mutter waren es 5, standen im Laufe des Lebens an seiner Seite – eine davon, die Schriftstellerin Ingeborg Schwenkner, nahm sich das Leben.
Jarrells Komposition erweist sich viel stärker als Musiktheater, denn als Oper und sollte wohl besser auch als solche bezeichnet werden, um kleinkarierten Kritikern, die sich an einer enzyklopädischen Nomenklatur festbeißen, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die elektronischen Einspielungen, unterstützt vom Team der zeitgenössischen Musikschmiede IRCAM in Paris, schufen neben den rhythmischen Klangnebeln, welche „Les Percussions de Strasbourg“ gestalteten, einen diffusen Raum, in den sich das Geschehen wunderbar einschmiegte. Ein Beispiel dafür, dass Jarrell mit seiner Musik dem Stück mehr dienend denn protzend zur Seite steht und Wort und Bild daneben gleichberechtigt vertreten bleibt. In diesem Sinne ein kleines Gesamtkunstwerk, über das nicht nur die Schüler, die dieser Aufführung beiwohnten, länger nachdenken dürfen.
„Le Père“ wurde von Arte-live-web aufgezeichnet und ist 6 Monate abrufbar.
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch
Hat viel spaß gemacht