Im Frühjahr wird der Thalhof in Reichenau an der Rax – nach einer umfassenden Renovierung – dem Publikum vorgestellt. Das Label „wort.spiele“, das die kommenden künstlerischen Aktivitäten umreißt, macht deutlich, dass Literatur im Zentrum des Geschehens stehen wir. Das Duo Anna Maria Krassnigg und Christian Mair wollen den Ort mit seiner bedeutsamen, literarisch-historischen Vergangenheit neu beleben. Anna Maria Krassnigg erläutert im Gespräch wie es dazu kam und welche Pläne für das ehemalige Nobelhotel vorliegen.
Thalhof Reichenau Werbung.
Wir befinden uns an einem besonderen Ort, dem Thalhof in Reichenau, der sich gerade in der Umbauphase befindet. Können Sie kurz erklären, was es mit diesem Haus oder präziser formuliert dem Häuserensemble auf sich hat?
Hotelrechnung vom Thalhof in Reichenau
Der Thalhof hat eine besondere Geschichte, die vielfältig und bunt ist. Das Haus steht seit etwa 1670/80 und war ursprünglich ein bäuerliches Gebäude. Aufgrund der Findigkeit, Intelligenz und Strebsamkeit der Besitzer und aufgrund seiner absurd schönen Lage hat er es geschafft, sich als einer der ersten touristischen Hotspots des Landes zu mausern. Ein junges Paar (Anm: Josef und Ursula Rath) hat das Gebäude, das zu einem erklecklichen Teil halb verfallen und halb ausgehöhlt war, gekauft und von unten nach oben – sozusagen von der Wurzel des Gebäudes aus – reanimiert und renoviert. Von den beiden kam dann der wunderschöne Satz: „Was gäbe es Traurigeres, als hier nur zu wohnen“. Liebenswürdigerweise kam ich dann ins Spiel. Sie haben mich schlicht und ergreifend gefragt, ob mich dieser „spinöse“ Ort interessieren würde. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, aber es ging nicht, sich gegen diesen Ort zu wehren.
Grillparzer, Nestroy, Schnitzler sind Namen, die ursächlich mit diesem Ort verbunden sind. Was wird man in Zukunft hier präsentiert bekommen?
Die Antwort hören Sie hier:
Und die Referenzen ins Hier und Jetzt?
Wir werden mit Autoren wie Menasse, Schindel, mit jungen Autorinnen und Autoren wie Nino Haratischwili, Mario Wurmitzer zusammenarbeiten – um die Allerjüngsten zu nennen. Wir werden selbstverständlich mit der Schule der Dichtkunst, mit dem Reinhardt Seminar, mit der Filmakademie arbeiten. Das wird soweit gehen, dass es hier nach der Vollrenovierung dieses schönen, opulenten Gesamtensembles „residences“ für Autorinnen und Autoren geben wird. Das heißt, es soll hier nicht nur dramatische Literatur erlebt werden, sondern auch wieder neu entstehen.
Explizit noch einmal nachgefragt. Was ist für Sie das Aktuelle am Theater. Oder warum plädieren Sie dafür, warum sollten sich die Menschen aktuelle Produktionen ansehen – ich verwende den Begriff des Off-Theaters, wie immer man den auslegen möchte. Was ist es, was an diesen Spielorten, die mit kleinerem Etat ausgestattet sind, derzeit tatsächlich brennt?
Die Antwort können Sie hier hören:
Sie werden an diesem Ort mit ihrem bewährten Ensemble zusammenarbeiten, mit dem Sie schon seit vielen Jahren zusammenarbeiten. Wie schaut es jetzt aber konkret wirklich finanziell aus? Inwieweit können Sie überhaupt über das erste Jahr hinaus vorausplanen und was können wir im ersten Jahr jetzt erwarten?
Das Programm, das wir hier zeigen wollen, wird ja nicht oder nicht vorwiegend ein Sommerspielprogramm sein, sondern wir wollen den Genius loci in dieser Form nützen, dass wir den Ort dem Publikum zu allen Jahreszeiten zugänglich machen, zu bestimmten, kuratierten Festivalzeiten. Wir sind gerade dabei zu sehen, ob der Bund, Österreich, das Bundesministerium für Kunst hier auch andockt. Wir sind in Gesprächen mit verschiedenen – ich kann es nicht anders sagen – Mäzenen, also Menschen, die wiederum den Geist dieses Ortes und die Möglichkeit einer solchen Zusammenkunft, wie sie hier gewährleistet werden kann, schätzen und fördern wollen. Und die Aufgabe dieses ersten Jahres wird permanent – und das ist wiederum die Schwierigkeit an solchen Projekten neben der künstlerischen sein, dafür, ich möchte nicht sagen zu kämpfen, zu werben, zu verführen und zu bitten, dass ein solcher Ort möglich ist und hochkarätig möglich ist. Und das sag ich auch ganz offen, da stehen wir am Anfang. Wir stehen an einem Anfang, der sich sehen lassen kann, dank der Unterstützung des Landes, sonst würden wir das auch nicht tun, das wäre unprofessionell, aber um über den Anfang hinauszuwachsen, wird es viele Komplizen brauchen.
Wann soll es jetzt eigentlich konkret losgehen? Gibt´s schon einen fixen Fahrplan?
Ja, es gibt einen Spielplan für die erste Spielzeit, der Ende Jänner, Anfang Februar rauskommen wird. Es wird, so wie es jetzt aussieht, Ende April eine große Eröffnung geben. Eröffnung heißt, das Türen und Tore geöffnet werden sich anzusehen, was hier einfach mit dem Gebäude bereits passiert ist und auf eine sehr sinnliche Weise vorzustellen, was das Gebäude füllen soll. Und danach wird es eine Sommerspielzeit geben. Das Motto der ersten Spielzeit ist „Die Residenz des Flüchtigen“. Das hat sehr, sehr viel damit zu tun, dass man ins Bewusstsein rückt, was dieser Ort überhaupt war und ist. Und dazu gibt es zeitgenössische und auch Thalhofliteratur, die wir beschnuppern werden.
Eine Abschlussfrage. Was wäre eigentlich Ihr Wunschpublikum? Ich weiß, angesiedelt zwischen Wien und Triest!
Zwischen Wien und Triest gefällt mir schon sehr gut, muss ich sagen, wissend um die Utopie, die das bedeutet und es auch immer bedeutet hat, hier. Sonst kann ich nicht umhin, mit dem Spruch zu antworten, dem man mir zum Teil schnippisch, zum Teil belächelnd angekreidet hat, als ich den Salon5 eröffnet habe – da habe ich auch diese Frage bekommen und ich habe gesagt. Von der Palmersverkäuferin zum Architekten. Also das Kenner- oder Kennerinnenpublikum an sich ist nicht das, was wir vorwiegend herziehen wollen oder müssen. Selbstverständlich freuen wir uns über jeden, der literaturbegeistert ist, der theaterbegeistert ist. Aber uns ist jeder Mensch willkommen, der Lust hat, sich über das, was der Alltag uns möglich macht, hinaus Erlebnisse zu haben, geistige Erträge zu sammeln, Lust zu haben, in Diskussionen zu geraten und sich einfach „anzusaufen“ mit spannender Dramatik.
Michael Griesmayr ist ein Stadtentwickler. In Österreich einer von der raren Sorte. Er sitzt nicht hinter einem Schreibtisch in einem Amt, sondern residiert in seinen eigenen vier Wänden. Im alten Backsteinhaus in seinem Viertel Zwei. Einem in den letzten Jahren neu entstandenen Viertel zwischen Trabrennbahn und Wirtschaftsuni im zweiten Bezirk. In Kürze kommt es zum Startschuss für die nächste Ausbauphase rund um die Trabrennbahn. Seine Leidenschaft sind Bäume und Kunst. In einem Interview erzählte er, warum er sich dafür interessiert.
Seit wann sammeln Sie?
Ich begann vor ca. 15 Jahren damit. Bis dahin lebte ich in einer Posterwelt. Ein Freund von mir begann zuerst zu sammeln. Das habe ich zwei, drei Jahre beobachtet. Begonnen habe ich mit Pop Art und hab mir aus dieser Kunstrichtung die Marilyn von Andy Warhol gekauft. Damals war mein erstes großes Büroprojekt verkauft und der Kunstankauf so etwas wie ein Geschenk an mich selbst.
Ich habe ein Haus, ein Auto, ich brauche nicht mehr. So begann ich zu sammeln. Haring, Warhol, Rauschenberg waren meine ersten Ankäufe. Das erweiterte sich immer mehr. Nach weiteren zwei, drei Jahren habe ich mich intensiver mit der Kunst beschäftigt. Ich maße mir aber nicht an, mich in der Kunst wirklich auszukennen. Dafür habe ich Susanna Hoffmann-Ostenhof und Gabi Senn an meiner Seite. Ich suche meist nicht selbst, sondern werde stark von Frau Hoffmann-Ostenhof beraten, die mir Vorschläge macht und mit Ideen kommt. Wenn mir etwas gefällt, dann kaufe ich das dann auch. Mein allerletzter Ankauf war ein Werk von Cosima von Bonin, das gerade im Mumok zu sehen ist. Eine Laterne mit einer Zigarette – das Werk nennt sich „smoker“. Das kommt vor das Bürohaus als „Begleitung“ all jener Mitarbeiter, die zum Rauchen ins Freie gehen. Bei den Skulpturen habe ich eine Vorliebe für Henry Moore. Aber das ist unerschwinglich.
Wie kam es überhaupt zur Idee des Skulpturenparks im Viertel Zwei?
Hier gibt es genügend Platz und obendrein kann ich die Kunst auch jeden Tag sehen. Von diesem Projekt profitieren alle davon. Das Viertel Zwei wird so mit seiner Architektur und den Skulpturen zu einer Art Gesamtkunstwerk. Obwohl die Kunst leise ist und im Hintergrund bleibt, ist sie doch ein identitätsstiftendes Element.
Wie waren die Reaktionen nach der Aufstellung?
Es gab keinerlei negative Reaktionen, es wurde auch bisher noch nichts beschädigt. Begonnen habe ich ja mit der Initiative der Säulen der Wiener Linien. Wir befinden uns hier ja genau zwischen zwei U-Bahnstationen und ich mochte die nackten Säulen nie. In Zusammenarbeit mit der KÖR (Kunst im öffentlichen Raum) und den Wiener Linien entstand hier das einzige Private-Public-Kunstprojekt. Dabei bestand eine gewisse Angst, dass die Graffiti, die darauf angebracht wurden, zum Überschmieren anreizen. Aber bis jetzt ist nichts dergleichen geschehen. Wir haben auf dem Gelände aber auch Securityleute, die in unregelmäßigen Abständen hier durchgehen.
Wie haben Sie die Auswahl der Objekte getroffen?
Barbara Mungenasts Form besaß ich schon in einem kleinen Format. Ich habe sie gebeten, die einmal in groß anzufertigen. Marko Lulic kannte ich von Frau Senn, zu Hans Weigand habe ich eine persönliche Beziehung, seine Arbeit habe ich sehr rasch gekauft. Tom Burr war eigentlich ein Leihobjekt, das ich aber nicht zurückgeben wollte und der Hase von Stephanie Taylor ist für hier mit Hilfe von Gabi Senn und ihrer Künstlerinnenauswahl konzipiert worden. Meine Liebe zur Kunst kann ich mit der Positionierung im Außenraum mit anderen teilen.
Sind die Mitarbeiter hier im Haus eingebunden?
Anfangs sahen sie es als Hobby „vom Michael“. In der Zwischenzeit wird der Sammelleidenschaft eine gewisse Wertschätzung entgegengebracht. Ich frage aber auch, ob die Mitarbeiter mit einzelnen Stücken „können“. Zusätzlich gibt es auch noch die Bestätigung „von außen“ – also von Kunden, die zu uns kommen. Vom Vorarlberger Designer Sagmeister, der in New York lebt, gibt es den Ausspruch „beauty is function“. Das leben wir hier im Viertel Zwei. Wir umgeben uns hier mit schönen Dingen, mit Bäumen, geschwungenen Bänken. Kunst ist für mich auch ein Zeichen von Schönheit. Damit lebe ich gerne.
Woher bekommen Sie Ihren Input zum Kunstkaufen?
Ich fahre in der Zwischenzeit gerne auf Kunstmessen. Da bekommt man einen schönen Überblick, was sich so abspielt. Dabei nehme ich mir vor Ort jemanden, der mir erklärt, wohin sich der Kunstmarkt entwickelt. Beim Kauf ab einer gewissen Größenordnung lasse ich mich immer beraten. Da schauen wir dann, ob der Künstler gehandelt wird oder nicht, ob er sich in Versteigerungen befunden hat. Ich gehe aber auch gerne in große Ausstellungen. Wenn ich in Paris bin, dann gehe ins Musée d´Orsay. Die Impressionisten, die dort zu sehen sind, haben für mich eine enorme Ausstrahlungskraft. Da bekomme ich eine richtige Gänsehaut, wenn ich sie sehe.
Warum sammeln Sie Kunst und nicht etwas anders?
Kunst kann ich anschauen, wenn ich sie gekauft habe und außerdem ist damit relativ wenig Aufwand verbunden, was die Wartung betrifft. Es ist schön und interessant zugleich. Einige der Künstler kenne ich persönlich, ich mag zum Beispiel Weigand und Scheibl sehr und habe deswegen Werke von ihnen. Bonin habe ich gekauft, ohne lange mit ihr vorher gesprochen zu haben. Bei mir zuhause gibt es nur Kunst, die auch meiner Frau gefällt. Ich habe z.B. einen Förg, den sie auch sehr liebt. Was mir noch fehlt, was ich gerne hätte, ist eine Lassnig.
Viele Sammler kommen an einen Punkt, der für sie rein räumlich oft das Ende des Sammelns bedeutet.
Ich werde nie einen Engpass beim Sammeln von Skulpturen haben. Es gibt genügend Platz hier und auf den Hügeln, das Projekt entwickelt sich hier mit der Kunst weiter. Für mich ist Kunstkaufen auch so etwas, wie mich selbst beschenken. Das ist meine derzeitige Hauptmotivation. Ich bin ein logisch denkender Typ, der davon ausgeht, dass es immer einen Weg für eine Problemlösung gibt und ich beschäftige mich nicht mit jenen, die nicht funktionieren. Wenn mir ein Projekt gelungen ist und ich einen Vertrag abgeschlossen habe, dann kann ich mich dafür mit einem Kunstkauf selbst belohnen. Der Außenraum im Viertel Zwei macht mir großen Spaß. Ich fliege demnächst wieder nach Hamburg, um dort Bäume dafür auszusuchen. Das ist ein unglaublicher Luxus. ich kann mir dabei einen Tag lang nur Bäume ansehen. Für mich bedeutet diese Bepflanzung, die von Anfang an auf schon hohe Bäume angelegt war, auch eine hohe emotionale Bindung. Bei diesen Käufen suche ich alles selbst aus.
Bei unserem neuen Projekt kommt das erste Mal mit Farbe Kunst direkt ans Gebäude. Derzeit sind wir noch in der Findungsphase was die Farben anlangt. Aber wir wollen dieses Mal mit Kunst etwas Außergewöhnliches machen. Es ist ein Zusammenspiel von Design, Architektur und einer hohen Energieeffizienz. Die Kunst gehört für mich dazu, ist eine Facette, die das alles abrundet.
Verändert sich im Laufe der Zeit ihre Beziehung zu gewissen Werken?
Es gibt für mich gewisse Bilder, die haben eine „ewige“ Ausstrahlung wie z.B. die Monroe. Andere wieder sind schön, aber nicht aufregend wie zum Beispiel einige Werke der Pop Art. Ich besitze zum Beispiel einen Haring, der schön ist, aber mich nicht mehr wirklich interessiert. Zu „wilde“ Dinge besitze ich auch nicht. Die Arbeit von Bonin ist für mich zum Beispiel schon ein „verrücktes Ding“. Im neuen Projekt werden wir einen Hotspot für junge Künstler einrichten. Startups für kreative junge Menschen fördern. Wir sind aber noch am Überlegen, wie wir das angehen. Da brauchen wir jemanden, der sich ausschließlich darum kümmert und der sich auskennt. Ich will auch gute Leute da drin haben. Die Idee ist, dass wir Räume ohne Miete zur Verfügung stellen, damit die Jungen eine Chance bekommen, etwas zu entwickeln. Das macht mir selbst großen Spaß.
Das, womit ich mein Geld verdiene, hat eine ganz klare Struktur. Aber wir können hier schöne Dinge machen und darauf bin ich auch stolz. Das Viertel Zwei ist ein architektonisches Juwel, eine neue Art der Stadtentwicklung geworden. Und dabei sind alle wichtig, die daran teilhaben. Es war geplant, dass Unternehmen „Patenschaften“ für Kunstwerke übernehmen. Kunst muss dafür im Budget vorhanden sein. Das ist bei vielen Unternehmen aber nicht der Fall. Hier muss man einfach Geduld haben.
Möchten Sie mit Ihren Aktivitäten ihrer Nachwelt etwas hinterlassen?
Es ist noch nicht meine Motivation, etwas zu hinterlassen. Daran denke ich noch gar nicht. Aber ich möchte gerne etwas schaffen, das man angreifen kann. Das ist etwas Schönes.
18.30 Uhr das Handy klingelt. „Es wird bei mir ein bißl später. Geht es um acht? Ich muss noch was ernten.“ Mit „es“ ist das vereinbarte Interview gemeint, das Johann Reisinger mir geben möchte. Und acht markiert nicht einen Frühstückstermin, sondern den Zeitpunkt kurz vor dem Hauptfilm in den meisten Fernsehsendern. „Klar geht es auch um acht“ ist meine Antwort. Ich bin ja schon froh, dass Johann Reisinger mir sehr kurzfristig eine Zusage für unser Treffen gemacht hat. Reisinger, seines Zeichens der erste Haubenkoch, der in Österreich mit dieser Auszeichnung von Michelin geehrt wurde und Tausendsassa im biologisch-kulinarischen Schlaraffenland, hat einen vollgespickten Terminkalender. Das wird sich an diesem Abend noch mehrfach zeigen.
Reisinger und Palme – die Pioniere des Anbaus von alten Gemüsesorten
Die Schönbrunner Seminare feierten vor Kurzem ihr 15jähriges Bestehen. Sie waren der Anlass für das Gespräch. Denn: Schönbrunn klingt gut, Haubenkoch und altes Gemüse auch. Was aber genau hinter diesem Label steckt, wollte ich im direkten Gespräch erfahren. Wer meint, in Schönbrunn findet man einen langweiligen Seminarraum mit einem Beamer und Menschen, die sich verstohlen nach einer Dreiviertelstunde das Gähnen unterdrücken, der irrt gewaltig. Vielmehr sind die Schönbrunner Seminare alles andere als Lehrstunden, in welchen trockene Inhalte vermittelt werden. Da wird gerochen und gekostet, geschmeckt und verglichen, kurz: Gegessen und getrunken. Wolfgang Palme ist Leiter der Abteilung Gemüseanbau der Gartenbauschule Schönbrunn. Der einzigen Gartenbauschule, in der man auch maturieren kann. In Reisinger fand er vor 15 Jahren einen genialen Partner, der über ein großes Netzwerk in die Gastronomie, aber auch in die Lebensmittelindustrie verfügt. Beiden gemein ist das Unterrichten. Reisinger arbeitet neben seinen Aktivitäten rund um die Vermittlung von gesund produziertem Essen als Lehrer an den Hertha-Firnberg-Schulen in Wien. Dort setzt er seinen Schülerinnen und Schülern das kleine Pflänzchen Begeisterung ein, ohne welches das Kochhandwerk nicht zu erlernen ist. Und er ist wie Palme selbst leidenschaftlicher Produzent von Gemüse. Auch auf einem eigenen Acker im steirischen Feldbach, den er mit Frau und Sohn kultiviert.
Wir treffen uns in einem ehrwürdigen Café am Schwarzenbergplatz. Kommen beide gleichzeitig an. Reisinger direkt vom Ernten, ich vom Büro. Doch bevor ich meinen großen Fragenkatalog auspacke, geht es um so etwas Triviales wie die Bestellung beim Ober. Was bestellt ein Haubenkoch in einem Wiener Caféhaus abends um acht? Eine Mehlspeise, einen kleinen Imbiss? Eingedenk seiner Aktivitäten entschließe ich mich persönlich für einen Kräutertee. Das kann nur Sympathien wecken. „Einen Verlängerten, bitte“ ordert mein Gesprächspartner ohne nachzudenken. Damit habe ich nicht gerechnet. Mein erstes Aha-Erlebnis bei diesem Gespräch. Auch ein Haubenkoch ist nur ein Mensch, der ab und zu auch Lust auf etwas Ungesundes hat.
Unser Treffen soll ein wenig Licht in die nicht alltägliche Passion von Reisinger bringen. Eine Passion, die anfänglich rundum belächelt wurde. Der Anbau von alten Gemüsesorten stieß zu Beginn auf völliges Unverständnis. „Begonnen haben wir bei Null. Sogar im eigenen Hause wurden wir belächelt“ gibt der Vielfaltsverfechter offen zu. „Als wir mit den alten Gemüsesorten begannen, haben die Spitzenköche die Lieferanten damit weggeschickt. Sie wollten nichts verwenden, was ihre Kunden nicht kannten. Alles musste „harmonisch“ schmecken. Bittere Geschmackskomponenten zum Beispiel waren überhaupt nicht erwünscht.“ Heute jedoch findet der drahtige Mann, dem man nicht ansieht, dass er Koch ist, damit überall offene Türen. Nein, das stimmt nicht ganz. Ihm werden heute seine Türen förmlich eingerannt. Ich muss wohl diesen Vergleich bemühen, um deutlich zu machen, wie groß das Interesse und die Nachfrage nach Reisingers Wissen ist. „Die Verantwortlichen in der Gastronomie haben in den letzten Jahren gelernt, dass sich die Küche der einzelnen Häuser voneinander unterscheiden muss. Heute sind sie froh, wenn sie etwas Neues angeboten bekommen. Aber das war ein langer Prozess.“
Die Schönbrunner Seminare
Auf meine Frage, was denn nun die Schönbrunner Seminare eigentlich sind, antwortet er druckreif. Wie auch auf alle anderen Fragen dieses Abends. Man merkt, der Mann ist Kommunikationsprofi – und das, weil er von dem, was wer macht, durch und durch beseelt ist.
„In den Schönbrunner Seminaren präsentieren wir jedes Jahr eine andere Gemüsegruppe. Es nehmen daran ca. 80 Leute teil, die in zwei Seminardurchgängen Platz finden. Die Nachfrage ist aber so groß, dass wir viel mehr Seminare machen könnten, wenn die Zeit dafür reichen würde“.
Der Kostenbeitrag pro Person beträgt 60 Euro und inkludiert neben der Verkostung der einzelnen Rohgemüse auch ein ganzes Menü. „Eigentlich müssten wir für die Seminarteilnahme 1.450 Euro pro Person verrechnen. So viel kostet es, bis so ein aufwändiges Seminar wirklich steht. Eineinhalb Jahre Vorlauf benötigen wir dazu. Aber wir machen es nicht, um damit Geld zu verdienen. Wir betreiben das aus Hobby, Idealismus und aus Verrücktheit.“ Reisingers und Palmes Idee, den Geschmack von so vielen Gemüsesorten wie möglich wieder auf die Teller unserer Küchen zu bringen, ist ihre Hauptmotivation. Und der Erfolg, den die beiden mit ihrer Arbeit bisher erlebten, zeigt, dass sie auf dem richtigen Weg sind. „Es gibt keinen Tag, an welchem wir nicht bestätigt werden, wir stehen eigentlich jeden Tag auf dem Siegerpodest“ minimiert Reisinger seine „Verrücktheit“. Und damit meint er das Interesse nach den gesunden Gemüsen, das sich in den letzten Jahren auf den Handel, auf die Gastronomie und auf die Lebensmittelproduzenten ausgedehnt hat. „Bei den Seminaren in Schönbrunn sitzt alles, was Rang und Namen hat, an einem Tisch. Die Bio-Pioniere Sigi Lassnig und Walter Scharler, aber auch Heinz Reitbauer vom Steirereck und Leute von Rewe. Nicht zu vergessen Sigi Knasmüller, der Krebsforscher – alle kommen sie zu uns.“ Und das, weil das Angebot ein ganz Unglaubliches ist.
„Es gibt zwischen 80 und 120 Sorten Gemüse z.B. Salate, Gurken, Fisolen, Nachtschattengewächse, Kohlgewächse usw. Bisher haben wir jedes Jahr einer bestimmten Gemüsegruppe gewidmet. Heuer zeigten wir anlässlich des Jubiläums ein „best of“ von je 8 bis 12 Gemüsen.“ Und dann spricht der ausgewiesene Fachmann der alten Sorten darüber, wie die Maturaklassen der HBLFA Schönbrunn das Projekt begleiten. Von der Dokumentation der Aussaat, des Ertrags und der Witterung bis hin zur Ernte.
Pflanzensamen und Flugzeugnieten haben etwas gemeinsam
„In den letzten Jahrzehnten gingen zwei Drittel der Samenvielfalt verloren. Das passierte aufgrund von Modernisierungen im Anbau und des Aufkommens der Großkonzerne, die ja Gemüsesorten wünschen, die einen guten Ertrag und eine lange Lagerfähigkeit aufweisen. Dabei verloren wir in den letzten 60-80 Jahren einen Großteil der Sorten und erhielten unser heutiges Plastikgemüse. Gurken und Tomaten, die nach nichts schmecken.“ Wie recht Johann Reisinger hat! Wo sind die Zeiten, in welchen der Biss in eine Paradeis mit einem vollmundigen Gaumenkitzel belohnt wurde? Meine Enkeltochter kennt nur mehr wässrige Tomaten. Und kommt es doch zu jenem Ausnahmefall, bei dem man mit einem wunderbaren Geschmackserlebnis belohnt wird, dann möchte man den Tag am liebsten rot im Kalender anstreichen.
So lecker wird in den „Pur-Seminaren“ gekocht. (Foto: Facebook)
Jetzt habe ich schon mein zweites Aha-Erlebnis des Abends hinter mir. Zwei Drittel von einem Ganzen zu verlieren, das ist auch für Nichtmathematiker eine beeindruckende Größe. Vor allem, wenn man nachdenkt, was das wirklich bedeutet. Selbst Nicht-Gemüseessern müsste es kalt über den Rücken laufen, wenn sie sich über die Folgen der Entwicklung im Klaren wären. Weltweit gibt es rund 400.000 verschiedene Blühpflanzen. Das ist so viel, wie in einem durchschnittlichen Flugzeug an Nieten verbaut ist. Der Vergleich hinkt? Nicht, wenn man sich vorstellt, was passiert, wenn sich Dreiviertel der Nieten nach und nach verabschieden. Ein nietenloses Flugzeug stürzt ab der Niete X, die keiner wirklich vorherbestimmen kann, ab. Ein Ökosystem bricht nach der Xten verlorenen Spezies, die ebenfalls nicht berechnet werden kann, einfach zusammen. Eine der Auswirkungen: Das großflächige Bienensterben in den USA, dem Land, in dem die Monokulturen sich über hektargroße Felder erstrecken, ist nicht nur eine Folge des intensiven Pestizideinsatzes, sondern auch dem Verlust der Artenvielfalt geschuldet. So betrachtet betreiben Reisinger und Palme noch viel mehr als nur eine kulinarische Anreicherung unseres Speiseplanes. Der „Koch“ – wie Reisinger seinen Beruf selbst angibt – erklärt anschaulich, wie so eine Artenvielfalt anhand der Zwiebel aussieht. „Es gibt so viele unterschiedliche Arten mit unterschiedlichen Geschmäckern. Bitter, scharf, fruchtig, süß und mild kann so eine Zwiebel schmecken. Wir können bei einem Seminar 80 Sorten anbieten, die dokumentiert sind, die gruppiert und verkostet werden. Bei der Verkostung geht es darum, am Gaumen die Sensorik des jeweiligen Gemüses wahrzunehmen. Jeder Mensch hat ein unterschiedlich ausgebildetes Geschmacksempfinden. Jeder definiert „bitter“ anders. Viele sagen Rettiche und Rüben würden furchtbar schmecken, aber es gibt Sorten, die schmecken richtig gut. Wir bieten bei den Seminaren einen neuen Zugang, um eben diese Vorurteile abzubauen und Hürden zu überwinden. Bittere Gemüse können fantastisch schmecken“.
„Egal, was man macht, wenn man das lebt, was man gern tut, dann ist das immer ein Erfolg.“
Rohes und Gekochtes als geschmackliches Anschauungsmaterial
Aber es bleibt nicht bei der Rohverkostung. Das wäre zu einfach. Was bis hier mit Wolfgang Palme für ein Seminar gemeinsam projektiert wurde, geht ab nun in Johann Reisingers alleinigen Kompetenzbereich über. Denn er kreiert 8 bis 10 Gänge pro Gemüse. Wobei bei ihm die Devise gilt „weniger ist mehr“. „Aus den süß-fruchtigen Zwiebeln habe ich ein Zwiebelsorbet kreiert. Kleine, bittere Sorten habe ich in eine fruchtige Marinade mit Thymian und Rosmarin eingelegt. Dann gibt es wieder Zwiebeln, die wie Zuckermais schmecken. Mir ist es wichtig, dass beim Gemüse die Garzeiten kurz gehalten werden. Dadurch kommt die „Essenz“ des jeweiligen Gemüses richtig zur Geltung und diese ist wie eine Botschaft. Der Eigengeschmack des Lebensmittels soll nicht verändert werden. Zuviel Salz eliminiert die feinen Geschmacksnuancen. Ich koche meist so, dass ich erst zum Schluss salze.“ Gut, dass der Abend schon fortgeschritten ist und ich ein kleines Abendessen hinter mir habe. Sonst hätte ich spätestens an dieser Stelle zur Speisekarte greifen müssen.
Erfahrungen aus der großen Welt der gesunden Küche
Wenn der Geschmacksprofi einmal in Fahrt ist, dann sprudeln die Informationen aus ihm nur so heraus. Er erzählt von seiner Arbeit in Zusammenhang mit Slow Food. Jener Bewegung, der er seit 1987 angehört. Er berichtet über deren Dachorganisation Terra Madre, die alle zwei Jahre in Italien einen großen Kongress veranstaltet. Das letzte Mal war dieser im Turiner Olympiastadion. Da ging es um die Fragen der Bienen und Lachse, des Mais, des Weizens, der Urgetreide und was man unternehmen kann, um die Artenvielfalt erhalten zu können. Dort treffen sich sowohl Produzenten als auch Köche, aber auch die sogenannten „Hauptakteure“ wie Vertreter von Großkonzernen, Spitälern oder Verantwortliche für die Kantinen von Jugendeinrichtungen, Schulen usw. Und dann informiert der umtriebige Wissensvermittler noch über die Arche Kommission in Österreich. „Wir beschäftigen uns dort mit aussterbenden Lebensmitteln und Tierrassen und die Erhaltung derselben. Es gibt zum Beispiel eine Melanzanisorte, die kann roh wie ein Apfel gegessen werden. Das ist ein Produkt, das absolut schützenswert ist. Wir kümmern uns um Produkte aus einer bestimmten Region. Um diese zu erhalten, gibt es die sogenannten Presidi – das sind Initiativen, die mit Slow Food International gemeinsam betrieben werden, um diese Lebensmittel zu erhalten und letztlich auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern vorzustellen.“
Der Mensch hinter dem Wissen
Nach so viel geballtem Fachwissen interessiert mich jetzt aber der Mensch Johann Reisinger. Sein Lebenswerk und wie er zu dem geworden ist, was er heute ist. Als Koch – so kann man seiner Biographie entnehmen – war er ein „Unsteter“. Offenbar immer auf der Suche nach etwas Neuem. „Als Kind war es nicht klar, dass ich Koch werden wollte, aber den Zugang zur Natur, den habe ich schon damals gehabt. Aufgewachsen bin ich als Bauernbub in der Natur pur. Bei uns gab es ein Kräuterweiberl. Ich kann mich gut erinnern, wenn ich blutete, legte sie ein Blatt auf, und die Blutung hörte auf. Der gesundheitliche und der magische Aspekt der Planzen hat mich von da weg fasziniert. So kam ich zum Kochen, aus Interesse an den Produkten. Ich habe dann später in meinem Beruf alles erreicht, was man erreichen kann. Arbeitete in großen Häusern in mehreren Ländern und hatte auch mein eigenes Lokal. Für mich gab es irgendwann nichts Neues mehr. Anstatt nur zu kochen habe ich den Weg der Vermittlung meines Wissens gewählt. Ob in der Schule oder in den vielen Seminaren die ich gebe. Seit Langem schon will ich zurück zu gesunden Dingen. Tees machen, Kräutertinkturen und Salben produzieren, das macht mir einen großen Spaß. Dabei ruft man auch das Ursprüngliche ab. Und ich bin einer, der immer alles hinterfragen muss. Der nichts nimmt, wie es ist, weil es immer schon so war. Der Kochlöffel zum Beispiel. Der ist für mich ein völlig falsch konzipiertes Werkzeug. Er hat eine so kleine Auflagefläche und wenn man in einem Topf umrührt, dann möchte man ja auch gleichzeitig, dass am Boden nichts anbrennt. Da bräuchte man viel eher einen Spatel, mit dem man zugleich schaben kann.“
Diese Denkweise ist es wohl, die Reisingers Berufsweg geprägt hat. „Als ich in Vorarlberg mein eigenes Restaurant betrieb, war es für mich selbstverständlich, dass ich täglich am See die frischen Fische holte und schon bald auch meine eigenen Gemüselieferanten hatte. Es ist wichtig, im Einklang mit der Natur nicht gegen sie zu arbeiten, sie nicht zu zerstören, sondern zu fördern. Dabei entsteht auch eine Energie, die man auch schmeckt, wenn alles in Symbiose lebt. Und das Netzwerken war auch schon immer meins. Tradition und Kulturelles war für mich schon immer wichtig. Das Kulturelle, die Menschen, das soziale Gefüge gehört dazu. Ein Koch ist für mich ein Künstler, weil er etwas vollendet, was da ist. Alles was uns umgibt, lebt, auch die Pflanzen. Oft werden Gemüse und Pflanzen missachtet. Mein Acker, den ich mit meiner Frau und meinem Sohn bepflanze, sieht aus wie ein Dschungel. Es gibt darin so viele unterschiedliche Gemüsesorten. Dazwischen wuchert das Unkraut wie das Franzosenkraut oder die Vogelmiere und wilder Borretsch. Die Vielfalt wird dadurch immer größer. Am besten ist es, nichts zu machen, sondern die Pflanzen selber machen zu lassen. Dann vermehren sie sich auch von selbst und sind resistent gegen Pilze und Fäulnis. Alles muss sich aber erst einmal anpassen und akklimatisieren, das geht nicht von heute auf morgen.“
Jetzt ist es an der Zeit, eine brandaktuelle Frage zu stellen. „Was halten Sie von der veganen Bewegung?“
„Ich finde, diese Entwicklung ist eine Krankheit der modernen Gesellschaft. Wenn man sich dagegen stellt, dass Tiere in irgendeiner Art und Weise mit den Lebensmitteln, die man isst, in Verbindung stehen, dann dürfte man auch kein Obst und Gemüse essen. Denn ohne die Organismen, die auch Lebewesen sind und die im Boden oder der Luft oder wo immer auch verantwortlich für das Wachstum sind, würde nichts gedeihen. Ohne Bienen, also ohne tierisches Leben, gäbe es keine Pflanzen. Wenn ich wirklich vegan leben wollte, müsste ich mich komplett isolieren. Dann blieben zum Essen eigentlich nur die Selbstbefruchter übrig. Mein Credo hingegen ist: Von allem etwas und das in Balance. Man braucht nicht immer Fleisch. Ich liebe einen guten Speck oder ein feines Schweineschmalz, aber ich brauche es nicht. Die Ernährungswissenschaft hat bewiesen, dass Fette für den Körper notwendig sind. Es kommt aber immer auf die Ausgewogenheit an, mit der man sich ernährt.“ Ein klares Statement von einem, der die Vielfalt in jeder Hinsicht zu seinem Lebensmotto erhoben hat. Mit Einschränkungen kann der Kreativkoch nicht gut leben.
Der Anbau von Biogemüsen und alten Sorten hat aber auch seine Grenzen. Das zeigt mir der im Gespräch leicht nachdenklich Gewordene auch auf. „Wir geben zwar Seminare auch für Abnehmer wie Rewe, allerdings haben wir bei der Erzeugungsmenge ein Problem. Man muss feststellen, dass man für die Masse auf großen Anbauflächen nicht gesund produzieren kann. Man muss in einer Vielfalt anbauen, um das Immunsystem der Pflanzen zu stärken. Dabei ist der Boden ausschlaggebend.“ Aber Reisinger wäre nicht Reisinger, würde sein Kopf hier nicht auch ständig nach Lösungen suchen. „Es gibt viele kleinere Organisationen in Österreich, die Gemüse liefern. Oder aber man macht „city gardening“ auf den Dächern, am Balkon, in der Wohnung. Man braucht dazu nicht viel. Eine gute Paradeispflanze gibt den ganzen Sommer über Paradeiser. Ich hatte ein Exemplar, das hat gezählte 1200 Cocktailparadeiser erzeugt. Es gab einen Wettbewerb, da haben die Hobbyproduzenten genau dokumentiert, was sie geerntet haben. Daran haben einige Tausend Personen teilgenommen. Daraus entstand dann das „City-Farming in Schönbrunn.“ Wobei wir wieder bei unserem Gesprächsbeginn angekommen wären.
Zukunftswünsche gibt`s auch noch
Zum Abschluss möchte ich noch wissen, welche Projekte ihn noch reizen würden. Und überraschenderweise beginnt mein Gesprächspartner die Ausführungen über seine Zukunftspläne mit etwas Vergangenem. „Vor Kurzem war ich in Davos und habe auf 1700 Meter im Freien gekocht. Das Seminar hieß „Koch am Feuer“. Dabei haben wir Brot gebacken, Gemüse im Ganzen geschmort. Und das alles in einem Lehmbackofen und in einem Ziegelofen. Dort war ein ganz spezielles, internationales Publikum. Im November und im Dezember habe ich einen ähnlichen Kinderkochkurs im Freien in der Steiermark vor. „Kochen und Backen am offenen Feuer“. Ganz puristisch also. Wahrscheinlich werden wir auch Lebkuchen am Feuer zubereiten. Es soll nichts Spektakuläres sein, einfach nur ohne High-tech auskommen. Und was ich auch noch möchte, ist eine Plattform schaffen, bei der es den Jungen möglich wird, eine ganzheitliche Ausbildung zu bekommen. Eine Ausbildung, in der sich der Koch mit dem Gärtner austauscht. Ein guter Koch muss mit einem Fuß in der Landwirtschaft stehen. Er muss nicht an einem Tag 20 Gerichte anbieten. Drei bis fünf sind das Optimum. Das will ich an meine Schülerinnen und Schüler weitergeben, denn das ist meine Überzeugung.“ Und als ob es noch eines würdigen Abschlusssatzes und eines Resümees bedurft hätte fügt Johann Reisinger nahtlos hinzu: „Egal, was man macht, wenn man das lebt, was man gern tut, dann ist das immer ein Erfolg.“
Es gibt Kunstsammler, die aus Geltungssucht sammeln, solche, welche die renditenreiche Investition anspornt und wieder andere, die einen gänzlich anderen Zugang zu diesem Thema haben. Alois Bernsteiner ist es zu verdanken, dass im Kunstraum Bernsteiner in der Schiffamtsgasse 11 im zweiten Bezirk seit 2010 jährlich vier bis fünf Künstlerinnen und Künstler ihre Arbeiten präsentieren können.
Studenten und Guernica von Picasso
Ursprünglich wollte der heute 64-Jährige Rennfahrer werden, musste diesen Traum nach einem schweren Unfall jedoch aufgeben. „Es war nach heutiger Sicht ein Glück, dass ich so lange im Krankenhaus war. Ich war damals 37 Jahre alt und hatte während meiner Genesung viel Zeit zum Nachdenken. Da lernt man auch genügsam sein und sich auf Sachen zu konzentrieren, die wichtig sind. Mit Kunst habe ich mich schon sehr früh auseinandergesetzt. Ich bin schon als junger Mann kreuz und quer mit Autostopp durch Europa zur Kunst gefahren. Ich war in Paris, in Madrid oder Amsterdam. Wenn ich von Museen oder Ausstellungen hörte, die mich interessierten, habe ich mich kurzerhand auf den Weg gemacht.“ Den Beginn seiner Leidenschaft für zeitgenössische Kunst kann Bernsteiner im Nachhinein jedoch in der Begegnung mit einem einzigen Bild festmachen: „Guernica“ von Picasso. Das hätte bei ihm eine Initialzündung ausgelöst. Das richtige Gespür für gute junge Kunst, das hat Bernsteiner von Künstlerinnen und Künstlern übernommen. „Ich höre immer gut zu, wenn sie sich untereinander unterhalten. Und auch heute noch frage ich manche nach ihrer Meinung. Da möchte ich von ihnen wissen, ob das Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin Qualität hat oder ob es nichts als Larifari ist.“ Dass er mit seinem heutigen, elaborierten Kunstgeschmack einer kleinen Elite angehört, ist ihm voll bewusst. „Kunst ist so elitär geworden, dass heute 80% der Menschen nichts mit zeitgenössischer Kunst anfangen können. Ich hatte das Glück, dass ich das, was man in der Schule über Kunst lernt, rasch abschütteln konnte. Viele meinen ja nach wie vor, dass Zeichnen ein Ersatz für die Fotografie sein sollte. Das ist der größte Blödsinn.“ Alfred Hrdilicka, dem er als junger Mann „nicht nur einmal nachts hilfreich unter die Arme gegriffen hat”, aber vor allem die jungen Kunststudentinnen und Architekturstudenten, die er kennenlernte und denen er mit seinen handwerklichen Fähigkeiten ein menschenwürdiges Wohnen ermöglichte, beeinflussten seinen Kunstgeschmack von Beginn an. Heute zählen wichtige Vertreterinnen und Vertreter der zeitgenössischen österreichischen Kunstszene zu seinen Freundinnen und Freunden. Kogler, Schlegel, Wagner, Stangl oder Sandbichler, Bohatsch und Kogler sind Namen, die Bernsteiner nur so aus dem Ärmel schüttelt. Was sich so imposant anhört, hat dennoch bescheiden begonnen.
„Leute werden oft gefragt, was sie mit viel Geld tun würden. Ich würde Chancen schaffen. Ich würde dafür sorgen, dass Kreative das ausprobieren, was in ihrem Kopf ist.“
Tausche handwerkliches Geschick gegen Kunst
Ich kann warmes Wasser verlegen, du machst Bilder – lass uns tauschen. Das ist eine einfache Gleichung, die sich heute in einer Sammlung niederschlägt, welche „noch nicht vierstellig” ist. „In meinen jungen Jahren litt ich vor lauter Arbeitsaufträgen permanent unter Schlafentzug, heute muss ich wegen meiner Behinderung, den Unfallspätfolgen, ruhiger treten.“ Was der gelernte Installateur als „ruhiger Treten“ bezeichnet, ist für so manch anderen ein Fulltime-Job. Sein Kunsteinsatz ist jedoch nicht vergleichbar mit jenen von Galeristinnen und Galeristen. „Ich verkaufe keine Kunst, ich bin kein Galerist, ich biete nur die Möglichkeit, Neues hier zu zeigen.“ Das Engagement, in seinem Kunstraum vor allem raumfüllende Installationen zu präsentieren, ist mehr als erstaunlich. „Galerien möchten meist Kunst ausstellen, die sich als „Flachware“ möglichst gut verkauft. Das interessiert mich aber überhaupt nicht.“ Schon von Beginn seiner Ausstellungstätigkeit an, der nun mehr als 20 Jahre zurückliegt, bot er einer, maximal zwei Personen pro Ausstellung großzügig Raum, um darin deren künstlerische Vorstellungen umzusetzen, unabhängig vom alles bestimmenden Kunstmarkt. Es fing mit Ausstellungen in seinem Haus im 11. Bezirk an, danach wechselte er in seine neu gebaute Halle ebenso in Simmering. Der letzte Coup ist nun der Kunstraum Bernsteiner, eine von ihm unglaublich behutsam und zugleich spannend revitalisierte Location, die eine Herausforderung für die Ausstellenden bedeutet.
Kunst kann man nicht ausschließlich in Zahlen bewerten
„Der größte Reiz bei Ausstellungen ist für mich das Verfolgen des Entstehens des Projektes. Zu sehen, wie sich eine Idee konkretisiert und der Raum dabei jedes Mal anders genutzt wird. Ich bin von der ersten Idee bis zur Ausführung eingebunden, das ist es, was für mich richtig interessant ist.“ Bernsteiner ist ein „Macher“, einer, der den Künstlerinnen und Künstlern hilfreich zur Seite steht, aber auch einer, der von ihnen verlangt, selbst Hand mit anzulegen. Seine eigene Sammlung ist gut dokumentiert und elektronisch erfasst, wenngleich Bernsteiner selbst „mit Computer gar nichts am Hut hat.“ Im Dezember 2013 erhielt er für sein Engagement eine Anerkennung bei der Maecenas-Verleihung. „Auf die Frage, wie hoch denn mein jährliches Kunstbudget sei, zitierte ich meine Frau, die sagte, dass wir mit unserem Budget bereits im Jahr 2054 angelangt sind. Heute definiert sich alles über Zahlen, aber in der Kunst kann man vieles nicht mit dem reinen Geldwert ausdrücken. Arbeit zum Beispiel zählt nie als Geld.“ Und Arbeit macht jede einzelne Ausstellung mehr als genug. Nicht nur, dass Bernsteiner den Raum zur Verfügung stellt, er sorgt auch für PR und ermöglicht den Kreativen auch so manchen Sonderwunsch. Da werden schon einmal der Boden und die Wände in einer anderen Farbe gestrichen oder eine Wand eingezogen, wenn notwendig. „Ich bin Unternehmer. Man muss was angreifen, dass was draus wird.“ Das gilt im Installations- und Baugewerbe genauso wie in der Kunst. „Leute werden oft gefragt, was sie mit viel Geld tun würden. Ich würde Chancen schaffen. Ich würde dafür sorgen, dass Kreative das ausprobieren, was in ihrem Kopf ist.“ Es ist interessant, gerade das von einem Mann wie Alois Bernsteiner zu hören, der ja schon seit mehr als 2 Jahrzehnten im Kunstbereich nichts anderes macht.
Die Zukunft einer großen Sammlung
Auf die Zukunft seiner Sammlung angesprochen, reagiert der Kunstmäzen gelassen. „Mir ist es egal, was mit meiner Sammlung einmal geschieht. Ich möchte da niemandem etwas dreinreden. Und außerdem muss man bedenken, dass ich nicht systematisch gesammelt habe, eher aus dem Bauch heraus. Darüber hinaus hat sich im Laufe der Zeit mein Geschmack auch verändert.“ Überraschend nach dieser Aussage war dann jedoch die Feststellung auf die Frage, welche Bilder denn seine Lieblingsstücke wären: „90 Prozent! Aber verkauft wird davon nix! Meine Bilder sind für mich wie Tagebücher. Ich erinnere mich bei jedem Einzelnen, wie ich dazu kam, an die Geschichte drumherum.“ Dass er aber überhaupt eine derart große Kunstsammlung aufbauen konnte und seiner Leidenschaft auch in seinen diversen Kunstprojekten frönen durfte, das verdanke er seiner Familie, die „ein Lottosechser in seinem Leben“ gewesen sei. „Wir haben sogar einmal einen Familienrat einberufen, als es um den Ankauf eines Bildes ging. Entweder das Bild oder ein Urlaub, das galt es zu entscheiden und die Entscheidung fiel 3:0 – meine Frau, meine Tochter und ich – für das Bild.“ Leicht unwirsch wird Bernsteiner nur dann, wenn er auf das Thema der Kulturförderung zu sprechen kommt. Auf finanzielle Versprechungen, die nicht eingehalten wurden, auf einen bürokratischen Dschungel, den er hasst. „Bürokratische Hemmnisse sind etwas Schreckliches“ und „die Kunstförderung ist keine Kunstunterstützung, sondern die kleinen Summen, die dabei vergeben werden, sind so etwas wie Eselskarotten, die man den Leuten vor die Nase hängt und ihnen ab und zu einmal eine gibt, damit sie den Mund nicht aufmachen.“ Das darf einer sagen, der zwar nach eigener Aussage „stets weiß, was er in der Tasche hat“ aber zugleich auch „nie rechnet, was eine Ausstellung tatsächlich kostet.“
Alois Bernsteiner ist ein Mann der Tat mit einer Riesenportion Interesse an der Kunstproduktion. In Zeiten wie diesen und einer Stadt wie Wien wurde er so etwas wie ein feststehender Leuchtturm für viele, die ohne ihn nicht die Möglichkeit bekommen hätten, ihre künstlerischen Pläne in die Tat umzusetzen. Mit seinem Kunstraum ist es ihm gelungen, dem finanziellen Diktat, welches die Kunst auf vielen Ebenen tatsächlich zum Schweigen bringt, zumindest vordergründig ein Schnippchen zu schlagen. Und dass noch einiges von ihm zu erwarten ist, erklärt sich schon aus seiner lapidaren Feststellung, dass „ich für das, was noch in meinem Schädel ist, eigentlich fünf Leben brauchten würde.“
Anlässlich der Aufführung von „Drei Mal Verstand zu verkaufen“ im Hundsturm in der Reihe „Die Besten aus dem Osten“ des Volkstheaters trat Andrea Grill mit einer kurzen Einführung in das Stück vor das Publikum. Ermächtigt dazu war sie aufgrund der Übersetzung des Textes vom Albanischen ins Deutsche. Anlass genug, um sich mit der vielseitig Begabten, die auch als promovierte Biologin arbeitet, zu treffen und Fragen zu ihrem Albanienbezug aber auch ihrer Arbeit als Autorin zu stellen.
Schön, dass es uns gelungen ist, zwischen ihren vielen Reisen einen Termin für dieses Gespräch zu finden.
Ich nehme mir immer vor weniger unterwegs zu sein, aber das gelingt mir leider doch selten.
Sie treten als Biologin, Übersetzerin und Autorin in unterschiedlichen Arbeitsdisziplinen an. Wo liegt denn eigentlich Ihr Hauptinteresse?
Eindeutig beim Schreiben. Und das war auch schon immer so. Ich habe schon als Kind geschrieben. Allerdings würde mir die Biologie fehlen, wenn ich sie nicht hätte. Freiwillig würde ich mich davon nicht trennen. Die Arbeitsverhältnisse sind dort aber genauso prekär wie in der Kunst. Ich habe immer Forschungsprojekte gehabt und muss immer wieder neue Projekte einreichen, wenn ich weiter forschen will. Allerdings habe ich das Gefühl, in der Wissenschaft wird objektiver beurteilt als z.B. bei Literaturpreisen oder -stipendien. Und man bekommt die Projekte für eine längere Zeit.
Ich habe Sie zum ersten Mal anlässlich der Aufführung des Stückes „Tri mendje ne ankand“ des albanischen Autors Ferdinand Hysi kennengelernt. Dabei erzählten Sie, dass es nur ungefähr 8 Millionen Menschen gibt, die Albanisch sprechen. Wie kamen Sie dazu, vom Albanischen ins Deutsche zu übersetzen?
Das war eigentlich ein Zufall. Ich habe mit 16 Jahren angefangen, Albanisch zu lernen. Ich hatte Freunde, die als Flüchtlinge nach Österreich gekommen waren. Als Schülerin durfte ich dann mit ihnen in den Ferien nach Albanien mitfahren. Das war sehr aufregend für mich. Die Öffnung von Albanien war noch nicht lange her, vom Land wusste man wenig. Mein Vater besaß allerdings ein Buch darüber. Das erweckte in mir eine Neugier und Faszination. Ich hatte außerdem immer schon ein Faible für den Mittelmeerraum. Ich bin im Salzkammergut aufgewachsen, und dachte mir als Kind immer, woanders müsse es sicher besser sein, wärmer, interessanter, freundlicher, fröhlicher. Die Reise nach Albanien war dann ein einschneidendes Erlebnis für mich. Es war zu Beginn der 90er Jahre und ich hatte das Gefühl, etwas bewegen zu können, gemeinsam mit allen jungen Albanern, die sich nach der Diktatur ein besseres Leben wünschten – 17 war ja ein ideales Alter dafür. Heute gehört diese Erfahrung zu meinem Leben, ich wüsste nicht, wie sich das ohne diese Reise entwickelt hätte. In Albanien machte ich auch meine ersten Bekanntschaften mit Schriftstellern. Leute, die ich heute übersetze, mit denen bin ich „aufgewachsen“. Wie z.B. Albana Shala. Ich habe einen Lyrikband von ihr ins Holländische übersetzt. Wir hatten uns gut angefreundet, sie zog dann nach Holland, und als ich für meine Doktorarbeit auch dorthin zog, hat sich die Freundschaft vertieft.
Es gibt in Österreich wahrscheinlich wenige, die Literatur aus dem Albanischen ins Deutsche übersetzen?
Ja, das stimmt. Ich habe einiges fürs Volkstheater übersetzt. Grundsätzlich übersetzte ich nur dann, wenn die Stücke tatsächlich aufgeführt werden. In Albanien gibt es mittlerweile viele Menschen, die schreiben und die übersetzt werden wollen. Ich mache das aber nur, wenn die Übersetzung auch wirklich veröffentlicht wird oder das Stück aufgeführt.
Gibt es etwas, das Sie gerne übersetzen würden und bisher – aus welchen Gründen auch immer – noch nicht übersetzen konnten?
Ja, es gibt den Autor Visar Zhiti, den möchte ich sehr gerne übersetzen, allerdings findet sich bis jetzt leider kein Verlag. Er wird als Prototyp eines albanischen Gefängnisliteraten angesehen, was aber nur teilweise stimmt. Er verwendet aber diese Typisierung auch selbst als Strategie. Ich finde, dass das seinem Werk in gewisser Hinsicht etwas wegnimmt. Ingeborg Bachmann wird auch immer in der Opferrolle gegenüber ihrer Männern gesehen. Das finde ich schade, denn das war ja nur ein kleiner Teil von ihr. Visar ist ein hochbegabter Lyriker, der einen schönen Roman geschrieben hat.
Ich habe selbst vor erst kurzer Zeit bei einer Ausstellungseröffnung im Nationalmuseum in Tirana erlebt, dass die Künstler dort besonders aufmerksam jedes einzelne Bild eines jungen Künstlers betrachteten und mit ihm dann darüber sprachen. So, als wäre die dort gezeigte Abstraktion für sie noch überhaupt nicht gang und gäbe. Ist die albanische Literatur nach Ihrer Einschätzung schon im Hier und Jetzt des westlichen Literaturbetriebes angekommen?
In irgendeiner Art und Weise ist Albanien tatsächlich hängen geblieben. Warum das so ist, weiß ich nicht. Die von Ihnen beschriebene Begeisterung ist auch in der Literatur da. Einer meiner Romane, Tränenlachen, wurde ins Albanische übersetzt, und als er in Tirana präsentiert wurde, hat das unglaubliches Aufsehen erregt. Das Fernsehen war da und das Buch war zwei Tage lang in aller Munde. Bei uns schert das niemanden, wenn ein neuer Roman erscheint. Dort aber kamen alle bekannten Schriftsteller zur Präsentation. Wobei man sagen muss, dass es in Albanien tatsächlich nur wenige Schriftsteller gibt, die vom Schreiben leben. Die meisten haben auch einen zweiten Beruf. Vielleicht ist deshalb die Leidenschaft fürs Literarische, für Lesungen, umso größer. Manche leben auch vom Geld ihrer Kinder, die das aus dem Ausland schicken.
Ist es für Sie beim Übersetzen hilfreich, dass Sie selbst literarisch tätig sind?
Ja, auf alle Fälle. Man lernt dabei auch viel fürs eigene Schreiben. Der Inhalt beim Übersetzen ist ja schon da. Man könnte das mit dem Klettern vergleichen, wo die Griffe bei den viel begangenen Routen ja auch schon vorhanden sind. Da geht es dann darum, wie gut man diese nutzt, wie sportlich man an die Sache herangeht. Beim eigenen Schreiben muss man auch noch den eigenen Berg erfinden.
Sind bei Ihnen Lyrik und Prosa gleichberechtigt oder gibt es Präferenzen?
Eigentlich sind sie gleichberechtigt. Früher habe ich mich gar nicht so damit beschäftigt, welche literarische Form ich verwenden möchte. Ich achte beim Schreiben selbst nicht wirklich auf die Form, das Erzählen steht im Vordergrund. Wobei ich gleichzeitig hinzufügen möchte, dass Inhalt und Form ganz untrennbar miteinander verbunden sind. Man zieht ja auch zum Schifahren einen Schianzug an und keinen Bikini.
Sie haben einige Theaterstücke übersetzt. Schreiben Sie selbst auch welche?
Ich habe erst letztes Jahr eines geschrieben. Das wird heuer am 14. Juni in der Montessorischule in Grödig in Salzburg von einer Theatergruppe aufgeführt. Darin geht es um einen jungen Wissenschafter, der einen part-time-Job hat.
Steht da Autobiographisches dahinter?
Nein, nicht wirklich, er ist auch ein ganz anderer Typ als ich. Es spielt aber in einem Milieu, das normalerweise im Theater nicht vorkommt. Ich habe das Stück auch schon großen Bühnen angeboten aber ganz unterschiedliche Gründe kommuniziert bekommen, warum es nicht aufzuführen ist. Der eine war, dass die Leute das nicht sehen wollten, der andere, dass zu viele Personen daran beteiligt seien, wieder andere erklärten mir, es seien zu wenig Personen. Es gibt immer Gründe, um abzusagen. Für die Schulaufführung habe ich ein paar Sachen vom Urtext geändert. Da wollten viele Leute mitspielen also hab ich noch einige Sätze zum Ursprungstext dazugeschrieben, den Text in gewisser Weise für die Schüler adaptiert. Jetzt hat ein Verlag Interesse, es als Buch herauszubringen. Da wird es wieder ein bisschen geändert werden. Ich habe früher schon einmal ein Hörspiel geschrieben. Jetzt wollte ich einmal ein Theaterstück versuchen. Da ist die Schule für mich so etwas wie ein Versuchsfeld. um auszuprobieren, wie es funktioniert.
Wie kann man sich eigentlich einen Arbeitstag von Ihnen vorstellen?
Ich arbeite an einem Tag oft an mehreren Dingen. Mit der Zeit hat sich herauskristallisiert, dass meine produktivsten Zeiten zwischen 10 und 2 Uhr sowohl am Vormittag als auch in der Nacht sind. Es ist ja bekannt, dass viele Autoren in der Nacht schreiben, nicht nur, weil es da so schön ruhig ist. Man hat nicht das Gefühl, etwas zu versäumen.
Welche Themen sind Ihnen beim Schreiben wichtig, was möchten Sie gerne unbedingt kommunizieren?
Die Themen kommen aus der eigenen Lebensgeschichte. Ein Grundthema ist das Überwinden von Grenzen oder: wie beeinflusst einen der Ort an dem man geboren ist? Man wünscht sich als Künstler und als Mensch, dass jeder frei ist. Aber das ist nicht so. Das hängt nur mit Glück und Zufall zusammen. Ich suche immer danach, wie das denn gehen könnte, frei zu sein. Eines der konkreten Probleme sind die Nationalstaaten. Meine Generation hat den Fall des Eisernen Vorhanges erlebt. Deswegen bin ich der Meinung, dass uns dieses Thema interessieren sollte. Ein anderes Thema ist, wie Menschen miteinander umgehen. Eigentlich möchten sich Menschen so gerne verstehen. Aber trotz unserer komplexen Sprache und obwohl wir den ganzen Tag reden funktioniert das oft nicht. Ich habe in meinen Texten oft Tiere und sogar Pflanzen als Protagonisten, Wesen, die nicht reden können.
Das hängt mit Ihren Erfahrungen als Biologin zusammen.
Ja, da überschneiden sich meine Interessen. Die Literatur ist ebenfalls eine Möglichkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse auszudrücken oder über sie nachzudenken. Die technischen Entwicklungen in der Biologie gehen so rasant, dass ich sogar als Wissenschafterin Mühe habe, mit den neuesten Erkenntnissen Schritt zu halten. Die Suche nach der Wahrheit, die in der Forschung oben anstehen sollte, ist oft gar nicht mehr möglich. Heute muss für jedes Projekt vorrangig Geld eingetrieben werden und Geldeintreiben und die Suche nach Wahrheit widersprechen sich eigentlich.
Gibt es etwas, das sie gefragt werden wollen oder etwas, das sie noch nie gefragt wurden?
Das ist eine gute Frage – komisch, dass ich darauf nicht sofort eine Antwort habe. Doch, Musik vielleicht! Ich liebe Musik, in den letzten Jahren vor allem klassische. Die Klaviertrios von Haydn beispielsweise die ich sehr häufig höre.
Können Sie beim Schreiben auch Musik hören?
Ja, wenn ich die Musik schon kenne, wie eben die genannten Klaviertrios. Mit neun CDs kommt man eigentlich gut durch den Tag. Ich könnte keine Opern oder etwas Aufwühlendes hören. Haydn kenne ich gut, der versetzt mich in eine angenehme Stimmung.
Gibt es eigentlich Momente, in denen Sie nicht schreiben können?
Wenn ich mit Leuten zusammen bin. Das finde ich übrigens schade.
Ist ihr Schreibprozess ein fließender oder eher ein oftmalig korrigierender?
Ich korrigiere sehr häufig, schreibe selten etwas in einem Zug herunter. Beim Korrigieren geht es dann besonders um die Form. Bei meinen ersten Skizzen bin ich damit beschäftigt herauszufinden, was ich überhaupt schreiben will. Für mich bedeutet Schreiben zugleich Nachdenken. Ich kann mich nicht einfach hinsetzen und „nur nachdenken“. Ich weiß zu Beginn nicht, wie sich ein Roman entwickeln wird. Ich habe eigentlich nur ein Grundthema und kenne die Atmosphäre, in der die Geschichte beginnt. Ich glaube, ich hätte gar keine Lust mehr zu schreiben, wenn ich schon von Beginn an wissen würde, wie das alles ausgeht.
Ist Schreiben bei Ihnen so etwas wie eine Entdeckungsreise im eigenen Kopf?
Ja. Das Ergebnis ist im besten Sinn manches Mal überraschend. Ich bin mir auch nicht sicher, woher die Einfälle wirklich kommen. Beim Analysieren komme ich mir dann wie ein Fremder gegenüber dem eigenen Text vor. Bei manchem verstehe ich, wie ich darauf kam. Anderes hat wieder etwas Unerklärliches, fast Metaphysisches. Auf alle Fälle ist das, was ich schreibe, gescheiter als das, was ich rede. Diese Erfahrung habe ich auch im Gespräch mit anderen Schriftstellern gemacht. Wenn ich jemanden treffe, dessen Werk ich richtig verehre, kommt es oft vor, dass wir uns dann im direkten Gespräch wenig zu sagen haben, auch wenn ich ihre Bücher so liebe.
Gibt es für Sie so etwas wie den idealen Leser, die ideale Leserin?
Es ist ja so, dass sich der Leser ins Buch miteinbringt. Das habe ich z.B. auch bei Borges gelesen. Man soll den Leser nicht unterschätzen. Je besser der Leser, umso besser ist das Buch! Vielleicht wird es in Zukunft sogar so sein, dass man sich um den Leser reißt. Das wäre ein Science-fiction-Stoff. Ich höre oft: „Um Gottes willen, wer soll denn das alles lesen?“ Vor allem auch von Literaturprofis.
Gibt es ein literarisches Zukunftsprojekt?
Ja, es ist ein Roman, an dem ich seit Jahren schreibe. Ich möchte im Laufe dieses Jahres damit fertig werden. In diesem Roman mache ich erstmals das, was jeder von mir erwartet. Ich verarbeite darin das, was ich als Biologin weiß.
Bevorzugen Sie selbst eines Ihrer bisher veröffentlichten Bücher?
Ja, meinen letzten Lyrikband, „Safari, innere Wildnis“. Er ist momentan das wichtigste Buch für mich.
Claudia Bosse, in Wien mit ihrem theatercombinat ein Fixpunkt in der Off-Szene, stand European Cultural News bereits zwei Mal Rede und Antwort. Lesen Sie in diesen beiden Interviews vom April 2014 und Dezember 2012 was der Theatermacherin bei ihrer Arbeit wichtig ist und was sie sich selbst vom Publikum erwartet.
Interview mit Claudia Bosse, Teil 1
Statements vom April 2014, nach der Aufführung von „What about catastrophes“:
Ich glaube, wir sind in permanent instabilen Verhältnissen.
Die Arbeit, die Sie gerade im Tanzquartier gezeigt haben unterscheidet sich erheblich von früheren.
Ja, sie ist völlig anders aufgebaut und hat einen ganz anderen Fokus.
Das Werk war direkt episch angelegt. Täuscht mich der Eindruck, dass die Interaktion mit dem Publikum dabei auf ein Minimum zurückgefahren war?
Das stimmt. Es ging mir in dieser Arbeit weniger darum, einen komplett begehbaren Raum zu schaffen, sondern eine Zeiterfahrung anzubieten. Der Zuschauer kann sich dabei durchaus mit seinem Körper anders verhalten als sonst im Theater aber es ging mir mehr um die geteilten Zeiträume, die sich im Verlauf des Abends verändert haben.
Mit den „Zeitbremsen“, die sie eingebaut haben, werfen Sie das Publikum sehr auf sich selbst zurück.
Wenn man mit dem groben Thema von Katastrophen arbeitet gibt es immer eine bestimmte Erwartung zu den Zeitlichkeiten. Mich interessierte, wie die unterschiedlichen Zeiterfahrungen in die Ökonomie des Theaters zu überführen sind, speziell in so einen Raum, der räumliche und zeitliche Erwartungen in sich trägt. Ziel war es, dass die Instabilität vielleicht in stabileren Verhältnissen stattfindet.
War der Entstehungsprozess ein anderer als bei den vorherigen Produktionen?
Sehr. Einerseits weil die Arbeit dazu nicht immer in dem Raum stattgefunden hat in dem sie dann aufgeführt wurde. Das heißt, die Arbeit daran hat in verschiedenen Räumen stattgefunden und wurde dann erst zum Schluss in den Raum adaptiert in dem sie aufgeführt wurde. Auf der anderen Seite habe ich parallel zu den Proben versucht, Material zu generieren, das in Raumelementen und Soundinstallationen zugänglich gemacht wurde, die zu kleinen Rückzugsorten in diesem Raum wurden. Was den Text betrifft, habe ich dieses Mal nicht mit Montagen gearbeitet, die miteinander verwoben wurden, sondern ich habe mich gefragt, wie kann ich eine Dramaturgie finden, die eigentlich keine Dramaturgie ist. Ist es möglich, in einem Theaterraum, in dem ich immer eine zeitliche Abfolge habe, eine Chronologie von Abläufen, so etwas wie gleichwertige Teile zu schaffen? Und wie können die kombiniert werden, dass immer die fünf Agenten, die Tänzer und Performer diese Situationen gemeinsam initiieren. Dabei sollten die unterschiedlichen Situationen für einen gewissen Zeitraum existent sein, um dann wieder zu verschwinden. Ich habe einerseits versucht, über einen großen Fluss zu arbeiten und andererseits wieder über Unterbrechungen, durch die dann wieder etwas anderes passiert. Ich habe versucht, dass diese verschiedenen Sequenzen für sich selbst sprechen, Informationen, Affekte und Emotionen erzeugen und das nicht nur über die Stellung im Gesamtablauf.
Dennoch hatte ich den Eindruck, dass es einen großen Spannungsbogen gab.
Durchaus, aber nicht mehr in dem Sinne von einer einzigen zusammenfassbaren Aussage. Das ist durchaus auch so gebaut aber dennoch könnte jedes Element alleine für sich stehen. Wenn man z.B. die Anfangssequenz hernimmt, in der es ein Ringen um einen Diskurs gab Dinge zu fassen, die man eigentlich nicht fassen kann. Dieser Teil war für mich ein sehr komödiantischer, den die Menschen unterschiedlich lesen konnten, was für mich vollkommen in Ordnung war. Es war mir wichtig, dass die verschiedenen Sequenzen unterschiedliche Energiefelder hatten, sich aber zugleich einer bestimmten Zuordnung verweigerten. Im Zusammenhang mit einer Katastrophe gibt es immer das Ringen um Kausalzusammenhänge die sich einem aber permanent entziehen. Ist so eine beunruhigende Ruhe in eine theatrale Situation zu übertragen, die keine Analyse der Funktion einer Katastrophe in der Gesellschaft abliefert, sondern einen ästhetischen Erfahrungsraum liefert in dem es unterschiedliche Zugriffe gibt auf die Fragestellung.
Stimmt mein Eindruck, dass es dennoch eine Metabotschaft gab, die man heraushören konnte? Dass Katastrophen, welcher Art auch immer, zum Menschsein gehören sich aber aus den Katastrophen auch wieder ein neues Menschsein gebiert? Aber auch, mit dem Beispiel der Apokalypse, das sie anführen, Katastrophen wie diese epische eben auch nur konstruierte Katastrophen sein können?
Ja, durchaus, sehr sogar. Ich glaube, dass wir immer wieder versuchen, Illusionen von Stabilitäten herzustellen. Ich habe aber stark den Verdacht, dass es diese Stabilitäten gar nicht gibt, sondern dass die finale Katastrophe ein episches Konstrukt ist, um sie wie eine Illusion in einer vermeintlich stabilen Gesellschaft aufrecht erhalten zu können. Ich glaube, wir sind in permanent instabilen Verhältnissen. Es gibt diese Stabilität nirgends. Eigentlich sollte die Produktivität oder die permanente Gefährdung ein Grundmotiv unserer Existenz sein. Sei es im Sinne von gesellschaftlichen Verhältnissen, von existentiellen Fragen, von politischen Zonen oder ökonomischen Verhältnissen. Ich fand auch sehr interessant, was es bedeutet, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, wo es diese Vorstellung über das letzte Gericht gibt. Wie wird hier die Angst vor der Abrechnung und dem Zusammenbruch geschult und wie versperrt das eigentlich den Moment. Wie kann man den Moment selbst anwesend machen, das war mir eine sehr wesentliche Fragestellung zu dieser Arbeit.
Wie stellen Sie sich das ideale Publikumserleben dieser Produktion vor oder anders, wer ist für Sie der oder die ideale Zusehende?
Jemand der mit kritischen Parametern sowohl analytisch als auch emotional an das herangeht, was er sieht. Sowohl körperlich als auch was bestimmte Ereignisse als Assoziationen aufrufen als auch zu schauen, was tritt mir da eigentlich wie entgegen. Mir ist es wichtig, dass die Fragen von was und wie in ein richtiges Verhältnis gesetzt werden. Dabei gilt es zu bedenken, dass das Theater nicht eine Art von Vorführen von etwas ist und nicht etwas ist, wo man eine amüsante Zeit verbringt in der man pointiert Dinge sieht, die man ohnehin schon weiß. Sondern wo diese zeitlichen ästhetischen Verunsicherungen zurückgreifen sollen ins Leben oder in andere Überzeugungen. Es stellt sich die Frage, ob man es selbst schafft, im Theater „dort“ zu sein, sich mit den Dingen in einer selbst bestimmten Weise auseinanderzusetzen.
Was geschieht mit dieser Produktion weiter?
Wir werden mit der Produktion einen Abstecher nach Athen machen, die Arbeit dort in einen komplett anderen Raum anpassen. Ich überlege auch, die Arbeit vielleicht noch einmal in anderen Räumlichkeiten in Wien zu zeigen, aber erst 2015. Ab Sommer wird dann die Folgeproduktion begonnen vorzubereitet zu werden, die dann im September in Düsseldorf uraufgeführt wird. In einem ehemaligen Theater, das aber eigentlich nur mehr eine Art Ruine ist. Was sehr schön ist. Das ist die nächste Station, die dann „catastrophic paradise“ heißt.
Interview mit Claudia Bosse, Teil 2
Statements vom Dezember 2012 nach der Uraufführung von „designed desires“
Das, was eigentlich notwendig ist, ist Neugierde.
Ihre Abende mit dem theatercombinat haben in Wien schon Tradition. Wie werden diese denn vom Publikum angenommen?
Sehr gut eigentlich, wir sind oft ausverkauft.
Die Zusammenarbeit mit ihren Performerinnen und Performern stelle ich mir nicht leicht vor. Es ist ja keine wirklich homogene Truppe, sondern es sind viele Menschen, die unterschiedliche Backgrounds haben. Wie gestaltet sich so eine Arbeit eigentlich?
Es gibt eine Gruppe von Personen, die hier nicht-bezahlt und freiwillig mitmacht und die schon bei der einen oder anderen Arbeit dabei war. Die andere Gruppe sind Schauspieler, Tänzer oder Performer aus unterschiedlichen Ländern wie Australien, England oder Frankreich, die sehr bunt zusammengewürfelt sind. Das Wichtigste bei einer Arbeitskonstellation für ein bestimmtes Projekt ist ein Gefühl zu entwickeln, wer mit welchem Wissen, welche Persönlichkeiten wie miteinander was eventuell möglich machen können.
Sie gehen ja von einem Grundkonzept in ihrer Arbeit aus, das Sie mitteilen, dann mit den Leuten arbeiten und auch darauf eingehen, wie sich die Dinge entwickeln. Wie ist denn eigentlich der Anteil zwischen dieser Grundkonzeption und dem, was dann aus dem Prozess entsteht? Ist das Kollektiv stärker als die Idee, die von Haus aus da ist?
Es sind ganz grundsätzlich verschiedene Arbeitsschritte. Einerseits benötigst du ein Grundinteresse, warum du eine bestimmte Arbeit machst. Dann ist es wichtig, aus dem, was vorhanden ist, Qualitäten herauszuarbeiten. Zunächst gibt es die groben Annäherungen, dann gibt es die Phase, in der unterschiedliche Teilmaterialien entstehen, als kleine Einheiten die gesetzt sind, oder auch als Fragestellungen. Ich sage dann zum Beispiel: Zeichne deinen Körper heute auf ein Blatt Papier und setze verschiedene Elemente hin, die den Körper zu dem gemacht haben, was er jetzt ist. Das ist im Grunde ein Tool das jeder sehr unterschiedlich bearbeitet und aus dem dann Material entsteht. Das wird dann vorgestellt und von mir auch kommentiert. Daraus versteht man, wie jeder denkt und welche Möglichkeiten jeder hat. Das sind oft sehr stark dialogische Arbeiten, aus denen das Grundmaterial entsteht. Der nächste Prozess ist, aus den Einzelteilen das Stück zu bauen, in Stimmlagen, Rhythmen, Energien, Abhängigkeiten und dann die Übergänge zu erarbeiten. Das ist so ein bisschen wie ein Setzkastenprinzip. Dann probiert man das Material – das eine zu dem Punkt, das andere zu etwas anderem. Oder ich sage: Wenn sie das macht, dann machst du das. Dadurch gibt es ein starkes materielles Wissen, das aber erst im Prozess entsteht. Das Grundinteresse ist keine Idee, die über etwas steht. Wenn ich die Leute bitte, etwas zu tun, weiß ich, was mich daran interessiert, aber ich weiß nicht genau, wie es aussieht. Ich habe z.B. mit Blickchoreografien gearbeitet, im Sinne von: Wie sind die Blicke? Eher fragil und ausweichend? Das heißt, ich arbeite da über körperliche Konstitutionen. In einer Sequenz konstituiert man sich so – und wo liegt der Übergang, dass das dann wieder zerfällt und woanders hin geht. Diese Positionen sind schon sehr genau gesetzt. In diesem Durchspielen, in dem viel Feinjustierung ist, merkst du, wie das jeder auch begreift. Dann kommt wieder eine neue Phase. Das ist das Wissen über diese Gesamtökonomie. Dann definiert jeder die Lücken darin, weil jeder permanent sichtbar ist. Bei uns gibt es keinen Offstage. Das heißt, du bist nie im Off auch wenn du wie bei „designed desires“ deinen BH ausziehst oder die Schuhe anziehst – diese Handlungen sind präsent. Sie sind genauso wichtig wie der Mainact. Das bedeutet deine Präsenz zu hinterfragen, wer bist du da in dieser Präsenz, wie viele verschiedene Wechsel gibt es eigentlich von dem, wie du dich selber definierst? Und dann kommt der Prozess mit den Zuschauern, wo sich dann noch einmal Sachen verschieben. Wo man da merkt: Ok, die Leute reagieren so oder so. Die Aufführungen sind meist sehr, sehr unterschiedlich. Die Publikumsreaktionen sind ja gewissermaßen mitchoreographiert, wobei man nie weiß, was aufgegriffen wird. Dabei merkst du, wie dieser soziale Körper, der sich für zufällig für diese Aufführung zusammenfindet, Anwesenheit, Konzentration und Bedeutung erzeugt. Wenn drei Leute bei halbnackten Frauen geekelt wegschauen, macht das was anderes, als wenn alle fasziniert zuschauen. Diese Reaktionen informieren das Gesamte. Dann kommt noch dazu, dass die Darsteller alles sehen. Dadurch, dass sie nicht geschützt sind vor einem dunklen Loch, nennen wir es Zuschauerraum, ist jeder Moment sichtbar. Die Leute haben natürlich eine wahnsinnige Verantwortung, aufzunehmen, worum es gerade in dem Moment geht. Zum Beispiel ein Mann macht eine Performerin in der Aufführung an. Für sie stellt sich die Frage: Wie gehst du damit um? Wie deutest du das um, dass du Projektionen erzeugst und wie kannst du die wieder abstreifen?
Bestimmte Reaktionen sind im Vorfeld wahrscheinlich gar nicht einzuüben, weil unter Umständen bestimmte Aktionen gesetzt werden die gar nicht vorgesehen waren.
Man kann im Vorfeld auf gewisse Sachen vorbereiten. Es gibt immer Performer, die in ähnlichen Gesamtraumchoreographien bereits mitgearbeitet haben, die darauf schon vorbereitet sind. Ich versuche zu sensibilisieren, was welchen Unterschied macht. Einfach um ein Unterscheidungsvermögen zu haben, was auf dich als Spieler zukommt. Möglichkeiten zu haben, die Reaktionen einzuordnen und zu verändern.
Verschwimmt hier nicht die Grenze zwischen Schauspielerin- und Schauspielersein und privatem Sein?
Nein. Es gibt ja unterschiedliche Charaktere, die sich darin zeigen, wie sie mit Öffentlichkeit oder der jeweiligen Fragestellung umgehen. Manche sind zu Beginn schamhaft mit ihrer Stimme, andere deklamieren zu Beginn, wie man ein Gedicht deklamiert. Das Verstehen ihrer Position im Ganzen, über die Reaktionen und Wiederholungen die da passieren, generiert ein Wissen, das das Geschehen von Mal zu Mal reicher macht, obwohl der Ort trotzdem immer total fragil ist. Trotzdem bist du nicht als Privatperson dort, sondern die Weise, wie du dich dort räumlich verortest, wie du auf die anderen reagierst, wie du deinen Körper in bestimmten Situationen definierst, bearbeitest und einsetzt, ist ein sehr genaues Unterscheidungsvermögen, worum es im jeweiligen Moment geht. Diese Konzentration auf eine hergestellte Situation für alle ist wie der „andere“ Ort zu sich selber, in diesem öffentlichen Herstellen, der aber immer eine bestimmte Konzentration hat.
Um noch einmal konkret nachzufragen. Sie heben sich vom herkömmlichen Theater ja bewusst ab, suchen oft Orte, die außergewöhnlich sind und gehen in die Interaktion mit dem Publikum. Spielen die Menschen in ihren Stücken eigentlich noch Theater oder bleiben sie in ihren privaten Rollen?
Ich glaube weder noch. Spielen ist ja immer ein Vorzeigen von etwas Gewusstem. Es ist eher die Methode, die ich auch als Angebot an die Zuschauer stelle, dass in diesem Zeitraum der einzelne Körper oder der Körper im Verhältnis zu dem anderen Körper in eine Ausnahmesituation gerät. Es ist einerseits klar, dass es ein Spiel ist. Ein Spiel im Sinne einer nicht alltäglichen Übereinkunft, in dem aber die Übergänge zwischen dem Alltag und dieser besonderen Situation ständig brüchig bleiben müssen oder sollen, weil es eben keine Illusion ist. Man sieht, wie jedes Element sich herstellt. Es geht nicht um einen Effekt von etwas, sondern es ist das Herstellen von Versetzungen oder Veränderungen oder Verfremdungen, von Elementen zueinander, die man aber bewusst betreibt. Das heißt, es ist ein bestimmtes Bewusstsein vorhanden, das heißt aber auch in dem Ausführen bin ich kein anderer. Ich führe aber etwas aus, was ich sonst nicht unbedingt tun würde. Ich tue es in dieser Kondition des Spiels, aber ich weiß, ich tue jetzt diese Handlung in diesem Rhythmus, in dieser Konstellation mit den anderen, in dieser Situation mit den Zuschauern.
Sie erwarten von ihrem Publikum ja nicht nur körperliche Präsenz, mit der Sie wie mit einem Leitsystem arbeiten, sondern Sie wünschen sich ja auch, dass etwas beim Publikum ankommt. Ist das von Produktion zu Produktion etwas anderes oder gibt es eine Grundintention?
Ich glaube, mit ihrer Frage hängt auch ganz stark zusammen, warum ich NOCH Theater mache. Was mich daran interessiert ist, dass ich den Eindruck habe, man kann über eine zeiträumliche Vereinbarung Dinge mit und in der Gesellschaft anders bearbeiten, als man sie in den herkömmlichen Räumen ausverhandeln kann. Grundsätzlich zum Theater: Ich habe den Eindruck, man kann immer politisch und gesellschaftlich in diesen Kippmomenten arbeiten. Was mich interessiert ist, dass man nicht Wirkungen konsumiert, sondern Haltungen provoziert oder affiziert gegenüber dem, was gezeigt wird. Es werden somit nicht Sachen gezeigt oder hergestellt, mit denen man rundherum einverstanden sein sollte, im Sinne von: Das ist so schön, oder was auch immer, sondern es entstehen immer Konstellationen die für jedes Stück versuchsweise mit einer speziellen Methode vom Betrachter Haltungen oder Entscheidungen verlangen.
Gehört dazu ganz überspitzt dargestellt nicht auch ein sehr reflektiertes und elaboriertes Publikum?
Dazu würde ich Nein sagen. Das Schlimmste ist das halb-elaborierte, von sich überzeugte Publikum, weil das selten in der Lage ist, noch zu hören und zu sehen und wahrzunehmen.
Haben Sie dieses in Ihren Vorstellungen?
Ja, da gibt’s auch immer einige. Aber die sieht man, die erkennt eigentlich jeder sofort. Das ist das Schöne, dass das sehr transparent ist. Das was eigentlich notwendig ist, ist Neugierde. Ich glaube, dass die Neugierde nicht mit einem Bildungsgrad zusammenhängt, sondern mit der Furchtlosigkeit neugierig zu sein, wahrzunehmen und dem, was man wahrnimmt, zu vertrauen. Und eben nicht auf eine Autorität zu setzten, die einem erklärt, wie was jetzt zu laufen hat. Die Variabilität der Schlüsse respektiere ich und finde ich auch wesentlich. Die ist je nach Arbeit auch unterschiedlich groß.
Fühlen Sie sich durch die Reaktionen auch manchmal missverstanden?
Es gibt immer interessante Momente. Eines meiner Schlüsselelemente war, als wir „dominant powers. was also tun?“, mit einem arabischen Chor und unter komplett anderen Bedingungen in Tunis spielten. Das war im Rahmen eines Festivals, den „Journées Théâtrales de Carthage“ – die das Motto „Le théâtre fête la Révolution“ hatten. Das war sehr interessant festzustellen, wie kulturell konnotiert die Reaktionen und die Wahrnehmung des Publikums sind. Es gab eine Zuschauerbegrenzung, aber es waren mehr als doppelt so viele Leute in der Vorstellung. Und dann hast du gemerkt, dass meine Konvention eines aufmerksamen Zuschauers dem überhaupt nicht entsprochen hat. Die selbstkörperliche Orientierung der Leute war komplett anders, aber sie waren wahnsinnig interessiert. Sie waren unglaublich direkt und konkret. Das war auch deswegen im Vergleich interessant weil man hierzulande versucht, etwas als intellektuelles Theater zu labeln, nur weil man über bestimmte Sachen nachdenkt. Ich habe nichts gegen intellektuelles Theater. Es ist interessant, dass über die verwendeten Ästhetiken versucht wird, Ausschluss zu produzieren. Ich glaube aber, dass das woanders herkommt. Und das war dort etwas komplett anderes. In einer sehr unmittelbaren und fordernden Auseinandersetzung.
Das Thema der arabischen Revolution ist dort natürlich auch noch viel greifbarer und hat wahrscheinlich auch noch viel mehr aufgewühlt.
Ja. Es war total interessant zu merken, wie sind dort die Frauenkörper präsent, wie zeigst du die oder nicht. Zeigst du die anders, oder wie konfrontierst du sie mit deinem Standpunkt, der natürlich immer der Mitteleuropäische ist und bleibt. Das war natürlich ein Konflikt mit offenem Ausgang. Das ganze Verhalten hat überhaupt nicht dem entsprochen, was ich bis dahin gekannt habe. Das war Zero aufmerksames Theaterpublikum. Aber die Diskussionen und was dann alles daraus entstanden ist, hatte eine komplett andere Qualität und Dringlichkeit.
Wie kam es zu dieser Idee mit einer Produktion in ein anderes Land, mit einer anderen Sprache und einer anderen Sozialisation zu gehen?
Als wir „dominant powers“ gezeigt haben, hat die Produktionsleitung gefragt, was ich mir denn eigentlich wünschen würde, worauf ich geantwortet habe, dass ich das am liebsten in Kairo, Alexandria oder in anderen arabischen Ländern zeigen würde, um einfach meinen naiven Blick zu konfrontieren und prompt kam die Einladung. Ich glaube aber, dass jede Ästhetik immer kulturell und ideologisch ist. Das zu kapieren, wie relativ das ist und wie abhängig das von verschiedenen Umfeldern wie politischem Kontext, Übereinkünften etc. ist, das finde ich so gesund und grundnotwendig, weil man sich der Befragbarkeit oder auch Abhängigkeit der eigenen Äußerungen bewusst wird. „dominant powers“ war in Zagreb etwas komplett anderes als in Wien oder Tunesien. Den Vorschlag des Stückes habe ich je nach Umfeld verändert, das Grundskelett aber behalten. Am liebsten würde ich nur das tun.
Nach Asien zu gehen, oder nach Südamerika zum Beispiel?
Ja, weil du konfrontiert wirst. Du musst dich mit Sachen auseinandersetzen, die mit der Organisation zu tun haben.
Sie sind, was Ihre Stücke betrifft, in einer beneidenswerten Position, weil Sie und vielleicht noch Ihr Team die Einzigen sind, welche die komplette Übersicht über das Stück haben. Das Publikum kann ja nur immer ausschnitthaft sehen und teilhaben.
Ja, das stimmt einerseits. Aber im Grunde gilt das auch für das Team und für mich auch. Ich weiß natürlich, was ich produziere und ich kenne natürlich auch das Einzelmaterial, aber ich weiß natürlich nicht, was in dem jeweiligen Moment passiert, das weiß niemand. Aber ich glaube, das Wissen schreibt sich immer ein in die nächste Arbeit.
Halten Sie diese Erfahrungen, die sie in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten machen, irgendwie fest, schreiben Sie darüber?
Ja, natürlich. Für Lehrtätigen und Vorträge kommt der Moment, das zu ordnen. Dafür muss man sich selber ganz anders denken.
Anders denken im Sinne von: In die einzelnen Rollen, die man spielt, schlüpfen, je nach sozialem Kontext, in dem man sich befindet. Sich eines seiner vielen Ichs zu bedienen?
Ja, sich auch ganz verschiedener Grammatiken zu bedienen und auch mit ihnen zu spielen. Ich hatte da einen Vortrag in Schweden gemacht, in einem Institut für Rhetorik, mit verschiedenen Zugriffen. Und du merkst, dass von den Leuten nichts kommt. Da denkst du dann: Hallo, was ist hier eigentlich los? Und danach kamen sie alle und sagten, wie toll es war. Da merkst du, wie die Konventionen eben anders sind, das Setting ein anderes und eine total andere Mentalität. Und mir wurde dann gesagt, dass es total sensationell war, weil drei Leute etwas gesagt haben! Für mich sind auch Vorträge toll, oder unterrichten, weil es immer eine Chance ist, das ganze Material zu orten und so wiederzugeben, dass Leute, die das nicht erlebt haben, damit etwas anfangen können.
Ist permanentes Lernen, was Sie ja durch Ihre Arbeit erfahren, für Sie ein Motivator?
Ja, schon. Es ist ja der unfassbare Luxus, in diesem Chaos von Welt oder Politik oder Gegenwart oder Geschichte, in dem man sich befindet, einen Punkt herauszunehmen. Zu sagen, ich erlaube mir jetzt den Luxus, von diesem Punkt aus alles zu situieren. Ich kann für den Zeitraum einer Arbeit eine bestimmte Perspektive einnehmen, und wenn ich alles über diese Perspektive betrachte, stellen sich Verhältnisse anders her. Darin lernst du permanent über das, was wir Wirklichkeit nennen, über Arbeitsprozesse, wie etwas entsteht, wie man etwas zusammensetzt oder auch wieder entkleidet. Darüber passiert Erkenntnis, die aber eine andere ist als eine Bucherkenntnis, wenn man liest. Es ist ein anderes Wissen. Es geschieht auf einer Ebene von Körper, Zeit, Raum und Intellekt und die Verschränkung daraus. Und es ist immer eine Arbeit in der Gruppe, die auch dann auf die Gruppe der Zuschauer trifft.
Ihre Theaterarbeit ist eine sehr starke Körperarbeit.
Ja eine Körperarbeit, aber auch eine Denkarbeit. Und es ist ein bestimmter Handlungsraum in der Gesellschaft. Es ist nicht etwas, das man schön anmalt, sondern es ist eine Möglichkeit, Dinge nur in dem Medium des Theaters in seiner Existenz und Widersprüchlichkeit zu formulieren. Das ist in der Linearität z.B. eines Textes nicht machbar. Und es hat etwas damit zu tun, Bruchstellen aufzuarbeiten, die zueinander etwas eröffnen. Ich liebe das Theater, so wie ich es begreife. Mit all den tollen Leuten mit denen ich arbeiten kann und darf. Ich liebe es, das Theater neu zu erfinden und immer wieder neu definieren. In Wien ist es möglich, lustvolle Forschungsprojekte in diesem Medium zu entwickeln und sie auch zu zeigen. Aber zugleich ist man auch mit dem, was man macht, abgestempelt. Es ist ja langweilig, immer dasselbe zu machen. Die Arbeit bekommt dann auch einen gewissen Stil. Aber ich muss immer wieder mein Interesse infrage stellen und weiterentwickeln.