Musik und Tanz ohne Zeit und Raum

Musik und Tanz ohne Zeit und Raum

Michaela Preiner

Foto: ( )

17.

Mai 2022

TUMULUS – die neue Arbeit von François Chaignaud und dem Dirigenten Geoffroy Jourdain vereinigt Tanz mit historischer und zeitgenössischer Musik. Sie erzählt von der Vergänglichkeit des Lebens genauso wie von der Lust zu feiern und das Leben zu genießen.

Es ist ein Flirren und Schwirren, ein Brummen, ein Singen und Schwingen. Es ist ein Feiern und ein Trauern, ein Innehalten und ein Laufen. Es ist gestern und heute, Traum und Realität. Es ist weiblich und männlich und alles dazwischen, Sommer und Winter, drinnen und draußen.

Das alles ist TUMULUS – eine künstlerische Kollaboration zwischen dem Choreografen, Tänzer und Autor François Chaignaud und dem Dirigenten Geoffroy Jourdain. Die Wiener Festwochen 2022 starteten mit dem genreübergreifenden Projekt im Museumsquartier, das eine besondere Herausforderung für das Ensemble bereithält, sind doch die Tanzenden zugleich auch Sängerinnen und Sänger. Zwar sind es Letztere gewohnt, bei Bühnenproduktionen auch ihren Körper manches Mal unter extremen Bedingungen einzusetzen, wenn sie zum Beispiel in luftiger Höhe oder in außergewöhnlichen Körperpositionen singen müssen. In der französischen Produktion jedoch stehen Gesang und Tanz gleichwertig nebeneinander und fordern auch gleichwertig.

Die Bühne wird von einem Tumulus, einem Hügelgrab beherrscht, das mittig zwei kleine Eingänge aufweist. (Bühne Matthieu Lorry Dupuy) Diese Hügelarchitektur wird hin und wieder mit Schwung und im Lauf, aber auch bedächtig im zeremoniellen Gleichschritt erobert. Von ihr rutschen die Menschen lustvoll herab, wie das Kinder tun, die im Freien von Hängen kugeln. Vom Hügel rollen die Körper aber auch ab, als ob sie leblos wären, um dann regungslos am Bühnenboden zu landen.

Die Szenen unterscheiden sich nicht nur durch unterschiedliche Choreografien und verschiedene Musikstücke. Bis auf Claude Viviers „Musik für das Ende“ aus dem Jahr 1971 verwendet Geoffroy Jourdain Renaissancemusik von Jean Richafort und William Byrd, sowie ein Dies Irae von Antonio Lotti und Musik von Josquin Desprez, beide von Jourdain für das Tanzstück clever adaptiert. Die ausgewählte Sakralmusik erzeugt an sich schon einen meditativen Grundton, der jedoch bei Claude Vivier einen sinnlichen Höhepunkt erreicht. Bei seinem Stück sitzt das Ensemble dem Publikum zugewandt in einer Reihe entlang des vorderen Bühnenrandes. Nach und nach entwickelt sich ein Chor aus zarten Stimmen mit repetitivem Text. Die verwendete Mikrotonalität und die sich wiederholenden Textpassagen rufen einen schwebenden Erlebniszustand hervor. Es stellt sich das Gefühl eines Zeitverlustes ein, ein Schwingen zwischen einem Gestern, Heute und unbekannten Morgen. Die rhythmische Begleitung erfolgt durch Stampfen und Klatschen, durch Fingerschnippen oder Zungenschnalzen, aber auch durch stark hörbare Atemgeräusche. Auf diese Weise entsteht nie das Bedürfnis nach orchestraler Begleitung. Das, was auf der Bühne vom Ensemble live produziert wird, enthält alles, was es für ein befriedigendes Musikerlebnis benötigt.

Das Empfinden, dass das Geschehen in keine spezielle Zeit einzuordnen ist, ja vielmehr eine zeitlose Gültigkeit hat, wird auch durch die Kostüme unterstützt. Romain Brau verwendet aktuell Modisches wie abgesteppte Mäntel und Umhänge genauso wie einfach drapierte, archaisch wirkende Oberteile oder Beinschnürungen. Eine Prozession, die über den Hügel defiliert, zeichnet sich durch originelle Kopfbedeckungen aus und changiert mit den dabei gezeigten Posen zwischen asiatischen Tempeltänzerinnen, ägyptischen Darstellungen von Beerdigungsriten, wie man sie aus den Pyramiden kennt und einem zeitgenössischen Tanz-Bewegungsrepertoire. Der letzte Auftritt, bei dem die Oberkörper bar präsentiert werden, lässt die Verletzlichkeit der Menschen spürbar werden. Das Ausgeliefertsein an seine Umgebung, aber auch sein Schicksal, das immer letal endet, ruft Gefühle von Schutzbedürftigkeit und Empathie hervor.

Das Konzept von Tumulus schafft ein beständiges zwischen den Zeiten Balancieren, das sich musikalisch, tänzerisch und auch in der Ausstattung durchzieht. Es verleiht der Produktion ihren eigenen Charme und Charakter. Ganz abgesehen von den schönen Stimmen, die in einem fein aufeinander abgestimmten Voicing eingesetzt werden und für sich schon ein konzertantes Erlebnis darstellen.

Beim Applaus durfte das Wiener Publikum alle Mitwirkenden beklatschen und bekam durch das Auftreten von François Chaignaud auch einen kleinen Eindruck, wie sehr seine Persönlichkeit in Tumulus mitschwingt. Sein beeindruckendes, imaginäres Hutschwingen während seiner Verbeugung – eine ehemals höfische Ehrerbietungsgeste – wirkte wie der letzte Puzzlestein, der krönt, was zuvor an intensiver Gemeinschaftsarbeit geleistet wurde.

Auf der Bühne tanzten und sangen: Simon Bailly, Mario Barrantes, Florence Gengoul, Myriam Jarmache, Evann Loget-Raymond, Marie Picaut, Alan Picol, Antoine Roux-Briffaud, Vivien Simon, Maryfé Singy, Ryan Veillet, Aure Wachter, Daniel Wendler

 

Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch Englisch Italienisch

Pin It on Pinterest