Das Figurentheater Lilarum arbeitet mit vier Figurenspielerinnen und einem Figurenspieler. Unsichtbar für die Kinder, aber unverzichtbar für jedes Stück.
„Silke und Joanna kommen später! Sie haben sich aus der U4 gemeldet, die gerade nicht weiterfahren kann.“ Es ist mittwochmorgens kurz vor 9 Uhr und es regnet in Strömen. „Immer dasselbe, kaum regnet es, steht die Stadt.“ Werner Malli vom Ensemble des Figurentheater Lilarum schaut auf die Uhr. Um 9 sollte eigentlich die erste Vorstellung beginnen, da kommt Entwarnung von einer Stimme aus dem Nebenraum: „Es fehlen auch noch drei Gruppen!“ Die stecken also auch irgendwo fest. Und so kehrt leichte Beruhigung in den Aufenthaltsraum mit angeschlossener Teeküche ein. Zwei der vier Puppenspielerinnen, Evgenia Stavroupulou-Traska und Silvia Lenz, sowie der einzige Mann des Ensembles, sind schon da. Ihr Outfit: Schwarze Hose, schwarzes T-Shirt mit weißer Lilarum-Aufschrift. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Joanna Proksch und Silke Graf, die noch in der U-Bahn festsitzen, sind sie die Truppe, die im Kindertheater im 3. Bezirk die Puppen und das Bühnenbild bewegen. Ihre Stimmen sind dabei nicht gefragt, denn die kommen samt Musik vom Band.
Für jede neue Produktion werden Schauspielerinnen und Schauspieler verpflichtet, die den Text im Studio auf Band sprechen. Die Truppe hinter und auch unter der Bühne, denn diese befindet sich eigentlich über den Köpfen der Spielenden, braucht also nicht textsicher zu sein. Und dennoch ist sie es. Denn was sie dort leistet, funktioniert nur, wenn jeder Griff und auch jeder Satz, ja jedes Wort zumindest im Geist sitzt. Eine falsche Bewegung, und der Zauber der Geschichte ist verloren.
Der Raum hinter der Bühne besteht aus einem Tisch mit darunter angebrachten Regalen. Auf ihm liegen die verschiedenen Puppen und kleine Requisiten, die für die jeweilige Inszenierung zum Einsatz kommen. Davor, bis hin zur Bühnenwand, ist das Bühnenbild auf metallenen Gestellen montiert, die mit Rollen ausgestattet sind. So können sie leicht hin- und hergeschoben werden. Alles muss wie in einem Uhrwerk geregelt ablaufen. Jeder einzelne Handgriff verzahnt sich mit dem der anderen. Was man denn für Eigenschaften haben muss, um hier zu arbeiten, frage ich. „Man muss sich gut konzentrieren können, reaktionsschnell und teamfähig sein und ein Gespür für Bewegungen mitbringen.“ Werner Malli weiß, wovon er spricht, er ist schon über 10 Jahre im Lilarum tätig.
Die Spielerin, die zuletzt zur Gruppe kam, ist auch schon vier Jahre dabei. Das bedeutet, dass alle die Stücke, die im Repertoire sind, gut kennen. Und doch braucht es eine Vorlaufzeit, wenn sie nach mehreren Monaten oder auch Jahren wieder ins Programm aufgenommen werden. Ein paar Probentage sind dann angesagt, mindestens drei Wochen sind es, wenn ein neues Stück einstudiert wird.
„Wir haben schon Präferenzen was die Stücke betrifft“, antwortet Silvia auf meine Frage nach Lieblingsinszenierungen, „aber ich glaube, das ist individuell.“ „Ich mag am liebsten Stücke, bei denen ich viel zu tun habe und solche, die Puppen haben, die kompliziert zu bedienen sind“, erklärt Evgenia. Mittlerweile sind auch Joanna und Silke eingetroffen und auch für sie geht sich noch ein schneller Kaffee aus, denn das Publikum ist noch immer nicht vollzählig. Als die Glocke dann doch rascher ertönt als erwartet, wird es plötzlich hektisch im bis dahin gemütlichen Aufenthaltsraum. Ich kann gar nicht so schnell schauen, haben sich alle durch die Bühnentür zu ihrem Arbeitsplatz beeilt und stellen sich in Position.
„Sie bleiben am besten hier stehen, wo Sie jetzt sind, da kann nichts passieren!“, werde ich noch leise zischelnd angewiesen und schon nach wenigen Augenblicken weiß ich, was mit „passieren“ gemeint ist. Denn schon kurz nachdem sich der Vorhang geöffnet hat, werden die ersten Kulissen verschoben. Wehe, wer hier im Weg steht. Erzählt wird an diesem Tag die Geschichte vom Bären Brumm und seinem kleinen Freund, dem Vögelchen Ostertier. Ich hatte mich zuvor noch erkundigt, ob diese Arbeit denn körperlich anstrengend sei, jetzt kann ich selbst sehen, wie sehr die Agierenden im Einsatz sind. Das Kulissenschieben ist da noch die geringste Anstrengung. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, wie lange ich denn eine der Stabpuppen überhaupt halten könnte, den Blick ständig nach oben auf sie gerichtet.
Wenn man sich das Geschehen hinter der Bühne in Ruhe ansieht, sofern man von Ruhe im hektischen Getriebe sprechen kann, dann zieht man automatisch Vergleiche mit einem Bienenschwarm. Ich nehme bestimmte Bewegungsmuster wahr, plötzlich ballen sich als Gruppe zusammen, laufen rasch wieder auseinander, gehen abwechselnd nach hinten zum Tisch, um Puppen abzulegen und neue aufzunehmen. Die Blicke verändern sich je nach Text und viele bewegen ihre Lippen synchron, wenn ihre Schützlinge etwas zu sagen haben. Anders als im Sprechtheater mit Schauspielerinnen und Schauspielern hat ein Fehler hier ungeahnte Konsequenzen, denn das Band mit der Sprachaufzeichnung und der Musik läuft beständig weiter, kann nicht auf kleine Unachtsamkeiten reagieren.
„Uns selbst ist noch nichts passiert, außer dass einmal ein Bühnenbild umgefallen ist, aber es kommt vor, selten, aber doch, dass einmal die Technik nicht funktioniert und das Band stecken bleibt. Das ist dann für alle lustig, auch für die Kinder. Die bekommen das dann ja auch mit, aber die lachen darüber immer!“, Joanna plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen. So einen Vorfall könnte man als Entzauberung ansehen, aber er entpuppte sich einfach als Live-Hoppala, welches das Erlebnis des Theaters eigentlich noch verstärkt.
An die rechte Bühnenwand gedrückt, verharre ich fast regungslos, denn jeder Zentimeter hinter der Bühne wird irgendwann auch einmal für das Abstellen von schon gebrauchten Prospekten benötigt. Aber da ich gerne sehen möchte, wie denn Brumm der Bär vom Zuschauerraum aus wirkt, mache ich mich nach 20 Minuten leise durch die Hintertüre davon. Am Ende des Stückes kommen alle zu einer kurzen Verbeugung vor die Bühne, die Kinder klatschen, aber nur wenige von ihnen wissen, warum sich diese Menschen jetzt eigentlich verbeugen. Denn Brumm der Bär ist Brumm der Bär und das Ostertier lebt jetzt wieder auf der Osterinsel. Komisch, oder? Na, man muss ja im Theater nicht alles verstehen!
Während die Kinder den Saal verlassen, wird es hinter der Bühne noch einmal betriebsam. Alles zurück auf Anfang heißt es da, denn in einer halben Stunde beginnt schon die nächste Vorstellung und dafür müssen die Puppen an ihrem Platz sein und die Schiebekulissen an ihrer richtigen Position. Dazwischen geht sich noch ein schneller Kaffee aus, wunderbar!
Sie sind jung, rotzfrech, haben jede Menge Energie und ihre eigene Vorstellung vom Leben. Fünf „Blutsschwestern“ zeigen im Dschungel Wien in welchem sozialen Spannungsfeld sich junge Frauen von heute bewegen.
Corinne Eckenstein, die designierte Leiterin des Hauses, hat dort abermals ein Stück choreografiert und in Szene gesetzt. „Blutsschwestern“ ist ein Aufruf zu einem selbstbestimmten Leben, zu einem Bekenntnis zu sich selbst aber auch zu einer Solidarität unter Frauen. Was offenbar am allerschwierigsten sein dürfte.
Denn die fünf Tänzerinnen – jede eine Klasse für sich – harmonieren auf lange Strecken überhaupt nicht miteinander. Vielmehr gibt es Szenen, in welchen jede gegen jede auftritt und Rempeleien schon einmal richtig handfest enden. Es gibt aber auch Momente, in welchen sich Lilie Lin, Sandra Müller, Maria Teresa Tanzarella, Caroline Weber und Yuri Yoshimura als eingeschworene Clique outen und anmerken, dass man als Blutsschwestern im Geiste nicht blutsverwandt sein muss.
Die Bühne kommt mit einem von der Decke bis zum Boden reichenden Kleiderturm und einem Aluminiumgestänge aus, das durch Scharniere zu unterschiedlichen geometrischen Formen verändert werden kann. Einige Requisiten wie zwei Waschmaschinentrommeln und zwei Holzschubfächer, viel mehr benötigen die Tänzerinnen nicht, um ihr Lebensgefühl über die Rampe zu bringen.
Und das besteht hauptsächlich aus Zorn und Aufbegehren, aber auch aus einer gehörigen Portion Nachdenklichkeit und dem absoluten Willen, auch gegen den Strom sein Leben selbstbestimmt leben zu wollen. „Baby ist nicht mein Name!“, ruft an einer Stelle eine der Performerinnen ins Publikum, in dem viele junge Männer sitzen. Die Botschaft dürfte wohl angekommen sein, denn obwohl in der besuchten Vorstellung sehr redefreudige Schülerinnen und Schüler saßen, gab es an dieser Stelle keine Äußerung dazu.
Eckenstein lässt jeder Tänzerin einen Freiraum mit einem Solo, in dem sich die jeweilige Persönlichkeit wunderbar spiegelt. So zeigt Caroline Weber, die als Rhythmische Gymnastin an zwei Olympischen Spielen teilgenommen hat, unglaubliche 55 Staatsmeistertitel errang und lt. Wikipedia-Eintrag „die erfolgreichste Gymnastin in der Geschichte des Österreichischen Fachverbandes für Turnen“ ist, in einer atemberaubenden Choreografie ihr Können mit dem Hula-Hoop-Reifen. Ganz nebenbei, so als wäre ihre Performance ein Spaziergang, erzählt sie von ihrer Rolle als Spaßvogel, sobald sie sich in einer Gruppe befindet, aber auch über Frauenratgeber, die einem vorgaukeln, wie frau zu sein hat oder auch nicht. Für Weber, die nach ihrem Ausstieg aus dem Profisport Schauspielunterricht genommen hat, ist es ihre erste größere Bühnenrolle, die ihr wie auf den Leib geschneidert erscheint.
Es sind drastische Bilder und derbe Worte, die in der Inszenierung verwendet werden. Zungen- und Achselfürze, Verbalinjurien in Richtung Publikum und Schreiduelle erlauben den jungen Zuseherinnen und Zusehern eine größtmögliche Identifikation. Oder bieten an unterster Stelle einen unerwarteten Spaßfaktor. Pädagogisch korrekt kann man die Inszenierung nicht bezeichnen, als solche will sie sich aber sicher auch gar nicht präsentieren. Spannend und abwechslungsreich sind die Kostüme von Andrea Simeon gestaltet. Meist tragen die Frauen mehrere Kleidungsschichten übereinander, in denen ein Mix- und Match zwischen männlichen und weiblichen Stilelementen zu erkennen ist. Die BHs, die zuoberst umgeschnallt werden, machen deutlich, mit welch panzerartigem Kleidungsstück sich Frauen auch heute noch ohne wirkliche Hinterfragung wie selbstverständlich behängen.
Tänzerisch agiert das Ensemble mal in Hip-Hop-Manier, dann mit jeder Menge gymnastischer Elemente, immer jedoch mit Tempo und einer Vielfalt an choreografischen Einfällen, die den Zeitgeist der tänzerischen Jugendkultur gut wiedergeben.
Dass Maria Teresa Tanzarella mit einer Ode an eine junge Mutterschaft aufhorchen lässt, ist richtig mutig. Widersetzt sich der Wunsch, jung Kinder zu bekommen, doch jeglichem Mainstream. Glückwunsch dazu von meiner Seite. Vor nunmehr schon 33 Jahren habe ich aus denselben Beweggründen diese Lebensentscheidung getroffen über die ich heute, als „junge“ Großmutter, unglaublich froh bin.
„Blutsschwestern“ bietet jede Menge Diskussionsstoff, nicht nur generationsübergreifend, sondern vor allem auch zwischen den Geschlechtern. Und es zeigt eines: Dass sich ein aktueller Stoff durch eine höchst ästhetische und spannende Choreografie an Jugendliche mühelos vermitteln lässt. Wo Tanz drauf steht, kann auch Spannung drin sein!
„La Linea – Der Traum vom besseren Leben“ erzählt im Dschungel Wien eine Geschichte von Flüchtlingskindern. Dabei gelingt es, die sonst oft nur nackten Zahlen über Millionen von Emigranten mit Schicksalen zu verknüpfen, die berühren.
Die Autorin des Textes, Ann Jaramillo, ist nahe am Geschehen. Verheiratet mit einem Mexikaner, gibt sie Englischunterricht für Migrantenkinder in Californien und weiß, wovon sie schreibt. Miguel und Elena sind Geschwister. 15 und 13 Jahre sind sie alt. Sieben Jahre ist es her, dass ihre Eltern sie bei ihrer Großmutter zurückgelassen haben. In Mexiko, in einem kleinen Dorf, das vom Austrocknen bedroht ist.
„La Linea – Der Traum vom besseren Leben“ erzählt die Geschichte der beiden Jugendlichen. KILLA – die Kultur/Nah/Versorger setzten sie im Dschungel in Szene. Es ist eine Geschichte, die von Flucht handelt. Und vom Traum, in den USA ein besseres Leben beginnen zu können. Dort, wo die Eltern sind und auf darauf warten, dass sie ihre Kinder zu sich holen können.
Der Plan, einen Schlepper einzusetzen, der sie über die grüne Grenze bringt, ist zwar gut vorbereitet, dennoch erleben die beiden auf ihrer Reise in den Norden lebensgefährliche Aktionen. Sie werden nachts überfallen, haben Glück, eine Reise auf dem Güterzug „la bestia“ gesund zu überstehen. Sie schließen sich einem Mann an, der ebenfalls ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten will und sie müssen zwei Tage und zwei Nächte durch die Wüste wandern.
Markus Emil Felkel setzt in seiner Regie auf klare Strukturen. Musik dort, wo es um besonders emotionale Momente geht, wie beim Abschiedsfest von der Großmutter. Eine expressive Lichtregie, eine klare Erzählstruktur von Miguel und ein hohes Tempo, was für die Mehrfachrollen von Deniz Baser und Pilar Aguilera eine wahre Herausforderung darstellt. Stefanie Darnesa in der Rolle der Elena und Benjamin Plautz als Miguel sind ein Geschwisterpaar, wie Millionen andere auch. Sie lieben und sie hassen sich und bleiben doch mit ihrer Geschichte eng aneinandergeknüpft. Vanessa Achilles-Broutin arbeitet im Bühnenbild mit großen Projektionen von Standbildern einerseits und zwei rollbaren Kleiderständern, behängt mit einer Unmenge an Klamotten. Ein kleiner Bühnenrollwagen – mehr braucht das Ensemble nicht, um die unterschiedlichen Locations glaubhaft darstellen zu können.
„Ich bin nur auf der falschen Seite der Grenze geboren“, sagt Miguel an einer Stelle und weist mit diesem einfachen Satz auf jene Problematik hin, die Millionen von Menschen weltweit betrifft. Im Moment ganz besonders auch solche, die aus dem Nahen Osten nach Europa fliehen müssen. Schon allein aus diesem Grund brennt das Thema von „La Linea“ unter den Nägeln.
Die allerneueste Produktion vom Figurentheater „Lilarum“ trägt den Titel „Bröckel und die Nus“. Eine spannende Geschichte über Mauerflecke, Geister und die beiden mutigen Kinder Marie und Tobias.
Wer ist Bröckel und was sind die Nus? Wer das erfahren möchte, findet die Antworten im Lilarum. Nicola Eller hat die Geschichte, die es auch als Buch gibt, geschrieben und Oliver Hangl ist für die Regie verantwortlich. Insgesamt 8 bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler, unter ihnen Mavie Hörbiger und Michael Maertens, liehen den Figuren ihre Stimmen. Dass das Stück auch mit viel Musik aufwartet, versteht sich fast von selbst. Von einem Swing über einen Tango bis hin zu einem Slowfox reicht die Palette der musikalischen Stilrichtungen – allesamt leicht ins Ohr gehend und mit Texten ausgestattet, die Kinder schon nach ein paarmal Hören mitsingen können.
Die Geschichte kreist um Mauerflecken wie Bröckel und Bröselina, die lebendig werden und sich in höchster Gefahr befinden. Denn wenn Raffzahn die Häuser aufkauft auf denen sie sich befinden, dann geht es ihnen an den Kragen. Die Freunde Marie und Tobias werden zu Komplizen der Phantasiegestalten und setzen alles in Bewegung, damit dies nicht passiert. Das Bühnenbild (Andrea Gergely) zeigt unterschiedliche Stadtlandschaften, vom Eingang eines Frisiersalons bis hin zu einer Straßenschlucht mit hohen, modernen Häusern. Ganz so, wie Kinder bei ihren Spaziergängen in Wien die urbane Umwelt wahrnehmen.
Ganz wie bei den Großen gibt es eine Theaterpause, schließlich muss man sich für das Finale auch noch ordentlich stärken. Und das wird auch richtig spannend. Die Hilfe der Kinder im Publikum ist gefordert, denn Raffzahn kann nur vertrieben werden, wenn es im Haus spukt. Wie das dann mit den Gespenstern wirklich ist, wird an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Ein phantasievoller Theaternachmittag für Kinder ab vier, nach dem man sich Mauerflecken garantiert anders ansehen wird.
Am 19. und 20. September gibt es im Anschluss an die Vorstellungen für Kinder ab 6 und ihre Begleitpersonen noch einen Architekturworkshop mit einem Ausflug in den Rabenhof.
Das Wiener Kindertheater gastiert bis zum 20. September mit den „Schlimmen Buben aus der Schule“ von Johann Nepomuk Nestroy im Muth. Eindrücke von einem Probentag mit ungefähr 50 Kindern und Jugendlichen, die die Bühne lieben.
„Alle ruhig und herhören!“ Mit lauter Stimme verschafft sich Sylvia Rotter inmitten einer aufgekratzten Kinderschar Gehör. „Ich möchte, dass ihr jetzt alle gut aufpasst. Was wir jetzt machen ist wichtig und wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Die Schauspielerin, die ihr Studium an der Royal Academy of Dramatic Arts in London absolvierte, ist die Leiterin des Wiener Kindertheaters, das alljährlich eine neue Produktion auf die Bühne stellt. Heuer sind es „Die schlimmen Buben in der Schule“ von Nestroy. Kinder und Jugendliche von 5 bis 18 Jahren machen dabei mit, nicht nach Altersklassen getrennt, sondern in einer einzigen Gruppe. Das verlangt Einfühlungsvermögen, aber auch Disziplin von der Leitung und Rücksichtnahme und gegenseitige Hilfestellung vom Schauspielnachwuchs selbst.
Geprobt wird das ganze Jahr über im 3. Bezirk. Am Wochenende vor Schulbeginn geht es dann in die Intensivphase. Gespielt wird mit zwei kompletten Besetzungen, dem Kindertheater gehören aber insgesamt ungefähr 100 Kinder an. Klarerweise gibt es eine Fluktuation, deswegen werden auch jedes Jahr neue Kinder aufgenommen. Ziel ist es, klassisches Repertoire so früh wie möglich zu vermitteln und Freude am Spiel und vor allem an der Sprache zu wecken. Anmelden kann sich, wer Lust zum Spielen hat, aber auch weiß, dass man dafür zu den Kursen und Proben kommen muss.
„Du bist noch immer zu wenig verständlich! Mach die Daumenübung zu Hause so oft du kannst!“ Rotter kommentiert einen kurzen Probenauftritt und zeigt einem Jungen während sie dies sagt, wie er beim Sprechenüben den Daumen in den Mund nehmen soll. Eine Probe funktioniert bei Kindern gleich wie bei Erwachsenen. Ausgestattet mit Skripten wird beobachtet, wie die Theaterleiterin mit Petrica Voicu auf der Bühne kurze Szenenausschnitte nachstellt. Wer sich unsicher ist, macht Notizen, um nichts zu vergessen. Voicu kommt aus Rumänien und hat sowohl hier in Wien aber auch in seinem Heimatland die Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen eine bühnenreife Körpersprache beizubringen.
„When Franz pushes your head it´s up to you to move it left and right!“ Petrica, wie ihn auch die Kinder nennen dürfen, spricht Englisch, was für niemanden der Schülerinnen und Schüler ein Problem bedeutet. Er zieht sich an seinem eigenen Schopf und wackelt mit dem Kopf hin und her. Als Schauspieler, Lehrer und Regisseur in Personalunion hilft er bei den Produktionen in Wien und ist auch in Rumänien für die Theaterprojekte zuständig. „Try to look like this!“ ermuntert er einen Buben und schon verzieht er nach einem Puffer, den er sich selbst zufügte, schmerzvoll das Gesicht. „Wampel, when you are very angry speak with closed teeth!“ „So, das machen wir jetzt alle, nicht nur die Wampels!“, motiviert Rotter die aufmerksame Truppe und schon sind die Mädchen und Burschen von den Sitzen aufgestanden und zischeln sich bei geschlossenem Gebiss furchterregend an. Auf diese Art und Weise schlüpft jeder einmal in jede Rolle und bekommt so ein besseres Verständnis dafür. Die verblüffendste Beobachtung ist, dass sich der Altersunterschied der Kinder nicht auf die Gruppendynamik auswirkt. Wenn eine Szene noch nicht sitzt, helfen sich alle gegenseitig. „Du, ihr habt euch in die falsche Richtung gedreht!“, oder „wir müssen am Schluss alle gleichzeitig von der Bank springen!“ – die Korrekturen erfolgen nicht nur von der Theaterleiterin, sondern werden von den Probenden auch untereinander durchgeführt.
Das Wiener Kindertheater, das bereits seit 21 Jahren besteht, hat drei Ableger in Rumänien. Involviert sind die Städte Bukarest, Oradea und Kluj. Es gibt sowohl Gastspiele, als auch einen regen kulturellen Austausch zwischen den Lehrenden. Julia Meinx zeichnet für die musikalische Ausbildung verantwortlich und begleitet die kurzen Couplets am Klavier. „Großartig, wirklich großartig, du bist ein richtiges Talent. Extrem musikalisch, das hat mir sehr gut gefallen“, wird ein Mädchen nach ihrem Auftritt gelobt. Dass ein solcher Ansporn strahlende Augen hervorruft, versteht sich von selbst. Wenn eine Leistung gut war, dann wird sie von der Theaterregisseurin auch dementsprechend honoriert. Die Kinder können selbst sehr gut zwischen schlechten und guten Auftritten unterscheiden, sehen auch selbst die unterschiedlichen Begabungen. Je authentischer hier Lob und Tadel verteilt werden, je gerechter die Statements sind, umso mehr Akzeptanz finden diese auch beim Schauspielnachwuchs.
„Diejenigen, die bei der Premiere spielen, gehen bitte umziehen und schminken. Die anderen rasch, rasch auf die Bühne, wir sind bereits 12 Minuten zu spät!“ In wenigen Augenblicken leert sich der Zuschauerraum im Muth, in dem sich bis dahin die Kinder beider Besetzungen befunden haben. Während die einen intensiv weiter proben, fassen die anderen ihre Kostüme aus. Wie die Großen gehen sie damit in die Garderobenräume, um sich umzuziehen und anschließend aufs Schminken zu warten. „Das letzte Mal hatte ich eine grüne Hose, die hat super gepasst!“ „Na, dann nehmen wir die wieder, wenn du das sagst, wird das schon stimmen.“ Die Garderobiere holt aus einem Stapel gefalteter Hosen eine grüne heraus und schon ist einer der „schlimmen Buben“ sichtbar zufrieden.
Beim ersten Gesamtdurchlauf in Kostüm und Maske ist die Überraschung groß. Da gibt es echte Talente, sowohl unter den Volksschulkindern als auch unter jenen, die bald maturieren. Peter Petersil wird von Antonia Fulmek, einem zarten, kleinen weiblichen Dreikäsehoch mit roter Perücke dargestellt. Herzerfrischend, wie sie den Lehrer Wampl mit verstellter Stimme an der Nase herumführt. Unglaublich, wie stimmgewaltig, ausdrucksstark und selbstbewusst sich Franz-Josef Ertl-Egger als Willibald präsentiert. Zum Staunen, wie professionell Clara Wolfram in die Rolle von Franz dem Schulaufseher schlüpft. Als schlankes, groß gewachsenes Mädchen spielt sie diesen in einer Hosenrolle. Da sitzt jede Geste, jede Mimik und an der Artikulation gibt es auch nichts auszusetzen. Zum Brüllen, mit wie viel Dummheit Jakob Loudon seinen Stanislaus angelegt hat. Sind das die neuen Stars von morgen?
Das gemeinsame Arbeiten in einer Gruppe, die Erfahrungen rund um eine Theaterproduktion, das Stehen im Rampenlicht, der Applaus, aber auch die vielen, vielen Probenstunden sind prägende Ereignisse. Die eine oder der andere wird vielleicht wirklich einmal Schauspiel studieren. Für alle aber, egal welchen Beruf sie einmal ergreifen werden, bedeutet das Mitmachen eine Schule fürs Leben.
Inge Kaindlstorfer leitete den ImPulsTanz-Workshop für die Allerkleinsten. Eine Woche lang lernten die „Tanzzwerge“ was es heißt, sich in einer Gruppe tänzerisch auszudrücken. Aber auch, dass man seinen eigenen Tanzschritten vertrauen darf.
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„Musst du wirklich weg, Mama?“, „Papa, wartest du draußen auf mich?“, „Warum ist die Türe noch nicht offen?“, nur drei von vielen, vielen Fragen, die die allerkleinsten Tanzbegeisterten vor der ersten Stunde – mit Inge Kaindlstorfer – stellen. Ihr Workshop, veranstaltet vom ImPulsTanz, beginnt in wenigen Augenblicken und noch ist an diesem Montag im Juli für die 4 bis 6-Jährigen alles unklar.
Nach und nach kommen sie mit ihren Mamas, Papas, Onkeln, Tanten, Omas und Opas in den Dschungel Wien und lernen gleich: „Solange die Türe zu ist, bitte noch warten“. Das erklärt ihnen eine der Dschungel-Mitarbeiterinnen und schon wissen alle: Anarchie hat hier nichts zu suchen. Auch wenn viele schon am liebsten in den Saal stürmen würden, Geduld ist eine Tugend, die man schon früh lernen muss. Umgezogen wird vor oder im Saal oder in der kleinen Kabine, die neben dem Raum liegt, in dem die tanzwütigen Zwerge morgens von 9 bis 10 eine ganze Woche Spaß haben werden. Denn, das ist schon nach der ersten Stunde klar, als sie wieder aus dem Saal stürmen, Spaß haben sie tatsächlich. Begonnen wird täglich mit einer Begrüßungszeremonie. Ein kleines, verknotetes Stofftüchlein wird von einem Kind zum anderen geworfen. Jedes, das es fängt, sagt dazu seinen Namen – klar, dass dieser von den anderen gleich wiederholt wird. So geht das mit dem Namen-Merken leichter. „Repetition ist he mother of skill“, das gilt nicht nur für das Tanzen an sich. 12 Namen zu memorieren, kann man meist erst nach einer Woche einwandfrei, dann sitzen sie aber. Auch bei Kaindlstorfer und ihrer Assistentin Romana Saibel. Sie ist nicht nur dazu da, mit den Kindern mitzutanzen, sondern hilft auch, wenn einmal die Toilette rasch aufgesucht werden muss, oder die Konzentration bei der einen oder anderen nicht ganz durchhält.
Diesen Kurs belegten ausschließlich Mädchen, ein gängiges Phänomen. Schade, denn die „Tanzzwerge“ sind nicht geschlechterspezifisch ausgerichtet. Die Freude an der Bewegung steht im Vordergrund: Hüpfen, springen, laufen, verschiedene kleine Choreografien nachprobieren. Sich auf den Boden legen und damit eine Wiese imitieren, wie eine Katze mit dem Popo wackeln oder als kleine Maus über den Boden flitzen – auch Buben würde das Spaß machen. Was am ersten Tag noch länger dauert, die Verabschiedung von den Begleitpersonen, ist ab dem zweiten Tag kein Problem mehr. Vertrauen ist gewonnen und die Kleinen wissen nun bereits, was sie erwartet.
„Miau, miau hörst du mich schreien!“, gemeinsam singen sie schon am Dienstag das Katzen-Kinderlied und bewegen sich dabei höchst kunstvoll. Sie recken und strecken sich, imitieren mit ihren kleinen Händen Katzenohren oder ein Dach über ihren Köpfen und lassen die Arme und Hände ganz in Schwanz-Manier hinter ihrem Rücken wedeln. Kaindlstorfers Ansatz für die ganz Kleinen ist ein ganzheitlicher. Sie „vertanzt“ mit ihnen Kinderlieder, die gleichzeitig von ihnen gesungen werden und deren Sinn tanzend ausgedrückt wird. „Jetzt sucht sich jeder eine Wand!“ – rasch werden die unterschiedlichen Aktionen hintereinander getaktet. So entsteht kein Leerlauf, aber auch nicht die Gelegenheit, mit eigenen Faxen den Unterricht zu kippen. „Ich arbeite mit den Gruppen so, wie ich es auch mit Erwachsenen mache. Der Unterschied liegt nur darin, dass ich mit den Kindern anders spreche. Ich liebe es, sie als gleichwertige Tänzerinnen und Kollegen zu betrachten und freue mich zu sehen, dass sich in einer Woche in der Gruppe unglaublich viel entwickeln kann.“ Es dürfte diese respektvolle Herangehensweise sein, die die Vorschulkinder instinktiv spüren und sie ganz bei der Sache sein lässt.
„Ich unterrichte Kinder schon seit 10 Jahren und habe da natürlich eine Sicherheit und Routine darin“, erklärt die Tanzpädagogin, Tänzerin und Choreografin in einem Gespräch. Aber man merkt ihr das in ihrem Unterricht auch an. Wenn das Geschnatter laut wird, senkt sie die Stimme. Rasch wird es wieder ruhig. „Fersen an die Wand!, Haare an die Wand!, Ellbogen an die Wand! Kopf an die Wand!“. Es ist erstaunlich, wie Kinder die einfachen Aufforderungen unterschiedlich ausführen können. Allein „Kopf an die Wand“ wird in viererlei verschiedenen, persönlichen Interpretationen ausgeführt und Kaindlstorfer lässt alle gelten. „Da ich selbst von der Kontakt-Improvisation komme, versuche ich auch, die Kinder selbst frei tanzen zu lassen.“ Die Kreativität, die hier ausgelebt werden darf, macht nicht nur den Kindern Spaß, sondern auch ihr selbst. „Die tollsten Momente sind die, in denen Kinder Bewegungen ganz aus sich heraus zeigen, die einzigartig sind. Das hat etwas Magisches an sich. In einer Choreografie der Tanzzwerge habe ich zum Beispiel einen Sprung eingebaut, den ich von einem Kind in einem früheren Kurs abgeschaut habe.“
Die obligatorische Frage der Eltern, was denn in der Stunde gemacht worden sei, wird von den Tanzzwergen ganz simpel und effektiv beantwortet: „Das ist ein Geheimnis!“. So kann man sich die lästige Fragerei auch vom Leib halten! Umso größer ist das Erstaunen der Erwachsenen schließlich am allerletzten Tag bei der Vorstellung selbst. Lia, Mascha und Izza, drei Mädchen, die sich jeweils nach der Übungsstunde zusammengefunden haben, um gemeinsam noch zu jausnen und zu spielen, zeigen sich, wie alle anderen auch, von ihrer bravsten Seite. So kennen sie Mama und Papa gar nicht. Still wie die Mäuschen empfangen sie das Publikum im Sitzkreis mit Tüchern ausgestattet und schon geht es los. Kaindlstorfer gibt kurze Anweisungen, die Tücher werden in die Luft geworden, im Laufen wieder aufgefangen, sie werden im Takt zierlich bewegt und schließlich ruck zuck wieder abgegeben. Die „Köpfe-Fersen-Haare-an-die-Wand“ Choreografie funktioniert wie am Schnürchen, sehr zur Belustigung des Publikums. Dabei steckt die Idee dahinter, den Kindern ganz spielerisch und natürlich die einzelnen Körperteile bewusst zu machen. Als Höhepunkt singen und tanzen sie alle schließlich gemeinsam Schuberts Forelle.
Auf die Frage, was Kaindlstorfer denn in einer Woche Tanz mit den Kleinsten wichtig ist, kommt die Antwort prompt: „Den Kindern Vertrauen in sich selbst zu geben, ihre Selbständigkeit zu fördern, sie in der Gruppenarbeit zu unterstützen, damit sie lernen, zuzuhören und sich gegenseitig in der Andersartigkeit zu respektieren.“ Ziel erreicht!, kann man nach der für alle höchst aufregenden Show nur hinzufügen. „Unglaublich, was sie in dieser Woche gelernt haben“, einer der Väter drückt im Anschluss an die Vorstellung seine Bewunderung auf diese Art und Weise aus. Ein allerletztes Mal verabschieden sich die Nachwuchstänzerinnen von ihrer Mentorin und ihren neu gewonnen Freundinnen. Dann geht es wieder hinaus in den Alltag. In 15 oder 20 Jahren werden sie sich einmal dank der neuen Handytechnologie mit Kamerafunktion, die alle Zusehenden während der Schlussaufführung perfekt beherrschten, an diesen aufregenden Tag und die intensive Tanzwoche zuvor zurückerinnern können.