Ein Menschenexperiment mit unbekanntem Ausgang

Ein Menschenexperiment mit unbekanntem Ausgang

Stücke unbekannter Autoren und Autorinnen werden nicht gerne auf den Spielplan von Theatern gesetzt, da sie von vornherein keine vollen Häuser garantieren. Umso bemerkenswerter ist es, wenn kleine Bühnen, wie das Theater Spielraum in der Kaiserstraße in Wien, genau das tun. So ist derzeit dort das Stück „Der Streit“ des französischen Autors Pierre Carlet de Marivaux zu sehen. Marivaux, 1688 in dieselbe Generation wie Watteau, Bach und Voltaire geboren, war auf Komödien spezialisiert, deren ProtagonistInnen er psychologisch genau unter die Lupe nahm. Er widmete sich, wie die meisten Dramatiker seiner Zeit, der Liebe, ohne jedoch wie diese seinen Stücken ein dezidiertes Happy-End zu vergönnen. Das Ende seiner Komödien ist meist der tatsächliche Anfang der Liebesbeziehungen, deren Ausgang jedoch ungewiss bleibt.

Diese dramaturgische Herangehensweise wurde von ihm auch in seinem Werk „Der Streit“ verfolgt, in welchem er sein Brennglas auf die Entstehung von Liebesgefühlen und deren ersten Verirrungen ansetzt. Der Ausgangspunkt der Handlung basiert auf einer Wette zwischen Prinz und Prinzessin, die sich nicht einigen können, welches Geschlecht denn für die Treulosigkeit die Verantwortung trage. Um dies herauszufinden, trennen sie zwei Mädchen und zwei Buben nach der Geburt von ihren Eltern und lassen jedes Kind völlig abgeschirmt von der Außenwelt, nur von einem Dienerpaar betreut, aufwachsen. Erst als sie 18 Jahre alt geworden sind, werden die Türen geöffnet und die jungen Menschen nacheinander mit den anderen konfrontiert. Daraus ergeben sich auf Anhieb zwei Liebespaarkonstellationen.

Die Regie von Peter Pausz unternimmt einige heftige Einschnitte in den Handlungsverlauf, die – im Sinne einer zeitgenössischen Aufführung – durchaus legitim sind, aber doch unterschiedlich diskutiert werden können. Ein Eingriff besteht darin, dass er die Beziehungsanbahnungen zwischen den beiden Paaren beinahe zeitgleich auf der Bühne darstellt – was tatsächlich gut funktioniert und den Einakter um einiges verkürzt. Gleichzeitig streicht Pausz die Rollen des Dienerpaares und überlässt das Fädenziehen und Zusammenführen der jungen Menschen direkt dem Prinzen und seiner Frau. Bei ihm sind sie ein altes Ehepaar, ständig auf der Lauer vor dem anderen und darauf bedacht, mit der jeweils eigenen Idee des geschlechterdeterminierten Treuebruchs Recht zu behalten. Max Mayerhofer und Anja Waldherr sind mit Gehstöcken ausgestattet, die in ihrem heftigen und lauten Einsatz die grausame Autorität der beiden veranschaulichen. Bis zum Schluss wähnt sich das Ehepaar in einer Rolle, in der sie Herr und Frau über das Geschehen sind.

Marivaux lässt im weiteren Verlauf des Geschehens die beiden Mädchen Eglé und Adine als Egomaninnen miteinander heftig konkurrieren. Hier kommt nun der zweite, heftige Eingriff des Regisseurs. Pausz verkehrt zwei der Marivaux`schen Charaktere in ihr geschlechtliches Gegenteil, um dem Vorwurf des Sexismus auszukommen. Das bewirkt, dass es bei ihm nicht zum Zickenkrieg kommt, sondern sich die beiden jungen Frauen ineinander verlieben. Was sich hier etwas verwirrend anhören mag, ist in der Inszenierung jedoch bis dahin ganz plausibel. Eglé, eine narzisstische Persönlichkeit, humorigst durch Yvonne Laussermayer wiedergegeben, verliebt sich zuerst in Azor. David Czifer mimt glaubwürdig diesen jungen Mann, der sich auf Anhieb mit Haut und Haaren Eglé hingibt, um zum Schluss doch wegen einer neuen Liebe sitzen gelassen zu werden. Fast zeitgleich ereignet sich das Liebeswunder auch zwischen Adin und Mesrine. Christian Kohlhofer spielt Adins narzisstische Veranlagung mit Verve bis zur eisigen Abkehr von Mesrine, dargestellt durch Rina Juniku, die liebenswürdigst ein sehr kindliches Gemüt überschwänglich zur Schau stellen kann. Nach den ersten heterosexuellen Verliebtheiten begegnen sich bei Pausz die beiden Mädchen und lassen prompt ihre Geliebten im Handumdrehen fallen. Das Interessante bei dem Geschlechtertausch, den der Regisseur vornahm, ist, dass sich die Befindlichkeiten der einzelnen Charaktere nicht ändern. Egal ob Mann oder Frau – die Liebe bringt alle in unvorhergesehene Situationen. Die beiden narzisstisch Veranlagten – Eglé und Adin – bleiben narzisstisch veranlagt und schreiben die Folgen ihre Selbstverliebtheit lieber äußeren Umständen zu, als ihren Charaktermangel zu erkennen. Azor und Mesrine hingegen ertragen das Egomanentum ihrer Geliebten in ihrer ersten Verliebtheit, ja sind davon sogar entzückt und geblendet und lassen sich sogar ein zweites Mal von Menschen mit demselben Charakterzug verführen.

Erst beim Liebesverrat werden die unterschiedlichen Verletzungen jedoch deutlich. Eglé, die Azor verlässt, fühlt sich dennoch zutiefst getroffen, als dieser sich tatsächlich von ihr abwendet und Adin überfällt keine Trauer, sondern eiskalte Wut über sein Verlassenwerden. Zwar sind es bei Pausz auch die weibliche Eglé und der männliche Adin, die als Verführer in ihren zweiten Beziehungen auftreten. Die szenische Abfolge jedoch, in der zuerst die beiden Frauen zueinanderfinden und die Männer sich vor vollendete Tatsachen gestellt sehen, lässt den Schluss zu, dass die Treuebrecher die beiden Frauen und nicht wie bei Marivaux eine Frau und ein Mann sind. Das würde aber bedeuten, dass der Regisseur dem ursprünglich intendierten Ende, nachdem der Treuebruch geschlechterunabhängig ist, widerspräche. Dieser – ich gehe hier von einem falsch verstandenen Rückschluss aus – macht zugleich aber auch den Rollentausch, durch welchen die explizite Vermeidung des Zickenkrieges und die weibliche Zuschreibung von Narzissmus stattfinden sollte, obsolet. Hier wäre eine Zeitgleichheit in den Verführungsszenen vielleicht das Mittel der Wahl gewesen, um die ursprüngliche Intention der geschlechterunabhängigen Verhaltensweisen auch als solche vermittelt zu bekommen. So bleibt das Gefühl, Adin hätte Azor nur aus gekränkter Eitelkeit verführt, die erst durch die Abkehr Mesrines von ihm ausgelöst wurde.

Nach dem Bruch der ersten Beziehungen und dem Bekenntnis Eglés und Mesrines zueinander greift der Regisseur ein letztes Mal vehement in die Dramaturgie von Marivaux ein, indem er den Schluss völlig verändert. Im Original wird dabei ein neues Paar vorgeführt, welches sich, wie schon ihre Vorgänger, ewige Liebe schwört. Dass auch ihr Bekenntnis zueinander durch einen abermaligen Untergriff ihrer adeligen Prinzipale zumindest heftig ins Wanken geraten wird, kann das Publikum aufgrund des bisherigen Geschehens mit den bereits liebesgebeutelten menschlichen Versuchskaninchen leicht erraten. Pausz hingegen verzichtet auf die Einführung der beiden und lässt seine jungen Menschen revoltieren. Nachdem ihnen ihr gelenktes Schicksal bewusst geworden war, werden sie tätlich und vergreifen sich an ihren „Lehrern“, dem Prinzen und der Prinzessin, die sie als solche nicht mehr anerkennen. Nun ist solch eine Umschreibung im Sinne von – einen gänzlich anderen Schluss erzählen – durchaus legitim. Allerdings fehlte in der Aufführung die schlüssige psychologische Erklärung, warum sich alle vier Jungen spontan zu dieser Tat hinreißen ließen. Der Wille, sich gegen ein autoritäres System aufzulehnen, entwickelt sich nur in einem geringen Prozentsatz der Menschen und wenn verletzte Eitelkeit und Liebesleid Mann und Frau allgemein zu RebellInnen machte, sähe unsere Welt anders aus. Psychologisch gesehen ist das eine ziemlich unwahrscheinliche Konstellation, außer Pausz hätte die Entwicklung dahin noch besser aufzeigen können. Das Stück selbst hätte dafür noch Platz geboten und noch gute 10 Minuten mehr vertragen was für die Inszenierung spricht, die keinerlei Längen aufwies, sondern sich ganz im Gegenteil sehr kurzweilig zeigte. Dass ein Schluss wie dieser zu Zeiten von Marivaux gänzlich unmöglich gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Eine Neuinszenierung muss dieser Vorgabe, wie schon erwähnt, aber tatsächlich nicht folgen und macht gerade bei einer Verpflanzung ins Heute Sinn.

Ein Wermutstropfen der Inszenierung ist die doch sehr spartanische Ausstattung von Jenny Schleif. Zwar wird der Ort der Handlung auch bei Marivaux selbst nur als wild und einsam bezeichnet, ohne eine weitere Konkretisierung zu erfahren. So kommt das Bühnenbild auch nur mit mehreren Matratzen, einer mittig positionierten, mehrteiligen Kugellampe und zwei Stühlen aus. Dabei können sich die AkteurInnen mit den Bettauflagen einen zusätzlichen Bewegungsraum schaffen, indem sie sich häufig darauf fallen lassen. Andererseits jedoch nutzt sich dieses Surrounding optisch rasch ab und hält für die SchauspielerInnen zusätzlich ein nicht unbeträchtliches Gefahrenpotenzial bereit. Matratzen verrutschen leicht und bringen dabei schon einmal die eine oder den anderen in eine missliche Situation, wie man am Premierenabend miterlebte. Die Kostüme bestanden unserem Zeitgeist geschuldet zwar grundsätzlich richtig gedacht aus Jogginghosen, Sweatern, T-Shirts und Jacken. Allerdings fiel es nicht ganz leicht, Eglés und Adins Selbstverliebtheit in diesem Outfit gespiegelt zu sehen. Nur die Herrschaft hob sich davon sichtbar ab, wobei diese Kostüme mit einem gewissen Retro-Touch ausgestattet waren, was auch tatsächlich gut passte.

Fazit: Ein interessanter Abend, der mit hohem Risiko gefahren wird und gerade deswegen viel Diskussionspotential in sich trägt. Sehens- und vor allem diskussionswürdig.

Das Stück ist vom 22.2.(Premiere) bis 22.3., täglich außer So, Mo zu sehen.

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Theater Spielraum
Marivaux bei den European Cultural News

Wo die Zeit stehen bleibt

Wo die Zeit stehen bleibt

Im kommenden Jahr jährt sich der Ausbruch des 1. Weltkrieges zum 100. Mal. Anlass genug, in dieser Theatersaison dieses Datum mit unterschiedlichen Produktionen zu würdigen. Auch das Theater Spielraum in der Kaiserstraße tut dies und zeigt eine Aufführung von Thomas Mann. „Der Zauberberg“ wurde von Gerhard Werdeker in eine Bühnenfassung gegossen, die vor allem eines tut – das im Theater allgemein übliche Tempo reduzieren. Was vielleicht auf den ersten Blick anachronistisch wirkt, ist beim genauen Hinschauen und Hinhören jedoch brandaktuell.

In drei Stunden Spielzeit mit einer Pause konfrontiert er das Publikum mit einem Hauptthema des Romans, der zwischen 1907 und 1914 – angesiedelt ist. Das Phänomen Zeit ist es, das Werdeker durch die einzelnen Figuren hindurch näher beleuchtet. Als Tuberkulosekranke sind die Akteure verdammt, in einer Klinik in Davos ihre Krankheit auszuheilen – was ohnehin fast niemandem gelingt. Vielmehr ist es ein Stehenbleiben in jeder Aktivität, ein Verharren in einem Ist-Zustand, der ungeahnte Ausmaße annehmen kann. Der junge Hans Castorp – sehr beeindruckend in seinem Reifungsprozess von Markus Hamele gespielt – bleibt anstelle von drei geplanten Wochen ganze sieben Jahre in dem Sanatorium und sieht Menschen kommen und sterben. Dem streng geregelten Tagesablauf sehr rasch verfallen, weigert er sich auch dann das Krankenhaus zu verlassen, als er dafür die Genehmigung von Hofrat Behrens erhält. Er ist der Oberarzt und Herrscher zwischen dem Verbleib „da oben“ oder der Entlassung „nach unten“. Tristan Jorde verkörpert den preußischen Gesundheitsverwalter bis hin zur Verneigung beim Applaus mit jeder einzelnen Faser. Zackig-markant schleudert er seine Durchhalteparolen seinen Patienten entgegen, lässt aber in jenen Momenten Gefühle erkennen, in welchen er bei seinem Langzeitpatienten Castorp die Feststellung macht, dass er gesund ist und keine Tuberkuloseinfektion in sich trägt.

Die Kälte der Umgebung spiegelt sich gut im kargen Bühnenbild wieder. Auf wenigen weißen Stufen, die an ein Gebirgsplateau erinnern, sind graue Sonnenliegen aus Metallrohr und Plastiküberzug aneinandergereiht. Auf ihnen sitzen Katharina Köller als Clawdia Chauchat und ihre Kollegen dem Publikum abgewandt und warten auf ihre jeweiligen Auftritte. Sie ist es, die mit ihrer leuchtend roten Robe auch optisch das erotische Element, das Thomas Mann mit ihr determiniert hat, in das Spiel einbringt. Meist abweisend, lässt sie sich erst dann zu einer Affäre mit dem jungen Castorp herab, als dieser aufhört, um ihre Gunst offen zu buhlen. Bei ihr ist die Krankheit ein willkommener Anlass aus ihrer Ehe zu flüchten. Bei Joachim Ziemßen (Christian Kohlhofer), dem Cousin von Castorp hingegen, bedeutet die Tuberkulose ein harte Lebensprüfung. Abseits seines Korps ist er als Soldat zum Nichtstun verdammt, das er letztendlich nicht erträgt.

Krankheit zeigt sich auf dem Zauberberg als Flucht oder als Fluch aber auch als logischer Endpunkt einer langen Familiengeschichte – wie dies bei Lodovico Settembrini (Matthias Messner bleibt bis zum Schluss dem italienischen Idiom bravourös verpflichtet) der Fall ist. Sein blassrotes Jackett spiegelt seine Charakterhitze wieder, die er aber nur rhetorisch ausleben kann, zu sehr ist er von der Krankheit selbst geschwächt. Sein Widersacher Leo Naphta hingegen – muss sich in einen dicken schwarzen Mantel und eine schwarze Mütze hüllen, um nicht zu erfrieren. Von ihm geht kein inneres Leuchten aus, keine Flamme der Begeisterung. Peter Fuchs spielt diese tragische Figur, die sich am Ende selbst das Leben nimmt, völlig nachvollziehbar. Klaus Uhlich als Mynheer Pieter Peeperkorn liegt mit seinem Auftritt weit außerhalb jeder gängigen Spielpraxis. Seine markige Stimme reicht aus, um auch Banales und Nichtausformuliertes bedeutungsschwanger erscheinen zu lassen.

Werdekers Inszenierung lässt sich als klassisch bezeichnen, bedenkt man, dass er ohne brachialen Zeitbezug auskommt. Die Kostüme tun hier ein Übriges, zwar nicht historisch korrekt, versetzten sie die Personen doch eindeutig an den Beginn des vorigen Jahrhunderts. Lange Monologe und unspektakuläre Szenenwechsel verleihen dem Geschehen etwas Fließendes. Etwas, das unaufhaltsam seinen Lauf nimmt und nur dann kurz zum Stehen kommt, wenn der Tod ein weiteres Opfer aus dem Sanatorium zu sich holt. Zeitgemäß ist die Inszenierung aber auch gerade wegen der ihr innewohnenden Langsamkeit. Zeit ist als solche nur dann begreifbar, wenn man sich ihrer bewusst wird. Das funktioniert am besten, wenn die permanente Reizüberflutung der wir Tag für Tag ausgesetzt sind, zum Stillstand kommt. Und tatsächlich geschieht dies an diesem Abend.

Die Schwarz-Weiß-Einspielungen von Schneeflocken, von einem verfremdeten Faschings-Gschnas und letztlich von grausamen Attacken hunderter Soldaten im Ersten Weltkrieg ergeben zusätzliche, sehr stimmige Gefühlsebenen. Im Theater Spielraum ergibt dies eine sehr stimmige Inszenierung mit schauspielerischen Höchstleistungen und Entdeckungen. Dass damit auch dem Nach-Denken viel Raum ermöglicht wird kann als zusätzliches Give-away aufgefasst werden.

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Rezensionen Theater Spielraum

Von Stefan Zweig zur eigenen Unzulänglichkeit

Von Stefan Zweig zur eigenen Unzulänglichkeit

Spielraum“ – das Theater in der Kaiserstraße – macht seinem Namen derzeit alle Ehre. Gezeigt wird „Angst“ nach einer Novelle von Stefan Zweig, in einer beachtenswerten Bearbeitung von Nicole Metzger, welche vom Ensemble vor allem mit viel „Spiellust“ wiedergegeben wird.

Der Inhalt – Ehefrau betrügt Ehemann und durchleidet dann vielerlei Stadien der Angst – ist rasch nacherzählt. Dass diese uralte Beziehungs-Blaupause sich schließlich von ihrer eng begrenzten Erzählstruktur abhebt, ist nicht zuletzt der Regie der Theaterfrau des ehemaligen „Erika-Kinos“ zu verdanken.

Theater Spielraum Stefan Zweig Angst

Das Theater Spielraum in Wien spielt im Moment das Stück Angst von Stefan Zweig (Foto: Barbara Pálffy)

Die Bühne erstreckt sich zwischen den gegenüberliegenden aufgebauten Sesselreihen, hat aber jeweils stirnseitig links und rechts davon auch ihre erhöhten Spielplätze. Einer markiert – wenn auch mit sparsamen Mitteln – das luxuriöse Heim der Hauptperson Irene Wagner. Der andere ist ihrem Geliebten Eduard vorbehalten. Zwischen diesen beiden Orten entwickelt sich ein psychologisches Drama, das Irenes Gefühlsleben beleuchtet. Ihr Seitensprung bereitet ihr rasch ein tiefes Angstgefühl, vor allem weil sie von einer jungen Frau erpresst wird.

Dana Proetsch mimt die Gattin eines Rechtsanwaltes in vielen Facetten. Von zutiefst verliebt über einsam, von Angst gebeutelt bis hin zur Beinahe-Selbstaufgabe gelingt ihr eine plausible Charakterstudie. Christian Kohlhofer als junger Liebhaber und Pianist sprüht im Liebesrausch, explodiert ein wenig später als verschmähter junger Mann und wird von peinlichen Gefühlen geplagt, als seine Ex-Geliebte bei ihm auftaucht und ihn mit einer neuen Frau erwischt. Wie nahe Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nebeneinanderliegen können beweist Peter Pausz in der Rolle des betrogenen Ehemannes Dr. Wagner. Mehr als selbstgerecht versucht er durch eine Finte seine Frau zurückzuwerben, übersieht dabei aber ganz, dass er keine lauteren Mittel dabei einsetzt. Vielmehr benutzt auch er eine Lüge, ja mehr noch, eine Intrige, für die er eine junge Schauspielerin engagierte, die Irene erpresst. Nathalie Mintert absolviert ihre erste Zusammenarbeit mit dem Theater Spielraum mit Bravour und verkörpert nachvollziehbar die junge Unterschichtfrau, die ihrer vermeintlichen Gegenspielerin gehörig zusetzt und ihr Angstattacken einjagt.

Doch, wie schon angedeutet, ist es nicht so sehr die Handlung an sich, die das Stück so attraktiv macht. Vielmehr gibt es darin eine Schlüsselstelle, in welcher es Irene gelingt, ihrem Mann klar zu machen, dass es nicht das Motiv der Verstocktheit ist, welches sie daran hindert, ihren Seitensprung zu gestehen. In einer kunstvoll arrangierten Nebenerzählung straft ihr Ehemann dabei seine kleine Tochter, die ihm ein kleines Vergehen zu verheimlichen versuchte. An diesem Beispiel macht Irene ihm jedoch klar, dass es gerade die große Liebe und Bewunderung ihrer Tochter ist, die sie daran hindert, dem Vater ihr Vergehen einzugestehen. Sie macht ihm klar, dass zur eigenen Verfehlung auch immer das persönliche Verhältnis zu jenem Menschen kommt, dem die Verfehlung gestanden werden soll. In dieser und der darauf folgenden Szene wird die Komplexität von Schuldgefühlen aufgezeigt und deutlich, dass ein einfaches Schwarz-Weiß-Denken die Motivation der Menschen nicht erklärt, die Verfehlungen begangen haben. Ganz abgesehen davon, dass es zu hinterfragen gilt, wer überhaupt das moralische Recht hat einen Akt als „Verfehlung“ zu titulieren. Oder – wie im Epilog noch aufgezeigt wird – die sogenannte „Verfehlung“ einer ständigen gesellschaftlichen Hinterfragung ausgesetzt sein sollte.

Was auf den ersten Blick nur die Geschichte einer Eheverfehlung ist, entwickelt sich beim Nach-Denken zu einem Thema, welches für alle Menschen eine universelle Bedeutung hat. Schuld oder Unschuld, Angst oder die Überwindung derselben durch die eigene persönliche Entscheidung, die Konsequenzen eines Outings auf sich zu nehmen, um wieder angstfrei die Zukunft bewältigen zu können – all diese Gefühle und ihre daraus resultierenden Handlungen sind es Wert, nicht nur nach einem Theaterabend hinterfragt zu werden.

Das Kapital spricht nicht

Das Kapital spricht nicht

Zwei junge Männer und eine junge Frau sitzen am Tisch und beenden vergnüglich ihr Essen. Währenddessen nimmt das Publikum auf seinen Sitzen Platz und fühlt sich, als sei es Teil dieser Abendeinladung. Noch einmal wird es im Verlaufe der Vorstellung Teil des Geschehens sein – sich dann allerdings in einer wesentlich ungemütlicheren Position befinden.

Ein Volksfeind von Henrik Ibsen auf der Bühne des Theaters Spielraum in Wien (c)-Barbara Pálffy

„Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen auf der Bühne des Theaters Spielraum in Wien (c)-Barbara Pálffy

Aus dem wie immer höchst informativen Programmheft des Theater Spielraum entnimmt man, dass das derzeit gespielte Stück „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen allein in Deutschland in diesem Jahr auf 10 Bühnen aufgeführt wurde. Es ist somit kein Stück, das in den Schubladen der Intendanten verschimmelt, sondern soeben eine Renaissance erlebt. Der Grund liegt auf der Hand. Ibsens Stück ist in seiner Thematik derart aktuell, dass es eins zu eins übernommen werden könnte und passgenau unsere heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt. Und das, obwohl es in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts seine Uraufführung erlebte. Für die Produktion im Theater in der Kaiserstraße hat sich Gerhard Werdeker jedoch eines kleinen Kunstgriffes bedient. Er legte den Charakteren eine zeitgeistige Sprachregelung in den Mund bei der „Nachhaltigkeit“, „Konsensorientierung“ oder „mündige Bürger“ als stehende Begriffe verwendet werden. Und er verjüngt die ProtagonistInnen um eine Generation und stellt damit eine junge Familie ins Spannungsfeld zwischen Eigen- und Gemeinwohl. Ibsen beschreibt in seinem Stück, wie ein kritischer Arzt, der den Kurbetrieb einer florierenden Badeanstalt leitet, durch die Aufdeckung des Umstandes, dass das Wasser gesundheitsgefährdend ist, vom handsamen Bürger zum verhassten Volksfeind mutiert.

Der junge Dr. Thomas Stockmann – plausibel und mit Herzblut von Christian Kohlhofer gespielt – begeht mit seiner Frau Katharina, seinen vermeintlichen Freunden – Hovstad, dem Redakteur der Stadtzeitung und Billing, einem Mitarbeiter derselben – einen gewaltigen Fehler. Nachdem der junge Arzt die verheerenden Probenanalysen des Wassers schwarz auf weiß in Händen hat, ist er der Meinung, mit der Veröffentlichung derselben seiner Gemeinde einen großen Gefallen zu tun. Seine Frau und die Freunde feiern den heldenhaften Arzt bereits als Retter der Stadt und malen sich schon aus, wie man ihm dafür danken würde. Keiner von ihnen hat jedoch auch nur einen Funken politische Erfahrung oder ein klein wenig macchiavellisches Denkvermögen. Und gerade dieser Umstand bringt Dr. Stockmann und seine Frau an den Rand ihrer gesicherten Existenz.

Sein Gegenspieler Peter – zugleich auch sein Bruder – agiert als Stadtrat und erkennt sofort die Brisanz dieses Papieres. Ihm wird in Sekundenschnelle klar, dass sein Posten wackelt, wenn die Stadt finanziell für die Schadensbehebung aufkommen muss, und setzt alles daran, dass diese Tatsachen nicht bekannt werden. Daniel Ruben Rüb als glatzköpfiger, aber sehr smarter Politiker, der gewohnt ist, Hände des Stimmvolkes zu schütteln und dabei ein freundliches Gesicht zu machen, scheut sich nicht, eine Volksversammlung agitatorisch mit Mitstreitern zu besetzen, um seinen Bruder mundtot zu machen. Und diese Szene ist es, die richtig unter die Haut geht. Denn Thomas erkennt zwar rasch, dass er auch mithilfe von Aslaksen, dem Herausgeber der Stadtzeitung, der nie müde wird, sich als konsensorientiertes Mitglied des Hausbesitzerverbandes darzustellen und seine Fahne in den jeweiligen Wind zu hängen weiß, mundtot gemacht werden soll. Es fehlt ihm jedoch die geschliffene Klinge einer Diplomatensprache, mit der er allenfalls das Ruder für sein Anliegen noch herumreißen hätte können. Ganz im Gegenteil wird er so emotional, dass seine furiose Ansprache zu einer Volks- respektive Publikumsbeschimpfung ausartet, bei der das Wort „Stimmvieh“ noch als eines der harmloseren fällt. Und tatsächlich hat in diesem Moment das Publikum seiner Rage nichts entgegenzusetzen. Niemand, der sich auf seine Seite schlägt und ihn verteidigt, niemand der auch nur im Geringsten seiner Empörung ob der Beschimpfung Ausdruck verleiht. Die schweigende Mehrheit, die Ibsen in diesem Stück so anprangerte, bleibt schweigsam und wird von dem jungen Dr. Stockmann folgerichtig als Übel einer nicht gut funktionierenden demokratischen Gesellschaft erkannt. Doch sind es nicht nur die wahrhaft Unmündigen, die eine Gesellschaft zum Wanken bringen. Die teuflische Kombination besteht aus ihnen, der an ihren Sessel klebenden PolitikerInnen und aus der Kumulierung des Kapitals. Ein Umstand, der mittlerweile – landauf und -ab als Marx´sche Prophetie ihre Erfüllung findet und die Menschen ratlos und schweigend zurücklässt.

Und auch hier traf Ibsen mit seinem Werk ins Schwarze des aktuellen Weltgeschehens. Morten Kiil, sowohl Fabriksbesitzer als auch Schwiegervater von Thomas Stockmann ist es, der sich eines mephistophelischen Schachzuges bedient um – und das ist wohl die Ironie der Geschichte – der jungen Familie doch noch eine finanzielle Lebensgrundlage zu bieten. Er verwendet seine finanziellen Rücklagen, die er für seine Tochter und deren Kinder verwenden wollte, und kauft die ins Bodenlose gefallenen Aktien der Kur- und Badeanstalt auf. Zwar ist es ihm bewusst, dass er damit seine Tochter und seinen Schwiegersohn in einen immensen Gewissenskonflikt bringt, aber er weiß um die Macht des Faktischen. Alexander E. Fennon, derzeit gefragter Filmschauspieler, hat nur wenige Sätze. Gekleidet in edlen Nadelstreif, ausgestattet mit exaktem Haarschnitt, reicht sein Auftreten, um die Bedrohung körperlich spürbar zu machen, die von seiner finanziellen Machtfülle ausgeht. Da kann die Politik Winkelzüge einfädeln wie sie will, die Presse vertuschen oder aufbauschen wie sie möchte – gegen sein Kapital werden alle handlungsunfähig. Anders als im Original bleibt der Ausgang des Geschehens bei der Wiener Fassung offen. Ein Ende, das unserer gesellschaftlichen Verfasstheit entspricht, über die niemand von uns derzeit Prognosen der weiteren Entwicklung abgeben kann.

Samantha Steppan, als junge Ehefrau, die zwischen der Loyalität zu ihrem Mann und der Zukunftsangst für ihr Kind steht, Peter Pausz und Stefan Kurt Reiter als journalistische Wendehälse sowie Klaus Schaurhofer in der Rolle des „konsensorientierten“ Herausgebers, dessen einziges herausragendes, positives Persönlichkeitsmerkmal in seinen knallroten Socken zu finden ist, formen jenes gesellschaftliche Umfeld, an dem exemplarisch die Mechanismen einer gesellschaftlichen Deformation weg von der Wahrheit hin zum vermeintlich Machbaren klar werden.

Die Art von Inszenierung hat sicherlich im Sinne der Mann- und Frauschaft um Gerhard Werdeker und Nicole Metzger, die für die Dramaturgie verantwortlich zeichnet dann ihr Ziel erreicht, wenn auch nur eine Einzige oder ein Einziger im Publikum in Zukunft aus der schweigenden Mehrheit heraustritt. Dabei wünsche ich dem Theater Spielraum, dass seine Arbeit nicht im übertragenen Hein´schen Sinne ein Eiapopeia des Theaterhimmels bleibt.

Ein dunkler Theaterabend – mit vielen Farbtupfen

Ein dunkler Theaterabend – mit vielen Farbtupfen

Im Theater Spielraum in der Kaiserstraße in Wien ist derzeit der Klassiker „Schuld und Sühne“ von Fjodor M. Dostojewskij zu sehen.

Schuld und Sühne von Dostojewskij im Theater Spiel Raum in Wien (Foto Barbara Pálffy)

Schuld und Sühne von Dostojewskij im Theater Spiel Raum in Wien (Foto Barbara Pálffy)

Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich ein so kleines Theater furchtlos über ein so groß zu besetzendes Werk macht. Dies gelingt jedoch in der Inszenierung von Gerhard Werdeker durch viele Mehrfachbesetzungen tadellos. Dabei benötigt er weder Bühnenumbauten, Auf- und Abgänge, noch aufwendige Kostümwechsel. Einzig eine wechselnde Beleuchtung sowie – und das macht die Aufführung optisch so einzigartig – viele unterschiedliche, bunte Mützen – kennzeichnen die jeweiligen Szenen bzw. Charaktere. In buntem Imitationspelz gehalten, signalisieren diese kleinen Accessoires, dass das Geschehen in Russland angesiedelt ist. Auf das Können der Kostümbildnerin Anna-Miriam Jussel ist zurückzuführen, dass die Kopfbedeckungen die einzelnen Personen voneinander auf den ersten Blick unterscheiden. Sie geben ihnen aber nicht nur einen raschen Wiedererkennungswert, sondern beschreiben auch, wie bei der Mutter und Schwester der Hauptperson, sogar deren Charakter. Der ehemalige Student Rodon Romanowitsch Raskolnikow ist der Einzige, der sich unbemützt durch das Stück spielen darf – eine schöne Metapher, die nicht nur für seine Außenseiterrolle in der Gesellschaft steht.

An unsichtbaren Leinen aufgehängt, warten die Mützen darauf, in rascher Abfolge immer und immer wieder gewechselt zu werden und dienen dabei auch als ein den Raum begrenzendes Element. Die Geschwindigkeit, in der die Szenen wechseln und ineinander übergehen, ist das zweite Charakteristikum des Abends, so als wollte Werdeker dem Publikum seinen Dostojewskij in Rekordzeit über die Ziellinie bringen. Ein wohltuender Ansatz, gilt es doch immerhin noch dreieinhalb Stunden – inklusive einer kurzen Pause – das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen. Peter Pausz in der schwierigen Rolle des mordenden Intellektuellen zeigt sein eigenes Gefangensein auch in der ständigen Benützung einer Bühnenrequisite. Ein stabiler, auf einer Seite offener Holzquader markiert nicht nur sein beengtes Zimmer, sondern versinnbildlicht auch die Grenzen seines Denkens, die er trotz aller Anstrengung nicht durchbrechen kann.

Die wohl größte Entdeckung dieses Theaterabends ist die Tatsache, dass der Text, erstmals vor knapp 150 Jahren veröffentlicht, nur so von zeitgenössischen Bezügen strotzt. Oder, besser gesagt, unser Zeitgeist diese Bezüge imstande ist, aktuell zu verknüpfen. Vor allem jene Stellen, in denen Dostojewski sich auf den Nationalökonomen Adam Smith beruft, sind von aktueller Brisanz. Die Unterordnung des Menschen unter die Regeln des Kapitalmarktes war – und das wird hier ganz deutlich – schon zu Beginn seines Entstehens ein ungelöstes Problem. Der Wert des Individuums im Gegensatz zur Gesellschaft darf hingegen als noch älteres Thema erkannt werden, welches bei unserer zunehmenden Weltpopulation noch ständig an Brisanz gewinnt.

Claudia Marold, Yvonne Laussermayer und Dana Proetsch bestreiten die weiblichen Rollen – alle in schauspielerischer Brillanz. Ihnen zur Seite stehen Christian Kohlhofer und Reinhardt Winter, ausgestattet mit Energie und einer überschäumenden Bühnenpräsenz, sowie der Doyen des Abends, Klaus Uhlich, der in jeder seiner Rollen zuallererst Menschsein transportiert.

Ein Theaterabend ganz im Sinne der Spielstätte – zum Nachdenken.
Tipp: Das Programmheft bietet vielerlei interessante, zeithistorische Informationen zum Nachlesen.

Weitere Termine: Mittwoch, 25. April bis Samstag, 2. Juni, jeweils Dienstag bis Samstag, 19 h (!)
Achtung: Samstag 28. April und Samstag 12. Mai KEINE Vorstellung, Dienstag 8. Mai & Freitag 1. Juni GESCHLOSSENE Vorstellung!

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