Offene Türen beim Festival Musica

Offene Türen beim Festival Musica

porte ouvert

Offene Türen beim Festival Musica (c) Philippe Stirnweiss

Der erste Sonntag des Festival Musica stand ganz im Zeichen der „portes ouvertes“, der offenen Türen. Zwischen 14 und 18 Uhr hatte das Publikum die Möglichkeit, bei freiem Eintritt in den Konzertsälen des Konservatoriums aus dem Angebot von insgesamt 22 Konzerten zu wählen. 4 Konzerte konnte man bei geschicktem Timing hintereinander genießen und die Bandbreite des Dargebotenen hätte breiter nicht sein können. Von Klassikern wie Luciano Berio, Mauricio Kagel oder John Cage über junge Komponisten wie Bruno Mantovani oder Johannes Maria Staud war der Bogen breit gespannt. Neue Höreindrücke standen länger Bekanntem gegenüber und wie immer war der ganze Nachmittag von einer Leichtigkeit und Heiterkeit getragen, die ansteckend wirkte. Musikstudenten des Konservatoriums traten ebenso auf wie arrivierte „Stars“. Eine der größten Entdeckungen war Carlo Rizzo, der gemeinsam mit seinem Freund, dem Pianisten und Komponisten Henry Fourès, welcher bis 2009 der Rektor des Konservatoriums in Lyon war, auftrat. Der aus Italien stammende Rizzo hat das Tamburin zu einem multiklangfähigen Instrument weiterentwickelt, das er in Perfektion beherrscht. Damit erzeugt er ein Klangvolumen, das einer kompletten Schlagzeugbatterie gleicht und noch darüber hinaus geht. Seine Virtuosität ist atemberaubend und es bleibt zu wünschen, dass dieses tolle Instrument weite Verbreitung findet.

Mantovani ®Philippe Stirnweiss

Bruno Mantovani bei den "portes ouvertes" des Festival Musica (c) Philippe Stirnweiss

Bruno Mantovani, einer von Frankreichs jungen Komponistenentdeckungen, machte sich am Flügel über Geschmacksinterpretationen verschiedener elsässischer Weine her. Die Winzerfamilie Greiner, die 1 Crémant und 4 Weine zur Verkostung mitgebracht hatte und die geschmacklichen Charakteristika jedes edlen Tropfen eingangs erklärten, war sichtlich berührt, als Mantovani ihre Weine in Töne verwandelte. Ein ähnliches Experiment war schon im Vorjahr mit dem Werk „Lagrein“ von Johannes Maria Staud zu hören, in welchem er das geschmackliche Feuerwerk eines Südtiroler Rotweines in Musik für ein Quartett umgesetzt hatte.

Ein Konzert mit vier Werken von John Cage, dargeboten von Studenten, zeigte wunderbar, wie Kinder offen und richtig auf Musikpersiflagen reagieren. Während das Publikum der Interpretation von „Fontana Mix et Aria“ noch mit ernsten Gesichtern angestrengt lauschten, begannen die Kinder, die sich vor die erste Reihe am Boden gesetzt hatten, bereits laut zu lachen. Das Gurgeln des Klarinettisten und katzenartige Jammern des Sängers entlarvten sie vor allen Erwachsenen sofort als puren Spaß. Leandro Marziotte, der junge Countertenor, überraschte dabei einige Zuhörer mit seiner für einen Countertenor so charakteristischen Stimmlage und bot auch mimisch eine wunderbare Performance.

Am Schluss des Nachmittages stand noch ein jazziger Ausklang im bis auf den letzten Platz gefüllten Café auf dem Programm. Ein schönes Zeichen, dass Straßburg nicht nur mit offenen Türen, sondern vor allem auch mit offenen Publikumsohren aufwarten kann.

Love and other demons

Love and other demons

Französische Uraufführung der Oper von Peter Eötvös in Straßburg

5 Love and Other Demons © Paul Leclaire

Love and other demons von Peter Eötvös (c) Paul Leclaire

Das rote Haar fließt herab bis zu den Knien. Der weiße Leib ist unschuldig und zugleich voller Anziehungskraft. Er bleibt es von Beginn bis zum Schluss. Sierva Maria, das Kind an der Schwelle zur jungen Frau, das im Namen Gottes gedemütigt und seiner Identität beraubt werden soll, erhält sich ihre Reinheit auch in der seelezerfressenden Umgebung eines kolumbianischen Klosters im 18. Jahrhundert. Ihr zur Seite steht Pater Cayetano Delaura. Obgleich er beauftragt wurde, Sierva Maria, die in Folge eines Tollwutbisses erkrankt war, zu exorzieren, siegt seine Liebe zu dem Mädchen. Dennoch kann er es vor diesem grausamen, am Ende des Stückes stehenden Rituals, nicht schützen.

Dass das Werk des Komponisten Peter Eötvös, das auf einem Roman von Gabriel Garcia Márquez basiert und in ein extrem stringentes Libretto von Kornél Hamvai gegossen wurde, eine derartige zeitliche Aktualität erhalten würde, wird sowohl dem Autor als auch dem Komponisten nicht bewusst gewesen sein. Die Missbrauchsskandale, welche die katholische Kirche derzeit erschüttert, waren in den 90er Jahren, als der Roman entstand, noch kein Thema. Hundertfach wurden Kinder geschändet, wenn auch nicht im Namen Gottes, das Umfeld jedoch machte sich genauso schuldig wie jenes von Sierva Maria. Wie der aktuellen Situation jedoch zum Hohn, wird in „Love and other demons“ die Liebe des Priesters zu seiner kindlichen Schutzbefohlenen nachvollziehbar, ja bleibt sogar die einzig rühmliche Handlung.

Abgesehen von dieser Zeitaktualität jedoch hält die Oper noch weiteren, sozialen Brennstoff bereit. Was ist Identität und wer hat das Recht, diese einem Menschen abzusprechen? Gibt es eine richtige und eine falsche Abstammung? Gibt es einen wahren Gott und viele andere, falsche Götter? Wie weit geht der Versuch, sich gegen Autoritäten aufzulehnen, wenn man weiß, dass diese im Unrecht sind? Letztere Frage stellt sich in Zusammenhang mit Abrenuncio, dem Doktor, der genau weiß, dass Sierva Marias Tage gezählt sind und ihrem Vater, Don Ygnacio rät, ihr alles Schöne angedeihen zu lassen, was nur immer in seiner Macht steht. Als er jedoch erkennt, dass dieser seine Tochter in religiöser Verblendung lieber dem Nonnenkloster anvertraut, erlischt in ihm jeder Widerspruchsgeist. Er trägt hiermit genauso Mitschuld wie all jene, die aktiv gegen Sierva Maria im Kloster vorgehen.

Peter Eötvös` Musik geht eine intime Freundschaft mit dem gesungenen Wort ein. Niemals wird sie zum Selbstzweck, immer steht sie im Dienste der Erklärung oder der Emotionen, mit welchen die Charaktere jeweils zu kämpfen haben. Seine glasklare Interpretation lässt streckenweise vergessen, dass ein ganzes Orchester im Graben sitzt. Vielmehr sind große Passagen mit Ensemblequalität ausgestattet. Sierva Maria entzückt in ihrer Unbefangenheit mit großen Tonsprüngen, die sie auch körperlich umsetzt. Ihr jugendliches Hüpfen, ihre Ausgelassenheit verliert sie erst, als sie selbst zu lieben beginnt. In diesem Moment wechselt sie auch in eine andere musikalische Sprache. Lyrisch erklingt plötzlich ihre Stimme, als ob sie Delaura mit warmer Liebe übergossen und gezähmt hätte. Immer dann, wenn die tragischen Momente überhand nehmen, verdichtet sich der Tonsatz und die Lautstärke schwillt dramatisch an. Jede der Figuren erhält im Laufe des Abends nicht nur ihre eigene Arie, sondern auch eine eigene Färbung, die sie, auch wenn man das Bühnengeschehen nicht mitverfolgen würde, wieder erkennbar macht. Am Premierenabend selbst am Pult, leitete der Komponist das OPS, das Orchestre Philharmonique Strasbourg. Dieses agierte, als ob es mit Eötvös Musik auf du und du stünde und zeigte so wiedereinmal seine flexible Intelligenz und Geschmeidigkeit.

Das Bühnenbild von Helmut Stürmer, genial einfach und dennoch abwechslungsreich, wird durch Video- und Fotosequenzen ergänzt, mit welchen die Wände des bröckelnden Palastes oder des Nonnenklosters in tropische Regenwälder, surreale Traumsequenzen oder mikroskopische Abläufe von Zellfunktionen getaucht werden. Andu Dumitrescu gelingt mit diesen Filmen ein Crossover in die bildende Kunst, ohne dass dies je bemüht wirkt. Der Schneesturm in den Tropen, der den Tod des jungen Mädchens ankündigt ist ebenso schlüssig interpretierbar wie die Traumsequenz, in welcher die junge Frau nackt durch die Lüfte fliegt. Der tollwütige Hund, der mit großen Augen ins Publikum blickt oder die hellen Schmetterlinge, die Sierva Marias Unschuld und ihren Freiheitsdrang optisch unterstreichen, sind nur zwei von mehreren gelungenen Einspielungen.

Don Toribio, der Bischof der Stadt, Josefa Miranda, die Äbtissin des Klosters und Martina Laborde, die dort festgehaltene Mörderin bilden ein Triumvirat des Grauens. Ihr religiöser Fanatismus, wohlig eingebettet in eine allgemeine soziale Akzeptanz, wird Sierva Maria zum Verhängnis. Die Verdrängung alles Sexuellen rächt sich bei ihnen und allen Nonnen in dem Moment, in welchem dem Mädchen der Teufel ausgetrieben werden soll. Sie alle fallen in exstatische Zuckungen und sind ihrer eigenen Sinne nicht mehr Herr. Trotz des starken Bildes, in welchem die Äbtissin das weiße Hemd des Kindes mit Blut beschmiert, spielt Silviu Purcarete, der für die Regie verantwortlich zeichnet, nie mit einem vordergründigen Voyeurismus. Dem Publikum bleibt eine platte Zurschaustellung von körperlichen und seelischen Verwundungen erspart; alles Leid wird nur durch die Musik und den Text ausgedrückt. Und es ist kein Paradoxon, dass gerade diese homöopathische Dosis subtiler auf das Empfinden des Publikums wirkt als würden Folter und körperlicher Verfall anschaulich wiedergegeben werden.

Dominga de Adviento, die schwarze Ziehmutter Sierva Marias ist die einzige, die beständig mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt. Ihre Naturreligion, die sie an das Kind weitergegeben hat und welche gleich zu Beginn durch einen wundersamen Stammestanz ihrer Sippe ausgedrückt wird, leistet Sierva Maria in ihren letzten Minuten seelischen Beistand.

Die realismusüberhöhten Kostüme, ebenfalls von Helmut Stürmer, überzeugen völlig und verstärken den historischen Bezug zu Ort und Zeit des Geschehens. Alle Sängerinnen und Sänger stehen, was in Opernaufführungen extrem selten ist, gleichwertig nebeneinander auf der Bühne. Jede einzelne Stimme war untadelig, jede Interpretation glaubwürdig und berührend. Allison Bell als Sierva Maria kann wohl als Traumbesetzung bezeichnet werden. Nicht nur stimmlich ein Genuss, ist es vor allem ihre jugendliche Ausstrahlung, die in dieser Rolle besticht. Robert Brubaker als in der Vergangenheit gefangener Don Ygnacio, Miljenko Turk als liebender Delaura, André Riemer in der Rolle des Abrenuncio und Sorin Draniceanu mit seinem glasklaren Bass, der sich so gut an die Rolle des Don Toribio schmiegt, zeigten neben ihrem stimmlichen auch ihr schauspielerisches Können. Susan Bickley als gestrenge Äbtissin Josefa Miranda, Jovita Vaskeviciute als Dominga de Adviento, die in großem, weißem Reifrock mit bunter Kopfbedeckung schon andeutet, welche persönliche Spaltung sich in ihrer Ziehtochter fortsetzen wird und schließlich Laima Jonutyte als kriminelle und halb verrückte Martina Laborde stehen als konträre – aber nichts desto trotz persönlich gefestigte – Urgesteine auf den beiden Seiten der Gesellschaft.

Eine rundum gelungene Opernaufführung in Straßburg im Rahmen des Festival Musica, sehens- und hörenswert!

Gemischte Kost

Gemischte Kost

Iannis Xenakis, Oscar Bianchi und Peter Eötvös beim Festival Musica

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Der Komponist Oscar Bianchi (c) Philippe Stirnweiss

Das erste große Orchesterkonzert am 24. September 2010 im Rahmen des Festivals Musica wurde dem jungen Komponisten Christophe Bertrand gewidmet, der an diesem  17. September im Alter von 29 Jahren in Straßburg verstarb.

Vielleicht war es dieses Wissen, welches das Publikum an diesem Abend verhaltener agieren ließ als es sonst der Fall ist. Vielleicht lag es aber auch an einer Programmänderung, die kurzfristig durchgeführt werden musste. Johannes Maria Stauds Werk „On comparative Meteorology“ fiel laut der Aussage des Veranstalters leider  dem französischen Generalstreik zum Opfer, der einen Tag zuvor ganz Frankreich partiell lahm gelegt hatte. Stattdessen erklang Iannis Xenakis Auskoppelung „Peaux“ aus seinem Werk „Pleiades“ aus dem Jahre 1978. Eine Arbeit für 6 Schlagwerker, die an diesem Abend vom Straßburger Konservatorium gestellt wurden. Dass die Komposition nun schon über 32 Jahre auf ihren Schultern trägt, ist ihr anzuhören, von einem Neuigkeitswert seitens einer größeren Percussionformation kann man nicht mehr sprechen. Kennzeichen des Werkes ist eine wechselndes Rhythmusführung in den unterschiedlichen Stimmen, zugleich auch die künstlerische Herausforderung desselben, im Wechsel mit Unisonoparts, die durch die Intensität der Schläge und der großen Instrumente auch den großen Saal Erasme zum Dröhnen brachten.

Nach dem ersten Trommelfeuer hatte der junge Komponist Oscar Bianchi seinen großen Auftritt. Ajna Concerta aus den Jahren 2009/10 wurde vom Orchestere philharmonique de Radio France uraufgeführt.  Der am Pult stehende Pascal Rophé agierte als getreuer Statthalter des Komponisten, der durch seine klaren Einsätze und Anweisungen den Musikern sicheren Halt bot. Bianchis Stück ist einem Zyklus entnommen, in welchem er sich mit universellen menschlichen Herausforderungen beschäftigt. In Ajna Concerto ist es die Frage nach Richtig und Falsch. Dass er auf einen historischen Klangapparat wie ein großes Orchester zurückgreift, ist das erste Mal. Seinem Werk ist ein hoher Wiedererkennungswert bescheinigt, immer wiederkehrende Glissandi und Ostinate ahmen einen Sprechrhythmus nach, der sich erst am Ende des Stückes in Nachdenklichkeit verliert. Zuvor jedoch durchbraust eine Unrast, eine Hektik und Unwohlsein das Stück, wird mit Pauken und Trompeten eine Zerrissenheit performiert, ja zelebriert, die sich nicht an melodischen, sondern an rhythmischen Gerüsten zeigt.

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Peter Eötvös (c) Philippe Stirnweiss

Peter Eötvös, der um eine Generation ältere Komponist, war zu Ende des Konzertabends mit seinem Werk Atlantis aus dem Jahre 1995 vertreten. Leichte Abänderungen in der Partitur, ein Arbeitsmittel, welches der Komponist immer wieder anwendet,  machten es möglich, das Werk als „definitive“ Uraufführung anzukündigen. Eötvös erarbeitete hier über ein Gedicht von Sándor Weöres eine dichte und zugleich klar nachvollziehbare Komposition, die stark von der Aufteilung der Musiker im Raum selbst lebt. Er bezeichnet es selbst als Oratorium für Bariton, Kinderstimme, Cymbalum, virtuellem Chor und großes Orchester.  Mit dem links, rechts und hinter dem Publikum platzierten Percussionisten, sowie einer „verkehrten“ Aufstellung der Streicher und Sänger, die sich im hinteren Bühnenteil befinden, sowie dem Einsatz von eingespieltem Soundmaterial, welches aus großen, über der Bühne schwebenden Boxen zu hören ist, gelang ihm in dem dreisätzigen Werk eine wunderbare Verschränkung von herkömmlichen und neuen orchestralen Klangerlebnissen.  Er nutzt die Klangfülle des erweiterten Instrumentariums jedoch innerhalb eines streng von ihm vorgegebenen Regelwerkes, das auch immer wieder an historische Konzertstrukturen erinnert. So zum Beispiel der Einsatz der beiden Singstimmen. Christian Miedl entlockte seinem Bariton ohne Mühe immer wiederkehrende Oktavsprünge in tenorale Höhen. Ihm Stand hielt die klare Kinderstimme von Antoine Erguy, eines Eleven des Kinderchores von Radio France, der damit souverän über verhältnismäßig lange Strecken die kindliche Unschuld wie auf einem Präsentierteller darbot. Eötvös Komposition, angesiedelt zwischen Ortsangaben und seelischen Raumtiefen kann sicherlich schon jetzt zu den Klassikern des derzeitigen Musikgeschehens gezählt werden.

Von Untoten und lebendigen Orgeln

Von Untoten und lebendigen Orgeln

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Wolfgang Mitterer bei der Begleitung zu Nosferatu (©Casa da Musica : Joao Messias14)

Das Festival Musica eröffnete mit einem Konzert in Saverne am 21. September seine Pforten. In Straßburg selbst erlebte das Publikum die erste Aufführung dieser Saison zwei Tage später. Der österreichische Komponist und Organist Wolfgang Mitterer „bespielte“ den Stummfilm Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahre 1921 an einem dafür sehr reizvollen Ort. Die Aula der Universität aus dem 19. Jahrhundert, erbaut unter dem damaligen Herrscher Wilhelm, bot eine adäquate Kulisse. Die Musikuntermalung zu dem ehemaligen Gruselschocker nannte Mitterer „eine Symphonie des Grauens“ . Und das nicht zu Unrecht. Live an einer kleinen Elektroorgel, unterstützt mit digitalem Material, welches den Teppich zum Film legte, zauberte Mitterer vor allem eine Verstärkung jener Emotionen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Auch jene Szenen, in welchen der junge Hutterer, dessen Frau sich schließlich dem blutrünstigen Vampir opfert, um die Stadt zu retten, mit dieser in trauter Zweisamkeit verbringt, unterlegte Mitterer mit dunklen, ahnungsvollen Klängen. So entließ er das Publikum kaum je aus der Spannung, sondern sorgte vielmehr dafür, dass diese sich permanent steigerte. Durch seine atemraubende Interpretation gelang es, Kinomaterial aus der Steinzeit des Filmes so aufzuladen, dass ein durch neueste Technik und mit Effekten verwöhntes Publikum keine Sekunde Langeweile empfand.

Dem Prinzip des sich wiederholenden Spannungsaufbaues blieb Mitterer auch bei seinem zweiten Auftritt in der kleinen Kirche „eglise du bouclier“ treu, die sich nur wenige Schritte vom Touristenzentrum „Petite France“ entfernt befindet. Dort führte er seine neueste Arbeit „stop playing“ aus diesem Jahr auf, die sich nur mit der Wiedergabe von Orgelklängen beschäftigt. Dazu hatte er zuvor in Österreich von drei verschiedenen Orgeln Aufnahmen gemacht, die er in einem Remix seiner eigenen Improvisation am Konzertabend unterlegte. Eingebettet in das Präludium und die Fuge von Johann Sebastian Bach, BWV 552, die quasi als kleine Klammer das Stück umgreifen, ließ er seinen Assoziationen auf der Orgel freien Lauf. Eine Liveübertragung auf eine Leinwand ermöglichte es dem Publikum, Mitterer bei dieser „Orgelarbeit“ zuzusehen und das zuvor eingespielte Grundmaterials besser aus der Live-Performance herauszuhören. Ein Grundschema trägt dieses beeindruckende Werk bis an sein Ende. Ein ständiges An- und Abschwellen des Klanges, in der Lautstärke hin bis zum physisch Spürbaren, wechselt mit kleinen, unterschiedlich gestalteten Interludien ab. Hie und da mischen sich Töne dazu, die an das „real life“ draußen vor der Türe erinnern. Das Pfeifen einer Dampflok, Autogehupe oder auch ferne Folgetonhörner ziehen die Gedanken immer wieder kurz auf den Boden der vermeintlichen Tatsachen. Wenn die Orgel anschwillt und zugleich ein pulsierendes Atmen im Hintergrund vernommen werden kann, hat man den Eindruck, dass Mitterer das Instrument im wahrsten Sinne des Wortes zum Leben erweckt.
Stellenweise erinnert er in seiner Arbeitspräzision an einen Maschinisten tief im Bauch eines großen Frachtschiffes, der permanent an der Überwachung und Neujustierung seiner Maschinen werkt.

Fließende Übergänge kennzeichnen die verschiedenen Klangzustände, die sowohl ein Abgleiten in einen meditativen Zustand als auch eine Angstperformance hervorrufen können, wenn bedenkliches Rauschen düstere Assoziationen gebiert. Töne, die wie durch eine Wand oder einen Filter zu dringen scheinen, werden abgelöst von einer wieder erwachenden und sich quasi auf ihre ursprünglichen Klangqualitäten besinnenden Orgel. Die kurzen, aus vollen Registern ertönenden Passen gehen aber so schnell wie sie gekommen sind und im Handumdrehen setzt Mitterer das Instrument rein rhythmisch ein. Nach beinahe infernalischen Passagen, während welcher sich einige Zartbesaitete die Ohren zuhalten, folgt – wie eingangs beschrieben – vorhersehbar – ein leichtes, fröhliches Hüpfen und Springen, ein Spiel mit kurzatmigen Tönen. Synthese und Antithese, Sinus und Cosinus wechseln sich im schönen Rhythmus voneinander ab – und doch gestaltet der Komponist jede Sequenz anders. Eine kleine, zarte wie ein kurzer Cluster angelegte Sequenz beginnt sich wie ein trotziger Bergtroll zu gebärden, der schließlich in der von ihm selbst losgetretenen, aufbrausenden Lautwolke untergeht. Zusätzliche elektronische Effekte unterstützen dieses zerstörerische Unterfangen um schließlich wieder von wabernden, durchsichtigen Klangfetzen abgelöst zu werden, die mit einem zarten Basskorsett unterfangen sind.

Mitterers brausende Klangströme füllen den Raum bis in die kleinsten Ritzen, erobern ihn physisch und füllen ihn beinahe zum Bersten aus. Im daraufhin einsetzenden Decrescendo wiederum schält sich abermals ein organisches Klangmuster heraus, das einem raschen, menschlichen Pulsschlag nicht unähnlich ist.

Der erdige, fast holprig gespielte Bach, der Mitterers Stück einleitete, und der so gar nicht vom Fleck weg wollte, erklingt zum Ausklang um Vieles leichter und beschwingter. Beflügelt durch Mitterers dazwischen liegendes Werk, läuft das kleine Bachstückchen beinahe der Orgel selbst davon. Ein gut kalkulierter Schachzug mit einem süffisanten Augenzwinkern auf die Postmoderne, der voll aufgeht, sieht man in die zufriedenen Gesichter der Kritikerkollegen – chapeau, Monsieur Mitterer!

Das lustvollste Musizieren ist das stille Musizieren

Das lustvollste Musizieren ist das stille Musizieren

Festival Musica Strasbourg - Wolfgang Mitterer

Wolfgang Mitterer (c) P. Stirnweiss 2008

 

Interview mit dem österreichischen Komponisten Wolfgang Mitterer anläßlich seines Aufenthaltes in Straßburg während des Festivals Musica

Herr Mitterer, waren Sie schon einmal beim Festival Musica in Straßburg?

Ja, mit der Oper Massacre vor zwei Jahren und einem Soloauftritt. Und das Remix Ensemble aus Porto hat hier auch ein Stück von mir gespielt, go next.

 

Sie sind dieses Mal mit Ihrer Komposition zum Stummfilm Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau vertreten, das schon 2001 entstand, sowie einer neuen Arbeit – Stop playing aus diesem Jahr.

Die Musik zu Nosferatu war eine Auftragsarbeit des Wiener Konzerthauses. Die große Orgel dort eignete sich hervorragend zu diesem Zweck. Hier, in Straßburg, arbeite ich an einer kleinen elektrischen Orgel, eigentlich einer Fake-Orgel, aber ich gleiche die fehlende Tiefe mit der Elektronik aus, die ich ja mit verwende. Ich finde, dass der Saal zum Film gut passt, weil in ihm auch eine Szene vorkommt, in welcher ein alter Universitätsprofessor seinen Studenten das Mirakel der fleischfressenden Pflanzen erklärt. Das hat einen schönen Bezug zu der altehrwürdigen Universität in Straßburg. Von der Akustik her ist es aber schwierig, da ich einen Nachhall von fast 6 Sekunden ausgleichen muss. Ob das machbar ist, wird sich erst am Abend zeigen, denn ich kann das vorher nicht probieren, wenn das Publikum mit 600 Leuten nicht im Saal ist.

Wurde Nosferatu in ihrer Notation schon einmal von jemandem anderen gespielt?

Nosferatu an sich hat bisher mehrere musikalische Begleiter gehabt, aber meine Partitur wurde nur von mir gespielt. Ich weiß auch nicht, ob sich da überhaupt jemand findet, der wie ich die Elektronik so mit einbauen kann. Auch lässt das Werk für mich noch immer einen improvisatorischen Part offen, der jedes Mal etwas anders ausfällt.

Wie oft haben Sie das schon gespielt?

Ich denke so ungefähr 12 Mal bisher.

Konnten Sie Unterschiede von der Publikumsreaktion her feststellen?

Das kann man schon, vor allem hängt es davon ab, wie viele Menschen in einem Saal sind und ob der Saal auch ausverkauft ist. Es ist etwas anderes, wenn man vor einem ausverkauften Saal mit 1800 Menschen spielt, in denen jeder durch den anderen getragen wird und das Gefühl hat, an einem großen Ereignis teilzunehmen. Oder ob man vor einem nur halb ausverkauften Saal spielt und sich die Menschen instinktiv fragen, ob das wohl etwas sein kann, wenn der halbe Saal leer ist. Das hat viel mit Psychologie zu tun. Wenn ich Lautsprecher im Raum verteilen kann und die Leute dann quasi mit den Bässen massiert werden und dazu eine gewaltige Orgel spielt, dann beginnen sich ja auch manche zu fürchten. Umso eindrucksvoller wird dann aber auch eine plötzlich einsetzende Stille wahrgenommen, sie wird noch wichtiger, noch tiefer. Das hängt aber tatsächlich von der jeweiligen location, den Zuhörern und nicht zuletzt auch meiner eigenen Befindlichkeit ab, obwohl das die Leute am wenigsten bemerken.

Das Werk Stop playing, das Sie auch in Straßburg spielen, hat welchen Hintergrund?

Ich wollte eigentlich eine reine Orgel-Cd machen und habe hierzu Material von drei verschiedenen Orgeln eingespielt, bzw. ich habe spielen lassen. Dieses Material wurde dann ein 3-Orgel-Remix, das ich wiederum als Grundmaterial verwende.

Haben Sie es schon erlebt, dass Sie mit einem Instrument, genauer gesagt einer Orgel konfrontiert wurden, mit der sie „schwer konnten“?

Es gibt immer wieder einmal Instrumente, die fad klingen, einfach weil sie zu klein sind. Die kann man natürlich nicht mit dem Spirit einer großen Kirchenorgel vergleichen. Aber ich kann das Fehlen gut durch die Elektronik ausgleichen. Ich arbeite ja auch mit halb komponierten Stücken, also mit einer Grundstruktur, zu der ich eine Improvisation hinzufüge. Das gibt mir auch die Möglichkeit, auf den jeweiligen Raum einzugehen und das Beste daraus zu machen.

Wenn man auf Ihrer hp nachliest und die Liste Ihrer Werke sieht, dann fragt man sich unwillkürlich: „Kommt dieser Mann auch zum Schlafen?“

Ja klar mach ich das. Ich weiß aber gar nicht, wie viel ich bisher schon komponiert habe. Ich arbeite ja zum größten Teil für Aufträge. Ich könnte es mir nicht leisten eine Oper nur für die Schublade zu schreiben, denn daran arbeitet man schon mal 1-2 Jahre und das wäre tödlich . Und wenn die fertig ist hat man das Problem, dass sie keiner spielen will. Bei mir läuft das umgekehrt. Mich fragt ein Direktor oder Intendant, ob mir das oder das gefallen, oder ob es mich interessieren würde und dann arbeite ich dafür punktgenau. Ich bin ja auch permanent am Forschen und diese Arbeit fließt dann auch automatisch in diese Kompositionen ein.

Arbeiten Sie lieber für sich alleine oder ist die Arbeit mit einem Orchester, einem Chor oder einem Ensemble für Sie befriedigender?

Als Komponist arbeitet man zum größten Teil ja sowieso immer alleine. Und als Organist ja auch. Besonders schön ist es, wenn ich zum Beispiel mit einem Trio oder einem Quartett frei improvisieren kann. Dann denkt man ja nicht mehr ich muss oder soll jetzt das und das machen sondern, sondern ich spüre dann, dass das oder jenes jetzt genau gut passen würde. Und dann kann ich mich auch voll drauf einlassen und mich Stück für Stück bis zur Trance nach vorne arbeiten. Wenn ich mit großen Formationen arbeite, sowie zum Beispiel beim „Turmbau zu Babel“, der ja in Linz im Fußballstadion aufgeführt wurde, und an dem allein 16 Dirigenten mit ihren Chören beteiligt waren, dann ist das wieder etwas ganz anderes. Da muss ich eine genaue Struktur vorgeben, sonst ist das logistisch schon gar nicht machbar. Und ich kann auch nicht verlangen, dass Sängerinnen und Sänger aus einem Kirchenchor, die manches Mal nicht einmal Noten lesen können, eine komplizierte Partitur erarbeiten. Da war ich dann schon beim Komponieren quasi wie in einer Vogelperspektive über dem Ort geschwebt, um mir genau auszumalen, wie das dann funktionieren würde. Wenn ich für Orchester arbeite, dann mag ich es zum Beispiel nicht, wenn der Posaunist gerade einmal für drei Takte eingesetzt wird. Also einmal 300 Takte vorzählen muss, bis er dran kommt und sich danach auch wieder weiter langweilt. Ich finde nicht nur, dass das eine Verschwendung ist, denn dann könnte man das auch gleich streichen, das wäre viel billiger, sondern vor allem, dass das etwas mit verlorener Energie zu tun hat. Ich finde, dass die Energie, die von Musikern ausgeht, hörbar werden muss. Wenn 20% in einem Orchester nicht mitspielen, so spürt man das, weil ein anderer Energiefluss zustande kommt.

Sie sind ja, wie wir alle, ständig von Geräuschen umgeben.

Ja, wie zum Beispiel im Moment, wo gerade die Straßenbahn zu hören ist, die vorbeifährt.

Genau. Darüber hinaus werden Sie aber in Ihrem Kopf auch Klänge mit sich tragen, damit beschäftigt sein, wenn Sie an einem Werk arbeiten. Was bedeutet eigentlich Stille für Sie, erleben Sie diese auch tatsächlich als solche?

Freilich, wie ein jeder anderer Mensch auch. Wenn ich zum Beispiel in der Natur bin dann freue ich mich daran, dass es leise ist. Wenn ich nur den Wind höre oder auch das Wasser, das ist für mich richtige Erholung. Ich glaube aber, dass das lustvollste Musizieren das stille Musizieren ist. Wenn ich zum Beispiel eine Partitur nehme und diese im Tempo lese und die Musik innerlich ablaufen lassen kann, so kann das ein höherer Genuss sein, als ich das eventuell im Konzertsaal habe. In einem Konzertsaal, in welchem ich das Parfum der Sitznachbarin nicht aus der Nase bekomme oder die Sängerin gerade Probleme mit der Frisur hat! Ich glaube auch, dass jeder Zuhörer seine eigene Musik im Kopf hat, dass bei jedem etwas anders im Kopf abgeht, wenn er Musik hört. Das hängt ganz davon ab, ob es Laien sind oder Musikkritiker, die immer glauben, dass sie sich auskennen müssen.

Sind Ihnen also Laien als Zuhörer lieber als Kritiker?

Da sage ich: entweder schön offen, oder schön wissend. Alles was sich dazwischen bewegt ist problematisch. Ein Free-Jazzer wird ein Werk gänzlich anders hören als zum Beispiel ein Komponistenkollege.

Sie unterscheiden stringent zwischen neuer und zeitgenössischer Musik.

Ja, denn zeitgenössische Musik ist heute ja nicht mehr zwingend neu. Alles, was schon einige Jahre alt ist und schon gehört wurde, ist nicht mehr neu. Neue Musik hingegen bringt immer ein neues, noch nicht zuvor gehörtes Hörerlebnis. Ich war einmal sehr verwundert, als ein Sänger Alban Berg zu den zeitgenössischen Komponisten zählte. Das hat mit zeitgenössischer Musik meiner Meinung nach nichts mehr zu tun. Wenn man sich anhört, wie sich allein im Pop-Bereich die Musik seit den 80er Jahren verändert hat. Zwischen den 50er und 80er Jahren wurde ja alles meistens mit richtigen Musikern eingespielt, was heute ganz anders ist. Seit hundert Jahren hat sich im Instrumentenbau ja nichts Neues ergeben, aber in der Technik hat sich vieles weiter entwickelt. Die Elektronik bietet heute ganz neue Möglichkeiten Musik zu machen. Sie bietet die Möglichkeit, das Kleid der Musik heute neu zu gestalten. Ich zähle ja nicht einmal mehr die Spektralisten zur neuen Musik. (Eig. Anm: Spektralmusik entwickelte sich hauptsächlich in den 70er Jahren und folgend unter Beachtung der Obertöne und damit einhergehend einer Modifikation von Klangfarben, -strukturen usw.) Neue Musik ist auch deswegen spannend, weil auch den Kritikern der Vergleich dazu noch fehlt. Um Neues entstehen lassen zu können ist es auch ganz wichtig, dass die derzeitigen Spielstätten, an denen Festivals für neue Musik stattfinden, bestehen bleiben. Ohne diese findet auch keine Weiterentwicklung mehr statt. Mir ist es auch immer wichtig, Junge für Neues, für Ungehörtes zu begeistern. Ein moderner Künstler bin ich aber nicht, denn wenn ich daran denke, dass Madonna als Künstlerin bezeichnet wird, dann möchte ich kein Künstler sein.

Was sind Sie dann?

Ich bin ein Komponist. Ein Schriftsteller würde ja auch sagen ich bin Schriftsteller und nicht ich bin ein Künstler. Ich glaube, es gibt hier Begriffsverwirrungen, die Begriffsdefinition ist hier falsch belegt.

Sie werden als jemand bezeichnet, der gegen den mainstream agiert. Empfinden Sie selbst das auch so?

Ich glaube, dass man mich keiner bestimmten Stilrichtung zuordnen kann. Was ich schon reizvoll finde ist, bestimmte Klischees aufzubauen und diese dann umzudrehen oder wieder einzureißen. Eine Methode, die aber schon im Barock oder später in der Romantik angewandt wurde. Das Loslösen von Traditionen und das Spielen, das Ausprobieren damit, was man alles machen kann, welche Assoziationen einem dabei kommen, das finde ich spannend.

Haben Sie eigentlich mittel- oder langfristige Pläne oder Wünsche?

Eigentlich habe ich alles erreicht, was man in meinem Metier erreichen kann. Ich habe diesbezüglich keine großen Wünsche, klar wenn eine Oper von mir im Opernhaus von Sydney gespielt würde, das wäre toll, aber ich brauche es auch nicht unbedingt um mein Ego zu befriedigen. Künstlerisch ist es so, dass natürlich die Frage der Notation für mich völlig offen ist. Die Frage nach den Notenköpfen müsste meiner Meinung nach neu definiert werden. Denn wenn ich ein herkömmliches Schriftbild aus den 90er Jahren hernehme, dann kommt natürlich auch nur Musik heraus, die wie in den 90er Jahren klingt. Das ist für mich eine persönliche, künstlerische Herausforderung.

Gibt es tatsächlich nichts, das Sie sich noch wünschen?

Was ich einmal tatsächlich gerne tun würde, wäre die kurzen Sequenzen, die bei den kanadischen Eishockeyspielen immer mir Orgel eingespielt werden, neu zu spielen.

Interessieren Sie sich für Eishockey?

Nein, gar nicht, aber da müsste man schon lang wirklich einmal etwas ganz anderes machen!