Was für eine Zeit!

Was für eine Zeit!

Zum aktionstheater ensemble geht man aus verschiedenen Gründen. Weil man wissen will, welches Theater diese Truppe macht, weil man von Freunden mitgenommen wird und keine Ahnung hat, was einen erwartet, weil man die Art von Theater schätzt, die man zu sehen bekommt oder weil man das Gefühl hat, alte Bekannte wiederzutreffen. Wenn man Martin Gruber und seine Arbeit schon länger verfolgt, gibt es aber noch einen Grund, jede neue Inszenierung anzusehen. Es ist die Faszination, einen kreativen Zugang zu unserem Zeitgeschehen zu bekommen und Ereignisse, Emotionen und gesellschaftliche Strukturen einmal unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten als jenem, mit dem wir tag-täglich konfrontiert sind.

Es ist genau diese Herangehensweise, die jeden Besuch zu einem neuen Erlebnis werden lässt. Die jeweilige Besetzung generiert Gruber mittlerweile aus einem großen Ensemble-Pool, der auch immer wieder Neuzugänge aufweist. Bei „Lüg mich an und spiel mit mir“ sind Zeynep Alan, Babett Arens, Michaela Bilgeri, Luzian Hirzel, David Kopp und Tamara Stern im Einsatz. Ergänzt wird das Bühnengeschehen durch Live-Musik von Dominik Essletzbichler, Daniel Neuhauser, Gidon Oechsner, Daniel Schober. Sie sind dieses Mal ein starker, eigener Part und nicht nur für einen untermalenden Soundtrack zuständig.

Die Bühne betreten alle ausnahmslos mit schwarz umflorten Augen. Eine offensichtliche Botschaft, dass das, was kommen wird, kein lustiges Trallala sein wird. Wie sollte es auch – in Zeiten wie diesen! Die Pandemie ist noch nicht verschwunden, die Umweltproblematik wird nie mehr verschwinden und der Krieg im Osten Europas hat Auswirkungen weit über die Ukraine hinaus. Der Zeitgeist, der uns umgibt, ist angefüllt mit Ängsten, aber auch Aggressionen, die wir bemüht sind, so gut es geht, zu unterdrücken.

Genau auf diese Wunde setzt Gruber seinen Finger. Je länger die Vorstellung dauert, umso mehr wird diese Wunde geöffnet, aus der schließlich auch viel Blut fließt. Das, was viele von uns in ihrem Inneren austragen, darf sein Ensemble vor uns und für uns ausleben. Da wird beleidigt und geschrien, da pufft man einander und reizt sich so lange, bis die Wut aus allen hervorbricht und das Faustrecht Einzug auf die Bühne hält.

Allen voran lässt Tamara Stern gleich von Beginn an ihren negativen Emotionen freien Lauf und das streckenweise sogar so heftig, dass sie einem wilden Tier gleicht. Was sich anfänglich nur in heftigen Verbalinjurien äußert, kippt in ein körperliches Aggressionsverhalten, das in heftigen Angriffen und Prügeleien mündet, die sich nach und nach auf alle anderen überträgt.

Die Bühne wird von einer konkaven Leinwand begrenzt, auf der Fotos zu sehen sind, die sich langsam verändern. Durch kleine Gucklöcher ist eine Landkarte der Ukraine zu erkennen, später wird das Theater von Mariupol zu sehen sein – zerschossen, zerbombt, mit teilweise eingestürztem Dach. Nichts davon wird kommentiert, sondern steht unterschwellig permanent im Raum, unterlegt die Sätze mit einer weiteren Ebene. Man beginnt nicht nur zu verstehen, dass das Grauen und die Bedrohung genauso gut uns, die wir im geschützten Theaterraum sitzen, betreffen könnte. Man beginnt auch zu verstehen, zu realisieren, was man ohnehin immer fühlt. Wir können uns unsere Realität noch so schönreden, wir können noch so vermeintlich positiv in die Zukunft blicken und versuchen, wegzuschieben, was uns nicht passt oder schlichtweg überfordert. „Es“ ist dennoch da. Passiert, während wir uns zu amüsieren versuchen.

Da hilft es auch nicht, neidisch auf die Schweizer Bevölkerung zu blicken. Der Aussage von Babett Arens und Luzian Hirzel zufolge ist dort für jede Bürgerin und jeden Bürger ein Platz in einem Schutzbunker vorrätig. Unter dem Theater in Mariupol wähnten sich die Menschen auch in Sicherheit. Was nützt aber jedes noch so fortifizierte Versteck, wenn wir mit jedem Waschgang unsere Umwelt ruinieren? Auch Bio-Waschmittel landen schließlich im Abfluss und zerstören unsere Gewässer. Wie können wir Gut von Böse unterscheiden, wenn uns langjährig bekannte Bettler plötzlich nicht mehr als Roma, sondern als Ukrainer um Hilfe bitten? Was ist mit jenem ukrainischen Geflüchteten aus dem Osten des Landes, der schon vor 8 Jahren hier bei uns Zuflucht fand, geflohen damals vor den ukrainischen Repressalien? Welche Botschaft haben wir nicht gehört, nicht hören wollen? Darf man übergriffige Russen attackieren, Ukrainer aber nicht? Und welche Absurdität oder vielleicht sogar Monstrosität offenbart sich im Umstand, dass ein Staatspräsident, der sich als hervorragender Dancing Star bewährt hat, jetzt erbittert um Dörfer und Städte kämpfen lässt, die in Schutt und Asche gelegt werden? Was sind Fakten, was sind Lügen? Wie sehr beteiligen wir uns daran und warum? An einer Stelle fällt ein folgenschwerer Satz, wenngleich ganz locker ausgesprochen: „Wir sagen, dass wir in einer funktionierenden Demokratie leben und lügen zurück, bis es stimmt!“ Aber es wird auch die Erkenntnis ausgesprochen, dass uns das Lügen zusammenhält.

Die harten Beats, die von den schwarz gekleideten Musikern beigesteuert werden, das Dröhnen der Sounds unterstützen Anti-Aggressions-Übungen und pushen gleichzeitig die Idee, sich für einen bevorstehenden Kampf rüsten zu müssen. Parallel dazu verändern sich die Bilder auf der großen Leinwand und zeigen Aufnahmen von menschlicher Hautoberfläche. Das, was wir weit wegschieben wollen, trifft uns unerbittlich und bedroht uns körperlich ganz nahe. Aber auch Bilder von Menschen schießen einem dabei durch den Kopf. Menschen, die ums nackte Überleben kämpfen. Möglicherweise verknüpft der eine oder die andere aus dem Publikum damit auch andere Assoziationen.

Allein an diesem Umstand kann man erkennen, dass das theatrale Universum des aktionstheater ensembles genau das widerspiegelt, was unserer aktuellen Erlebnis- und Gefühlswelt entspricht. Wir sind umgeben von Unsicherheit und müssen uns mit Fragen beschäftigen, für die wir keine klaren Antworten haben. Zugleich dürfen wir uns aber alle, jeder einzelne und jede einzelne, die an einer Vorstellung teilnehmen, privilegiert fühlen. Wir dürfen für die Dauer von ungefähr eineinhalb Stunden wieder etwas erleben, was uns gefehlt hat. Wir dürfen wieder etwas erleben, von dem wir zuvor nicht wussten, wie sehr es uns einmal tatsächlich fehlen würde: Wir erleben eine Gemeinschaft, die uns zeitgleich lachen und staunen lässt. Die uns zeitgleich eine Wut verspüren lässt und uns in eine Hilflosigkeit stürzt, aus der wir dank einer klugen Dramaturgie dann doch wieder emporkommen. Wir dürfen erleben, dass Menschen Menschen wollen und benötigen. Die Idee, dass Theater nichts bewirken kann, stellt sich als Illusion heraus. Zum Glück für alle Beteiligten – ob auf oder vor der Bühne.

Nichts für schwache Nerven

Nichts für schwache Nerven

Heiner Müller hat Shakespeares Drama in den 70er-Jahren neu übersetzt, blieb dabei aber sehr eng an der Geschichte selbst. Der große Unterschied besteht nicht nur in der Sprache, in die man sich bei Müller – genauso wie bei Shakespeare – erst einmal einhören muss. Müller kürzt die Geschichte rund um die Erlangung der Königskrone von Schottland und schafft dadurch einen stärkeren Fokus auf das Grauen des Geschehens an sich. Zugleich führt er aber auch eine weitere Personenebene ein und verweist auf die Leibeigenschaft der Bauern, deren Abhängigkeit von ihren Herren, aber auch auf deren Brutalität, die sich in nichts von jener der Obrigkeit unterscheidet.

Stephan Rottkamp verfährt in seiner Bühnenfassung ähnlich. Er spart ebenfalls Charaktere ein, was eine abermalige Verdichtung bedeutet und lässt zu Beginn Nebel aus dem Kühlhaus eines Schlachthofes wallen. Schon die erste Person, ein Soldat, der aus der Schlacht kommt und über diese berichtet, lässt er nackt und blutig auftreten. Die Verstörung, die er damit bewirkt, ist jedoch nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was noch kommen wird.

Obwohl Schottlands Herrscher, König Duncan, in feines Tuch gewandet ist, erkennt man auch an seinen Beinen und Armen Blutspuren und beginnt zu verstehen: Er, der an Schlachten nicht mehr teilnehmen muss und vom Ausgang der Kämpfe nur mehr von Boten erfährt, hat seine Macht genauso mit Mord- und Totschlag aufgebaut wie jene, die nach ihm folgen werden. (Kostüme Esther Geremus)

Mit einer abstrakten, aber effektiven und sehr ästhetischen Bühnenausstattung (Robert Schweer) gelingt es in wenigen Augenblicken, das Geschehen von Duncans Königshof in die Burg von Macbeth zu transferieren. Große, weiße Quader, die sich quer über die Bühne spannen, werden dazu auf- und abgezogen und rhythmisieren so aufs immer Neue den Raum.

Die Besetzung von Macbeth durch Florian Köhler und Lady Macbeth, Sarah Sophia Meyer, erzeugt schon rein optisch ein charakterliches Gegenpaar, das sich dennoch todbringend bestens ergänzt. Meyer gelingt es ohne groß erkennbare Emotion, viele Charakter-Register zu ziehen. Sie spannt den Bogen von der machtbesessenen Todes-Einflüsterin, bis hin zur erschrockenen und zurückweichenden Gemahlin, die sich vor ihrem eigenen Mann zu fürchten beginnt.

Florian Köhlers Macbeth ist weder ein einfacher Charakter noch ein eindimensionaler Mörder. Er schwankt zwischen einem zögerlichen, nachdenklichen Mann, der von seiner Frau zur Ermordung des Königs gedrängt wird und einem machtbesessenen Charakter, der nicht davor zurückschreckt, Freunde, aber auch Frauen und Kinder morden zu lassen. Je weiter das Spiel voranschreitet, je öfter er mordet und morden lässt, umso skrupelloser wird er. Besonders beeindruckt dabei die Durchlässigkeit von Köhlers Spiel. In einer Szene, in welcher er seinen ehemaligen Freund Banquo wie einen ihn weit Untergebenen behandelt, verspürt man bei Köhler alias Macbeth viel Menschliches: Lust und Freude am Spiel einerseits, aber auch Lust und Freude an einer besonderen Art von Demütigung. Dass Macbeth auch abseits des Schlachtfeldes zu Gräueltaten fähig ist, wird kurz nach Beginn des Stückes klar. Da foltert er – mit tatkräftiger Unterstützung seiner Frau, einen Bauern, der seine Abgaben nicht bezahlen kann. Es ist eine der brutalsten Szenen der Inszenierung, für die man gute Nerven braucht, oder die Augen so lange verschießt, bis die Schreie des Gepeinigten verstummen. Diese realitätsgetreue Wiedergabe, diese blutrünstige Darstellung von äußerster Brutalität ist es, die einem den Atem stocken lässt. Aber auch Bilder wie jene von Macbeth, der als strauchelnder König, in Blut watend, sein Gleichgewicht verliert und mit seinem überdimensionierten Hermelinumhang schlitternd und wankend immer wieder zu Boden fällt. Hier kippt bei den Zusehenden die Emotion von Abscheu in Mitleid, von Hass in Empathie, was einer emotionalen Achterbahn entspricht.

Untermalt wird das Geschehen – bis auf den allerletzten Akt – durchgehend von Sound- und Musikeinspielungen. (Nikolas Neecke). Das Theater hat in den letzten Jahren viel vom Film dazugelernt und Rottkamp nutzt diese zusätzliche Ebene gekonnt, um das Gezeigte damit emotional noch zusätzlich subtil zu verstärken. Mit einem Klassiker der Popgeschichte – „Stuck in the middle with you“ der britischen Pop-Band Stealers Wheel aus den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts – erhält die Darstellung von Macbeth, seine Angst um den Erhalt seines zu Unrecht erworbenen Throns, einen neuen Drive. „I’m so scared in case I fall off my chair and I’m wondering how I’ll get down the stairs” ist eine der Textzeilen daraus. Nicht nur, dass die Lyrics wie für Macbeth geschrieben scheinen, auch dramaturgisch ist der musikalisch-witzige Einschub gut gesetzt. Entlastet er doch für kurze Zeit das Publikum von der Schwere der blutgetränkten Geschichte und erlaubt eine Verschnaufpause, bevor die nächsten Morde von den beiden Gedungenen, die mit ihrem König noch fröhlich zur Musik tanzen, ausgeführt werden.

Dass das Ende von Macbeth und seiner Frau ohne Soundbegleitung gezeigt wird, bewirkt eine letzte, jedoch umso heftigere Irritation. Kommt dabei doch das Gefühl auf, dass die Realität nun das Spiel zu überholen beginnt. Der Tod von Lady Macbeth wird mit einem starken Bild begleitet – mit blutbesudeltem Gesicht fällt sie lautlos zu Boden. Aber auch der spektakulär-unspektakuläre Abgang des Königs selbst gestaltet sich genauso unerwartet wie unkonventionell.

Dass wir heute im realen politischen Weltgeschehen derart viele Parallelen vorfinden, schmerzt extrem. Eine ähnliche Erfahrung beschrieb der Theaterkritiker und Dramaturg Martin Linzer 1983 in einem Heft von ‚Theater in der Zeit‘. „Zehn Jahre nach der Niederschrift des Textes (Anmerkung – es ist der Text von Heiner Müller gemeint) brennt die Welt an vielen Ecken, geschehen vor den Augen der Welt die Massaker in Beirut, ist die Menschheit vom Wahnsinn atomarer Hochrüstung bedroht.“ Und auch ein Teil aus dem sehr lesenswerten Interview mit Stephan Rottkamp, abgedruckt im Programmheft, soll hier zitiert werden: „Despoten haben wir genug, die mit einer kleinen Clique die Macht an sich gerissen haben und rücksichtslos die eigenen Ziele verfolgen. Das wird so natürlich nicht „eins zu eins“ auf der Bühne zu sehen sein. Aber Assad, Orbán, Trump, solche Namen fallen natürlich in den Gesprächen auf der Probe. Das Stück ist insofern sehr aktuell, als dass es diese Machtmechanismen aufdeckt. Die galten zu Lebzeiten Macbeths im Mittelalter genau wie zur Shakespearezeit Anfang des 17. Jahrhunderts. Und sie gelten auch heute noch; das geht immer weiter und weiter. Deshalb ist es eine vornehme Pflicht, das auch heute auf der Bühne zu zeigen.“
Zwar ist es keine Pflicht, das Stück anzusehen, aber wenn, dann ist es unumgänglich, darüber zu sprechen und es so vielen Menschen wie möglich ans Herz zu legen. Emotionaler und zugleich intelligenter, widersprüchlicher und zugleich kohärenter, bildmächtiger und soundgewaltiger wird man so schnell keinen Macbeth auf einer deutschsprachigen Bühne mehr sehen können.

Die Besetzung: DUNCAN, MACDUFF Alexej Lochmann, SOLDAT Oliver Chomik,LENNOX, 2. MÖRDER*IN Henriette Blumenau MALCOLM, 1. MÖRDER*IN, HEXE Nanette Waidmann FLEANCE, LORD, HEXE Daria von Loewenich, ROSSE, SOLDAT, HEXE Frieder Langenberger

Das Grauen spielt sich nicht nur im Theater ab

Das Grauen spielt sich nicht nur im Theater ab

Reglos liegen und sitzen sie auf einem Bett, davor, aber auch daneben auf dem Bühnenboden. Der Raum ist weiß, wirkt, bis auf eine Unordnung mit Journalen und Papierschnipseln unter dem Schlafplatz, steril. Insgesamt sieben Jugendliche sind es, die kein Wort miteinander wechseln. Während das Publikum noch seine Plätze sucht, verharren die jungen Menschen regungslos – bis man schließlich erkennt, dass es keine Menschen, sondern lebensgroße Puppen sind. Ebendiese sind ein Markenzeichen der französisch-österreichischen Choreografin, Künstlerin und Theaterregisseurin Gisèle Vienne. Von 1996 bis 1999 studierte sie Puppenspiel an der École supérieure nationale des arts de la marionnette in Charleville-Mézières und setzte von Beginn an Puppen, sowie choreografische Elemente in ihren szenischen Arbeiten ein.

L’ÉTANG / DER TEICH wurde vergangenes Jahr erstmalig bei der Ruhrtriennale aufgeführt und gelangte heuer bei den Wiener Festwochen zur Österreich-Premiere. Das Stück, nach einem Text von Robert Walser, sowie Textpassagen von Vienne selbst, wurde von der Theatermacherin in einer sehr eigenwilligen Formensprache umgesetzt. Die beiden Schauspielerinnen, Adèle Haenel und Henrietta Wallberg gehen – bis auf wenige Momente – in Slow-Motion aufeinander zu oder voneinander weg. Einzelne Bewegungen, wie das Anzünden einer Zigarette, dauern gefühlte Ewigkeiten und produzieren ein Zeitgefühl, das Menschen oft in Ausnahmesituationen, in welchen sie bedroht werden, erleben. Was in gemessener Zeit wenige Sekunden dauert, dehnt sich unendlich aus, während man weiß, dass sich genau in diesen Momenten schlimme Dinge ereignen, vor denen man nicht mehr weglaufen kann.

Genau solche Momente sind es, die Vienne anhand von Robert Walsers Figuren nacherzählt. Sie versetzt die Geschichte von Fritz, einem Jugendlichen, der vorgibt, sich zu ertränken, nur damit seine Eltern von ihm endlich Notiz nehmen, in unsere Gegenwart. Adèle Haenel schlüpft in diese, aber auch in die Rolle seiner Schwester und die seines Bruders. Dies tut sie im immer selben Outfit, aber mit unterschiedlichen Stimmen. Dass dieser Wechsel zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, ist beabsichtigt. In Sekundenschnelle geht er zum Teil vor sich, vor allem, wenn es sich um Dialoge handelt. Doch mit Voranschreiten des Geschehens, beginnt man die unterschiedlichen Personen besser auseinanderzuhalten. Henrietta Wallberg verbreitet vom ersten Auftritt an das Gefühl, eine extrem dominante Mutter zu sein, deren Erziehungsstil zum Großteil mit Schlägen und Härte funktioniert. Dass sie in ihrer Ehe selbst ein Gewaltopfer ist, wird erst kurz vor Schluss des Schauspiels klar werden.

Der zeitgenössische Bezug wird nicht nur durch die Kostüme (Gisèle Vienne, Camille Queval, Guillaume Dumont) erreicht. In einer Szene wird deutlich, dass sich Fritz mit Drogen zudröhnt, nur damit „es endlich aufhört“. „Es“, das sind die Beschimpfungen und körperlichen Züchtigungen, denen er ausgesetzt ist und gegen die er sich nicht wehren kann. Dazu kommt das vergiftete Klima zwischen den Geschwistern, die sich untereinander nicht helfen, sondern vielmehr jeder und jede um den eigenen Platz in der Familie zu kämpfen hat.

Eine ausgefeilte Beleuchtungsstrategie (Yves Godin) taucht den Raum immer wieder in unterschiedliche Farben. Dies wirkt – genauso wie die Verlangsamung der Bewegungen und die Sounduntermalung – beinahe schon halluzinogen. Dadurch wird eine Illusion erreicht, bei der man nicht sicher ist, ob das, was man sieht, sich tatsächlich so zuträgt, oder ob es vielmehr traumatische Erinnerungsfetzen von Fritz sind. Dafür spricht das letzte Bild, in welchem die Mutter – wie schon zu Beginn – bedrohlich das Zimmer betritt. Die Endlosschleife ist eröffnet, das Grauen, dem Fritz ausgesetzt ist, scheint kein Ende zu haben.

Der Spielort, das Jugendstiltheater am Steinhof, tut ein Übriges, um das eigene Kopfkino noch zusätzlich anzukurbeln. Es ist nicht nur das Mahnmal vor dem Gebäude, das für jene Kinder errichtet wurde, die während der Nazi-Zeit hier im Areal getötet wurden. Es ist auch der Umstand, dass man plötzlich zu ahnen beginnt, dass sich nur wenige Meter vom Theater Menschen befinden könnten, die aufgrund traumatischer Ereignisse im Kindes- und Jugendalter hier behandelt werden müssen. Das Grauen, das hier auf der Bühne gezeigt wird, es findet im realen Leben statt und schwappt direkt hinaus in die unmittelbare Umgebung. Dass es kein Einzelschicksal ist, das Fritz erleidet, darauf verweisen, das versteht man erst im Nachhinein, die sieben Puppen. Sie wurden, eine nach der anderen, von einem Mann in schwarzen Lederhandschuhen völlig emotionslos von der Bühne ins Off getragen. Das Aufheben der leblosen Körper, so als seien sie schwere Säcke, aber auch die schwarzen Lederhandschuhe, verdeutlichen das Machtgefälle zwischen dem Mann und den Jugendlichen.

Momente der Verstörung, die immer wieder Unsicherheiten im Verstehen des gerade Gezeigten aufkommen lassen, ermöglichen zugleich höchst empathische Identifikationsmomente mit Fritz. Es gibt nichts in seiner Welt, an dem er sich festhalten kann, aber vieles, was ihn zutiefst aus dem Gleichgewicht bringt.  Auch das intensive Spiel von Adèle Haenel und der Umstand, dass der Jugendliche letztlich in den Wahnsinn abgleitet, trägt dazu enorm viel bei.

L‘ étang / der Teich kann auf mehrere Ebenen erfahren werden. Man kann sich ausschließlich emotional auf das Stück einlassen und nachspüren, was die Bilder, Texte, die Musik und der Sound in einem selbst bewirken. Man kann aber auch die Szenen im Nachhinein analysieren und zu dem Schluss kommen, dass hier etwas gezeigt wird, worüber nicht gesprochen wird, weil so etwas „nicht sein darf“. Giséle Vienne gelang eine Arbeit, die auf der Höhe der zeitgenössischen Theaterästhetik angesiedelt ist und durch eine intelligente Regiearbeit und überragende schauspielereische Leistungen besticht.

An der Bruchstelle zwischen Altem und Neuem

An der Bruchstelle zwischen Altem und Neuem

In Reih und Glied sind auf der Bühne der Halle E im Museumsquartier Stahlrohrsessel mit Plastikgeflechten aufgereiht, so als ob sie auf ein Publikum warten würden. An der rechten Wand stehen massive, mehrarmige Lampenkonstruktionen, bestückt mit Kristallleuchtern aus den vergangenen 200 Jahren. Vom Biedermeier-Lüster bis hin zu einer kugeligen Design-Variante unserer Tage ist alles vertreten. Wie schwere Früchte hängen sie an artifiziellen Ästen, machen aber auch darauf aufmerksam, dass die Herrschaft auf dem russischen Gut, auf dem sich Anton Tschechows „Kirschgarten“ abspielt, über mehrere Generationen angedauert hat.

Im rechten Bühnenhintergrund ballt sich eine kleine Menschengruppe zusammen. Es ist das Ensemble des Regisseurs Tiago Rodrigues, der die Schauspielerinnen und Schauspieler für seine Inszenierung des russischen Bühnenklassikers aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengerufen hat.  „Es ist das erste Mal, dass ich mir das Ensemble für die Besetzung von ganz bestimmten Rollen aussuchte“, erklärte der zukünftige Leiter des Festivals von Avignon beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Premiere. 2021 fand die Uraufführung in Avignon statt, die Wiener Festwochen sind einer von insgesamt zehn weiteren Kooperationspartnern, die das Stück noch zeigen werden. Die hier gezeigten Fotos stammen aus dem Setting von Avignon. Die Bühne im Museumsquartier wirkte jedoch nicht nur lichttechnisch, sondern vorrangig wegen des modernen Ambientes, gänzlich anders. Bei seinen vorherigen Arbeiten, von welchen bereits drei in den vergangenen Jahren bei den Wiener Festwochen vertreten waren, hatte der portugiesische Regisseur mit dem Ensemble gemeinsam die Rollen entwickelt. Ursprünglich wollte er sehen, wie er mit Tschechow umgehen könne, doch rasch schon war ihm klar: Es sollte kein einziger Satz anders sein, als der Schriftsteller diese formuliert hatte. „Alles ist perfekt an dem Text, es wäre vermessen, etwas hinzuzufügen oder wegzulassen“ – so sein weiterer Kommentar.

Ausgehend von seiner Wunschbesetzung, der Gutsherrin Lioubov, für die er Isabelle Huppert gewinnen konnte, formierte er um sie herum ein diverses Team mit einigen People of Color. Allerdings war laut Rodrigues damit keine dramaturgische Idee verbunden. Dass sich dadurch an einer bestimmten Stelle jedoch ein besonderes Interpretationsfenster öffnete, sei ihm und dem Ensemble erst während der Proben bewusst geworden.

Die Bühnenausstattung von Fernando Ribeiro bleibt das ganze Stück über zwar bestehen, wird jedoch im Laufe der Zeit umgestellt und bewegt. Bald schon werden die Stühle zu einem großen Stuhlhaufen zusammenstellt – sinnbildlich für die Veränderung, die im Gutshaus, um den herum sich der schöne Kirschgarten befindet, vonstattengehen. Tschechow beschrieb in diesem Stück den Untergang der Feudalzeit mit seiner Leibeigenschaft und das Aufkommen eines neuen Systems, in dem sich aus Armut befreien kann, wer Glück und Können hat. Dieser Umbruch, der das Gesellschaftssystem komplett verschob, macht Ribeiro wirksam sichtbar. Am Ende werden die großen Lampen-Konstrukte nicht mehr rechts entlang, sondern links entlang der Bühne stehen und kein Stuhl mehr in dessen Mitte zu sehen sein. Die Macht, die sich nach der Zarenherrschaft in Russland vom politisch rechten hin zum linken Rand verschoben hat und zugleich die Leere einer Gesellschaftsordnung, die es erst zu füllen galt – all dies schwingt in diesem Bühnenbild grandios mit.

Zu Beginn des Abends führt Adama Diop jedoch mit wenigen Worten in Tschechows Stück ein und erzählt kurz über dessen Entstehung. Danach verkörpert er fulminant die Rolle von Lopakhine, jenem Mann, dessen Eltern und Großeltern noch Leibeigene am Gut von Lioubov waren. Zu Wohlstand gekommen, wird er es sein, der dieses schließlich ersteigern wird. Das Durchbrechen der „vierten Wand“ ist nicht nur am Anfang der Aufführung spürbar. Viele der Monologe werden von den Schauspielerinnen und Schauspielern nicht an ihr persönliches Gegenüber, sondern direkt ins Publikum gerichtet. Vor Beginn des vierten Aktes tut Diop dies noch einmal, um anzumerken, dass das Stück eigentlich an dieser Stelle – nachdem das Gut versteigert wurde – zu Ende hätte sein können. Tatsächlich fügte Tschechow den letzten Akt erst später hinzu, da er den „Kirschgarten“ nicht als Drama, sondern als Tragikomödie verstanden wissen wollte. So befriedete er nach dem großen finanziellen, aber auch psychischen Crash, der alle Personen traf, die mit dem Gut in Verbindung gewesen waren, das Geschehen durch eine Abschiedsszene. Die Zukunft aller Beteiligten ist zwar ungewiss, dennoch machen sich alle hoffnungsfroh auf und zerstreuen sich in alle Winde. Nur Lioubov, die erkennen muss, dass die unbeschwerte Zeit des Geldausgebens ein für alle Mal für sie vorbei und ihr Elternhaus verloren ist, und der alte Diener Firs, der seinen Lebensinhalt, das Dienen, verloren hat und nun allein zurückbleibt, sind die einzigen, die keinen Hoffnungsschimmer mehr haben.

Tiago Rodrigues fügt dem Geschehen eine weitere, monumental-musikalische Ebene hinzu, mit der er die einzelnen Szenen geschickt voneinander trennt und zum Teil auch untermalt. Manuela Azevedo und Hélder Gonçales rocken mit einem Stage-Piano, Drum-Klängen und einer E-Gitarre nicht nur die Bühne, sondern den Saal und verschieben damit zugleich die Erzählung in die Gegenwart. Die Figuren legt der Regisseur scharf an der Grenze zu einer Commedia dell’Arte-Manier an. Wenn sie sich freuen, sind sie außer Rand und Band, hüpfen, springen und jauchzen. Große Gesten, aber auch starke, emotionale Momente, die allen voran Isabelle Huppert mit Bravour beizusteuern weiß, kennzeichnen dieses Spiel. Faszinierend zu sehen, wie es ihr gelingt, innerhalb von einem Augenblick von der überdrehten, lebenslustigen Frau in eine, um ihren Sohn tief trauernde, zu wechseln. Dieses stark empfundene Gefühl überträgt sich augenblicklich ins Publikum und macht zugleich deutlich, mit welch hoher Schauspielkunst Huppert hier agiert.

Um nichts nach steht ihr Marcel Bozonnet, der den alten Diener Firs spielt. Eingekleidet wie Freddie Frinton als Bediensteter im weltberühmten Dinner-for-one-Sketch und auch mit dessen tollpatschigem Habitus agierend, berührt er vom ersten bis zum letzten Auftritt die Zusehenden. Adama Diop schafft allein durch seine Hautfarbe schließlich jenen Wendepunkt in der Interpretation, der das Stück unter einem gänzlich neuen Blickwinkel betrachten lässt. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Zorn, die aus der Geschichte seiner Familie resultieren und der für ihn noch nicht wirklich zu fassenden neuen Rolle als Gutsbesitzer durchlebt er psychologische Höhen und Tiefen, welchen er nicht wirklich gewachsen ist. In seiner furios angelegten Rechtfertigung des Gutskaufes schwingt enorm viel von jener kolonialen Brachialgewalt mit, unter deren Nachwirkungen die meisten der ehemaligen europäischen Kolonien noch heute zu leiden haben.

Dieser Interpretationsansatz kann – auch wenn er ursprünglich nicht intendiert war – in der kritischen Betrachtung der Inszenierung nicht außer Acht gelassen werden. Er schwingt stark mit, hervorgerufen durch unseren Zeitgeist, in dem vor allem auch die Kunst einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung dieser verbrecherischen, menschenverachtenden und ausbeuterischen Geschehen zu leisten hat. Dass es immer die Brille der Betrachtenden selbst ist, welche dazu beiträgt, Ereignisse individuell zu beurteilen, ist bekannt. Der Umstand, dass in den Theatern in Österreich diverse Ensembles noch die Ausnahme sind, trägt zu dieser Sichtweise jedoch stark bei. Wenn die Betrachtungsweise eines Stückes allein durch die Hautfarbe eines Schauspielers eine neue Wendung bekommen kann, darf man rückschließen, wie groß der Aufholbedarf in Bezug auf Diversität auf unseren Bühnen ist.

Isabel Abreu, Tom Adjibi, Nadim Ahmed, Suzanne Aubert, Océane Caïraty, Alex Descas, David Geselson, Grégoire Monsaingeon sowie Alison Valence – sie alle seien ausnahmslos für die intensive Darstellung ihrer Rollen genannt.

Das Festhalten an Tschechows ursprünglichem Text, die Beigabe einer starken musikalischen Komponente, ein Ensemble, in dem jeder und jede Einzelne mehr als überzeugten und die Tatsache, dass der vorgeführte gesellschaftliche Umbruch leicht in unsere Zeit zu übertragen ist, zeichnen diese Inszenierung als eine sehr erinnernswerte aus.

 

Eine geballte Ladung zeitgenössisches Musiktheater in Graz

Eine geballte Ladung zeitgenössisches Musiktheater in Graz

„Zeit. Vergänglich“ – Opern der Zukunft 2022 – so nannte sich der Generaltitel des Abends, an welchem vier Kurzopern zur Aufführung kamen. Der Titel bot eine kluge thematische Klammer für die Arbeiten, die sich allesamt nicht in die Verordnung einer bestimmten Zeit fügten.

Morgen 6:58

„Morgen 6:58“ von der Komponistin Jeeyoung Yoo (Absolventin von Beat Furrer & Franck Bedrossian) und der Librettistin Sanghwa Park führte drei unterschiedliche Charaktere vor, die jedoch genauso drei innere Stimmen ein- und derselben Person sein können. „Ge“, gesungen von Melis Demiray, versprühte dabei einen ausufernden Optimismus und verkörperte die Lebenslust eines jungen Mädchens, das trotz widriger Umstände das Leben ausschließlich positiv annimmt.

Justina Vaitkute hingegen personifizierte als „Bu“ genau das Gegenteil. Unfähig, aus dem Bett zu kommen, lamentierte sie über die Schwere des Lebens und verfiel dabei in beinahe eselsgleiche Schmerzensrufe.

Harald Hieronymus Hein hingegen als „Mu“ gab einen jungen Menschen mit neutraler Lebenseinstellung nach dem Motto: Nicht zu viel hoffen, nichts erwarten, alles nehmen, wie es kommt.

Die musikalische Umsetzung begann und endete mit Luftgeräuschen der Blasinstrumente, die wie ein kurzer, musikalischer Prolog und Epilog wirkten. Der Stimmeneinsatz zeichnete sich über weite Strecken durch Sprechgesänge aus, die zum Teil kunstvoll denselben Text leicht versetzt rezitierten. Die unterschiedlichen Stimmlagen wurden von Instrumenten unaufdringlich unterstützt. Flöten und Geigen waren bei Melis Demiray vorherrschend, dunkle Bläser bei Justina Vaitkute und Posaunen begleiteten Harald Hieronymus Hein. Das Bühnenbild – drei nebeneinanderstehende Kingsize-Betten in unterschiedlichen Farben, unterstützte einen beinahe eingefrorenen Zeitmoment, eingefangen zwischen schlafender Inaktivität und morgendlicher Aufwachphase und einer Uhr, bei der sich der Zeiger im Laufe der Kurzoper nur um 1 Minute weiterbewegte.

The Patron Saint of Liars

Für „The Patron Saint of Liars“, einem musikalischen Satyrspiel von Sinan Samanli (Student von Beat Furrer) sang das Ensemble in türkischer und englischer Sprache. Dafür verwendete der Komponist Textstellen aus dem Roman „Das Uhrenstellinstitut“ von Ahmet Hamdi.

Die Geschichte zeigt die Entstehung und Verbreitung von sogenannten „Fake News“ auf, die schließlich nicht nur von jenen geglaubt werden, für welche sie gemacht wurden, sondern letztlich sogar jenen logisch erscheinen, die sie produzieren. Mit einer völlig surrealen Komponente kippt die Erzählung in ein Ende, in welchem ein Bild erzeugt wird, das an das letzte Abendmahl erinnert. Vibeke Andersen schuf für alle vier Kurzopern die Bühnenbilder. Hier gestaltete sie ein altmodisches Büro mit einzelnen Arbeitstischen, bevölkert von grauen Arbeitskräften (Kostüme Mareile von Stritzky, ebenfalls für die Ausstattung des Abends zuständig), die stupiden Arbeiten nachgehen müssen; solange, bis der Institutsleiter Hayri von Zweifeln über das eigene Tun geplagt wird.

Felix Heuser  überzeugt in der Rolle sowohl stimmlich als auch mit einer ausgeprägten, schauspielerischen Leistung und bietet seinem Vorgesetzten Halit – Thomas Essl, einen scharfen Widerpart. Ana Caseiro Vieira, Ellen Kelly, Johannes Wieners und Harald Hieronymus Hein haben sowohl klanglich sehr interessante Chorpassagen als zum Teil auch solistische Aufgaben zu meistern. Die sehr komplex gesetzte Partitur erfordert exakteste Stimm- und Instrumentaleinsätze. Eine herausragend gemeisterte Aufgabe von Leonhard Garms, der das PPCM-Ensemble – die Masterklasse des Klangforum Wien an der KUG – leitete.

 

Solus – Bild einer gebrochenen Frau

Das dritte Stück des Abends „Solus“ – Bild einer gebrochenen Frau – komponiert von Ármin Cservenák (Student von Beat Furrer), hielt den Sängerinnen Corina Koller, Samantha Baran und Justina Vaitkute höchst anspruchsvolle Aufgaben bereit. Das Libretto ist aus Gedichten von Rilke und Nietzsche zusammengestellt, für das letzte Bild steuerte Cservenák selbst den Text bei.

Die drei Frauen, die letztlich einen einzigen Charakter wiedergeben, erzählen und singen von den Schmerzen einer unerfüllten Liebe, die am Schluss in den Wahnsinn kippt. Dabei glänzte Corina Koller mit einem unglaublich fülligen, zugleich aber hoch lyrischen Sopran, den man ohne Übertreibung als atemberaubend bezeichnen kann. Stille Augenblicke, in welchen das musikalische Geschehen beinahe zum Erliegen kommt, wechseln sich mit furiosen ab, in welchen das Orchester förmlich tobt. In lange, flirrende Instrumentalpassagen wiederum brechen die Stimmen laut und brachial ein. Ganz im Gegensatz zu einem wunderbaren Terzett, in dem Cservenák die Stimmen kunstvoll miteinander verschränkt.

Glücklich, die wissen, dass hinter allen Sprachen das Unsägliche steht

„Glücklich, die wissen, dass hinter allen Sprachen das Unsägliche steht“ – ein Operncinema von Joan Gómez Alemany (Absolvent von Clemens Gadenstätter & Franck Bedrossian) bildete den fulminanten Abschluss der Kurzopernserie. Neben der cineastischen Verschränkung des Geschehens mit jenem auf der Bühne ist ein breit angelegter Instrumentaleinsatz für das Werk charakteristisch. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Menschen hat sich offenbar zu einer Trauerfeier zusammengefunden.

Die Videoeinspielungen einer alten Frau in einem kleinen Haus in Spanien, bei der man sie sowohl beim Kochen, Nähen an einer Nähmaschine als auch beim Beten sieht, legen den Schluss nahe, dass die Menschen sich zu ihrem Begräbnis zusammengefunden haben. Bilder von Kircheninneren, aber auch Aufnahmen von kommunistischen Soldaten, die lachend Köpfe von geschändeten Kruzifixen in der Hand halten, vermitteln ein breites Spannungsfeld, das auch musikalisch hörbar wird. Tonmaterial, das – wie in einem Fall – die alte, mechanisch betriebene Nähmaschine hörbar macht, wechselt mit auffallenden Harmonien – just in dem Moment, in welchem auch das Wort „Harmonien“ im Text verwendet wird. Eine lange Klavierpassage mit romantisch angelegten, breiten Läufen steht im krassen Gegensatz zu wilden Tanzrhythmen und scharfen Fanfaren.

Die Texte stammen von Fernando de Rojas, Angelus Silesius, Rainer Maria Rilke – der im Moment wieder eine neue Blüte erlebt – Novalis, Friedrich Hölderlin, acht Namen von Komponisten, neun Worten der christlichen Liturgie, drei erfundenen Wörtern und einem Satz von Bertolt Brecht. Das Gesangsensemble mit Ana Caseiro Vieira, Samantha Baran, Felix Heuser und Harald Hieronymus Hein – alle schon in vorangegangenen Kurzopern im Einsatz – überzeugte sowohl stimmlich als auch schauspielerisch.

Diese Art, Komponierende mit kurzen Werken zu präsentieren, fördert ein über den Abend hinaus anhaltendes Interesse an ihnen. Für die Studiobühne wäre der Einbau eines Belüftungs- oder Klimasystems sehr wünschenswert. Nicht nur für die Musizierenden, sondern auch für das Publikum.

Viel Kopf, wenig Herz

Viel Kopf, wenig Herz

„Una imagen interior“ des spanischen Theaterduos El Conde de Torrefiel, gezeigt im Rahmen der Wiener Festwochen im Museumsquartier, ist eine jener mittlerweile schon eher rar anzufindenden Inszenierungen im zeitgenössischen off-mainstream-Bühnengeschehen, bei der man sich als Kritikerin wie weiland Hans Moser als Dienstmann fragt: „Wie nemma denn den?“ Denn wie man die Betrachtung dreht und wendet, einfach wird es nicht, dem Stück in der Beurteilung wirklich gerecht zu werden.

Der Inhalt ist rasch nacherzählt. Beim Besuch im Naturhistorischen Museum, der auf der Bühne markiert wird, beschäftigt sich der oder die Ich-Erzählende ausgiebig mit der Reproduktion einer prähistorischen Höhlenmalerei. Der Text, der sich dabei im kunstbetrachtenden Kopf formt, wird mittels Leuchtschrift in Englisch und Deutsch dem Publikum sichtbar gemacht. Die auf der Bühne Agierenden wurden zum Teil aus der Wiener Bevölkerung rekrutiert. Niemand von ihnen, auch nicht das Ensemble selbst, muss etwas sprechen. Auch wird nicht getanzt. Wie Traumfiguren wandeln sie in insgesamt drei Szenen – mit jeweils unterschiedlicher Beleuchtung – über die Bühne und bewegen dabei ab und zu die Lippen.

Zu Beginn wird ein großes Gemälde auf Plastik, bemalt in bester Drip-Painting-Manier à la Jackson Pollock, vom Boden hochgezogen, sodass es bühnenfüllend gut sichtbar wird. Es ist ein symbolhafter Ersatz für jenes prähistorische Artefakt, welches zum Ausgangspunkt der intrinsischen Betrachtungen wird. An der Linienführung ist zu erkennen, dass der Malgrund nach dem Auftrag der Farbe zusammengeklappt wurde, um so ein gespiegeltes Formengebilde zu ergeben. Frauen und Männer gehen betrachtend daran vorüber oder bleiben davor stehen, um es sich genauer anzusehen. Die Soundeinspielung lässt erkennen, dass sie in einem großen, hallenden Raum, wie es jene in den großen Museen am Ring sind, aufgenommen wurde.

Nach einer langen Aufzählung von zeitgenössischen philosophischen Beiträgen zum Thema Realität, sowie deren Wahrnehmung und Infragestellung erfolgt der Wechsel in ein Supermarkt-Ambiente. Dort wandeln die Kaufenden entlang imaginierter Regale und sprechen allenfalls dann miteinander, wenn sie offenbar ein Produkt nicht finden können.

Während dieses Defilees entwickelt sich die Erkenntnis, dass der Mensch nur mehr durch einen Bombenabwurf in sein ursprüngliches Dasein jenseits der technischen Zivilisation zurückgebracht werden kann. Eine Erkenntnis, die am Ende des Stückes hanebüchen in einer idealisierten Rousseau´schen Glücksidee gipfeln wird. Zurück zur Natur bedeutet für Tanya Beyeler und Pablo Gisbert, die Masterminds von El Conde de Torrefiel, offenbar zurück zu einem Menschsein, in dem es sich wieder lohnt, in einer glücklichen Gemeinschaft zu leben.

Bis dieses Heilsversprechen dem Publikum jedoch klar wird, werden in einer dystopisch-szenischen Anordnung laute Soundeinspielungen mit derart rhythmischen Bassvibrationen eingespielt, dass diese Schwingungen, die sich auf die Sitzränge übertragen, körperlich spürbar werden. Das Scheppern und Krachen, das Dröhnen und Stampfen imitiert einen apokalyptischen Moment, der dem wiedererlangten Glück auf Erden vorangeht. Er wird mit einem grellen Scheinwerfer verstärkt, der ins Publikum blendet, sodass während der Soundcollage kein visueller Reiz das auditive Monster-Geschehen stören kann.

Vorbei sind danach jedoch die Zeiten, in welchen der Konsummensch für sich allein dem Kaufrausch frönte. Schien schon die supermarkt-wagenschiebende Szene zuvor endlos lang, verhält es sich mit der post-apokalyptischen danach ähnlich. Die Überlebenden des GAUs finden sich entweder in einer kleinen Gruppe zusammen, um miteinander zu sprechen oder sich minimalen, tanzenden Bewegungen hinzugeben, oder sie lagern um eine artifizielle, elektrifizierte Feuerstelle. Alles zurück zum Anfang sozusagen. Einzig ein angedeuteter „Tanz um ein goldenes Kalb“ – in Form eines großen Goldklumpens, zeigt auf, dass sich auch nach einem Beinahe-Ausrottungsprozess die Begierden des Menschen nicht verändern werden.

Dass der Schluss der Inszenierung mit einer Bemalung einer weißen Plastikplane enden würde, war in jenem Moment klar, als diese auf dem Boden ausgebreitet wurde. Das farbige auf-die-Leinwand-Tropfen wird zu einem Gemeinschaftserlebnis, bei welchem durch Handzeichen Anweisungen gegeben werden oder durch Kopfnicken Zustimmung erfolgt. Auch das Zusammenklappen, um jenen Spiegelungseffekt zu erzeugen, der das erste präsentierte Bild aufwies, durfte dabei nicht fehlen.

Soweit der nacherzählende Teil von „Und imagen interior“ – dem Bild ins Innere.

Die Inszenierung erweckte den Eindruck, dass der Griff in die Zauberkiste des post-dramatischen Theaters bei dieser Stückentwicklung mit Regionalbezug, nur beschränkt funktionierte. Zu sehr war die Bemühung spürbar, alle Erfolgszutaten, die ein solches Format ausmachen, krampfhaft unterbringen zu wollen. Es entstand das Gefühl, dass hier ganz nach der Manier einer abzuarbeitenden Strichliste vorgegangen wurde, als da wären: Lokale Publikumsbeteiligung – haben wir; Einbeziehung einer bekannten Kulturinstitution vor Ort – haben wir; Einbettung unserer Ideen in einen pseudowissenschaftlichen Rahmen – haben wir; Grenzgang zwischen theatralischen Geschehen und musikalischer Performance – haben wir; Publikumsirritation (Anmerkung: vermeintliche Publikumsirritation) durch Gegenlicht – haben wir. Bei all dem wurde aber schlichtweg auf das vergessen, was gutes Theater wirklich ausmacht: Eine Geschichte oder auch Ideen an das Publikum so zu vermitteln, dass dieses dabei emotional berührt wird. Fazit: Mehr Herz und weniger Kopf hätten der Aufführung genauso gut getan, wie das Weglassen einer klischeehaften, kindlichen Vorstellungen eines glücklichen Zusammenlebens auf dieser Welt, in einem vermeintlichen Naturzustand.

Dass im Publikumsflyer unter dem Motto ‚papierfrei weiterlesen!‘ kein Text, sondern nur ein QR-Code abgedruckt ist, von dem aus man einen Text, ein Portrait über die Gruppe, sowie ein kurzes Videointerview findet, ist hoffentlich die Ausnahme und nicht die Regel für künftige Programmzettel.