Das Grauen spielt sich nicht nur im Theater ab

Das Grauen spielt sich nicht nur im Theater ab

Michaela Preiner

Foto: ( Estelle Hanania )

30.

Mai 2022

Machtmissbrauch beginnt in der Familie und er wird von dort aus weitergegeben. Gisèle Vienne gelang mit 'L´etang / Der Teich' eine hochemotionale Umsetzung des gleichnamigen Theaterstückes von Robert Walser. Dabei wird vor Augen geführt, wie Kinder ihren Eltern emotional ausgeliefert sind und wie sehr sie unter Liebesentzug leiden.

Reglos liegen und sitzen sie auf einem Bett, davor, aber auch daneben auf dem Bühnenboden. Der Raum ist weiß, wirkt, bis auf eine Unordnung mit Journalen und Papierschnipseln unter dem Schlafplatz, steril. Insgesamt sieben Jugendliche sind es, die kein Wort miteinander wechseln. Während das Publikum noch seine Plätze sucht, verharren die jungen Menschen regungslos – bis man schließlich erkennt, dass es keine Menschen, sondern lebensgroße Puppen sind. Ebendiese sind ein Markenzeichen der französisch-österreichischen Choreografin, Künstlerin und Theaterregisseurin Gisèle Vienne. Von 1996 bis 1999 studierte sie Puppenspiel an der École supérieure nationale des arts de la marionnette in Charleville-Mézières und setzte von Beginn an Puppen, sowie choreografische Elemente in ihren szenischen Arbeiten ein.

L’ÉTANG / DER TEICH wurde vergangenes Jahr erstmalig bei der Ruhrtriennale aufgeführt und gelangte heuer bei den Wiener Festwochen zur Österreich-Premiere. Das Stück, nach einem Text von Robert Walser, sowie Textpassagen von Vienne selbst, wurde von der Theatermacherin in einer sehr eigenwilligen Formensprache umgesetzt. Die beiden Schauspielerinnen, Adèle Haenel und Henrietta Wallberg gehen – bis auf wenige Momente – in Slow-Motion aufeinander zu oder voneinander weg. Einzelne Bewegungen, wie das Anzünden einer Zigarette, dauern gefühlte Ewigkeiten und produzieren ein Zeitgefühl, das Menschen oft in Ausnahmesituationen, in welchen sie bedroht werden, erleben. Was in gemessener Zeit wenige Sekunden dauert, dehnt sich unendlich aus, während man weiß, dass sich genau in diesen Momenten schlimme Dinge ereignen, vor denen man nicht mehr weglaufen kann.

Genau solche Momente sind es, die Vienne anhand von Robert Walsers Figuren nacherzählt. Sie versetzt die Geschichte von Fritz, einem Jugendlichen, der vorgibt, sich zu ertränken, nur damit seine Eltern von ihm endlich Notiz nehmen, in unsere Gegenwart. Adèle Haenel schlüpft in diese, aber auch in die Rolle seiner Schwester und die seines Bruders. Dies tut sie im immer selben Outfit, aber mit unterschiedlichen Stimmen. Dass dieser Wechsel zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, ist beabsichtigt. In Sekundenschnelle geht er zum Teil vor sich, vor allem, wenn es sich um Dialoge handelt. Doch mit Voranschreiten des Geschehens, beginnt man die unterschiedlichen Personen besser auseinanderzuhalten. Henrietta Wallberg verbreitet vom ersten Auftritt an das Gefühl, eine extrem dominante Mutter zu sein, deren Erziehungsstil zum Großteil mit Schlägen und Härte funktioniert. Dass sie in ihrer Ehe selbst ein Gewaltopfer ist, wird erst kurz vor Schluss des Schauspiels klar werden.

Der zeitgenössische Bezug wird nicht nur durch die Kostüme (Gisèle Vienne, Camille Queval, Guillaume Dumont) erreicht. In einer Szene wird deutlich, dass sich Fritz mit Drogen zudröhnt, nur damit „es endlich aufhört“. „Es“, das sind die Beschimpfungen und körperlichen Züchtigungen, denen er ausgesetzt ist und gegen die er sich nicht wehren kann. Dazu kommt das vergiftete Klima zwischen den Geschwistern, die sich untereinander nicht helfen, sondern vielmehr jeder und jede um den eigenen Platz in der Familie zu kämpfen hat.

Eine ausgefeilte Beleuchtungsstrategie (Yves Godin) taucht den Raum immer wieder in unterschiedliche Farben. Dies wirkt – genauso wie die Verlangsamung der Bewegungen und die Sounduntermalung – beinahe schon halluzinogen. Dadurch wird eine Illusion erreicht, bei der man nicht sicher ist, ob das, was man sieht, sich tatsächlich so zuträgt, oder ob es vielmehr traumatische Erinnerungsfetzen von Fritz sind. Dafür spricht das letzte Bild, in welchem die Mutter – wie schon zu Beginn – bedrohlich das Zimmer betritt. Die Endlosschleife ist eröffnet, das Grauen, dem Fritz ausgesetzt ist, scheint kein Ende zu haben.

Der Spielort, das Jugendstiltheater am Steinhof, tut ein Übriges, um das eigene Kopfkino noch zusätzlich anzukurbeln. Es ist nicht nur das Mahnmal vor dem Gebäude, das für jene Kinder errichtet wurde, die während der Nazi-Zeit hier im Areal getötet wurden. Es ist auch der Umstand, dass man plötzlich zu ahnen beginnt, dass sich nur wenige Meter vom Theater Menschen befinden könnten, die aufgrund traumatischer Ereignisse im Kindes- und Jugendalter hier behandelt werden müssen. Das Grauen, das hier auf der Bühne gezeigt wird, es findet im realen Leben statt und schwappt direkt hinaus in die unmittelbare Umgebung. Dass es kein Einzelschicksal ist, das Fritz erleidet, darauf verweisen, das versteht man erst im Nachhinein, die sieben Puppen. Sie wurden, eine nach der anderen, von einem Mann in schwarzen Lederhandschuhen völlig emotionslos von der Bühne ins Off getragen. Das Aufheben der leblosen Körper, so als seien sie schwere Säcke, aber auch die schwarzen Lederhandschuhe, verdeutlichen das Machtgefälle zwischen dem Mann und den Jugendlichen.

Momente der Verstörung, die immer wieder Unsicherheiten im Verstehen des gerade Gezeigten aufkommen lassen, ermöglichen zugleich höchst empathische Identifikationsmomente mit Fritz. Es gibt nichts in seiner Welt, an dem er sich festhalten kann, aber vieles, was ihn zutiefst aus dem Gleichgewicht bringt.  Auch das intensive Spiel von Adèle Haenel und der Umstand, dass der Jugendliche letztlich in den Wahnsinn abgleitet, trägt dazu enorm viel bei.

L‘ étang / der Teich kann auf mehrere Ebenen erfahren werden. Man kann sich ausschließlich emotional auf das Stück einlassen und nachspüren, was die Bilder, Texte, die Musik und der Sound in einem selbst bewirken. Man kann aber auch die Szenen im Nachhinein analysieren und zu dem Schluss kommen, dass hier etwas gezeigt wird, worüber nicht gesprochen wird, weil so etwas „nicht sein darf“. Giséle Vienne gelang eine Arbeit, die auf der Höhe der zeitgenössischen Theaterästhetik angesiedelt ist und durch eine intelligente Regiearbeit und überragende schauspielereische Leistungen besticht.

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