Für das 27. Konzert im Rahmen des Festival Musica war das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Direktion von Emilio Pomárico nach Straßburg verpflichtet worden. Neben den Konzerten von Franco Donatoni, Aureliano Cattaneo und Arnold Schönberg erklangen auch die „Paysages avec figures absentes – Nachlese IV“ von Michael Jarrell mit Ilya Griongolts an der Geige. Der 1958 in der Schweiz geborene Jarrell ließ sich bei dieser wunderbaren Komposition von Philippe Jaccottet inspirieren, der ein Buch mit demselben Titel geschrieben hat. Was die Schwierigkeit angeht, so könnte man getrost behaupten, dass Jarrell hier Anleihen bei Paganini genommen hat und der Interpret Ilya Griognolts tatsächlich als Teufelsgeiger agierte. Schon zu Beginn zeigte sich seine große Virtuosität. Er wechselte scheinbar mühelos in rasantem Tempo im Forte zwischen Legato- und Staccatopartien und, so als wollte schon in den ersten Takten gezeigt werden, mit welchen klanglichen Möglichkeiten das Stück aufwarten wird, zupfte er noch zusätzlich, was die Saiten hergaben. Der komplizierten Rhythmus, den er alleine gegen das Orchester auszuspielen hatte, schien ihm ins Blut übergegangen zu sein und kein einziger, noch so schwierig notierter Ton kam schräg. Die Rolle des Orchesters kann mit „begleitend“ beschrieben werden, ja es steht fast immer ganz im Dienste hinter der Violine. Ab und zu nur gebieten laute Einsprengsel der Bläser, der Geige Einhalt. Doch die lässt sich nicht verbieten. Immer wieder und immer wieder repetiert sie ihr Thema, darauf vertrauen könnend, dass das Orchester ihre trockenen Tonreihen mit Wärme und Farbe unterlegt. Erst als sich ein Glockenspiel dazugesellt, tritt eine Beruhigung ein. Ganz wie ein Zu-sich-Kommen aus einer Raserei, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte, besinnt sie sich am Ende, um schließlich leiser und immer leiser werdend zu verhauchen. Ein wirklich beeindruckendes Werk, das man gerne immer wieder hören möchte und eine außerordentliche Leistung des aus Petersburg stammenden Solisten, der in Straßburg zu Recht dafür gefeiert wurde.
Doch nicht nur Michael Jarrell lieferte an diesem Tag eine beeindruckende Darbietung seines Könnens ab. Auch Aureliano Cattaneo, der 36 Jahre alte italienische Komponist zeigte, dass neue Musik sich ihrer Wurzeln bewusst wird und nicht mehr zwangsläufig ein Schockmäntelchen anziehen muss. In „Selfportrait with orchestra“, einer Auftragsarbeit aus diesem Jahr, ließ er tief in seine Seele blicken. Nach einem beinahe unsicheren Beginn kippt sein klanglicher Kosmos rasch ins Dunkle – und diese Ambivalenz begleitet das gesamte Stück bis zum Schluss. Immer wieder drohen die Posaunen und unterbrechen den dazwischen vorherrschenden, flirrenden Klangcharakter. Extrem schöne, da stark differenzierte Schlagwerkpassagen, in denen gewischt und geschnarrt wird und die wiederum in eine verhaltene Drohgebärde kippen, werden von Teilen abgewechselt, in welchen zarte Flöten- und Xylophontöne sich über die leise agierenden Geigen legen. Als schließlich die Hörner ein kleines Duett anstimmen und kurz darauf Kuhglocken zu hören sind, weiß man, dass man sich nicht im sonnigen, italienischen Süden befindet. Und auch die kleine Melodie, welche die Geige am Schluss vorführt zeigt, dass in Cattaneos Gedächtnis ein musikalischer Schatz von großer Bandbreite nach Außen drängt. Der Wechsel zwischen inneren, geistigen und äußeren, ja ganz narrativen Erzählsträngen, fasziniert ganz besonders und kennzeichnet dieses berührende Stück Musik. Dass Jarrell dem jungen Cattaneo gleich nach der Aufführung herzlich gratulierte, war wohl mehr als eine schöne Geste.
Franco Donatonis „Voci“ aus dem Jahre 1972/73 war ein gut gewählter Einstimmer für die beiden darauf folgenden Stücke Jarrells und Cattaneos. Seine dramatischen Klangstelen, die durch leises Wogen immer wieder durchbrochen wurden waren, genauso wie alle anderen Stücke des Abends, von Emilio Pomárico kennerhaftest dirigiert worden. Seine überaus klare Zeichengebung folgte den Partituren bis in kleinste Details, ohne sich darin jedoch zu verlieren. Dass ihm bei Arnold Schönbergs „Variationen für Orchester opus 31“ schließlich die Spitze seines Taktstockes durch einen Schlag auf das Pult effektvoll abhanden kam zeigte, mit welcher Intensität er am Arbeiten war. Schönbergs Variationen waren als Abschluss gut gewählt, konnte man von ihnen doch noch einmal auf die beiden neuen Werke des Abends zurückblicken und – es verwundert nicht – einiges entdecken, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gänzlich verloren schien: Allein durch das Gehör nachvollziehbare Kompositionsschemata, gepaart mit klanglich wohligen Sensationen. Das Festival Musica macht, nicht nur an diesem Abend deutlich, dass sich die kleine Armada von zeitgenössischen Komponisten bereits seit Längerem auf neue, spannende und zugleich auch vertraute Horizonte zubewegt.
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