„Knochen und Steine“ sind zwei Substantive, die alles andere als Wärme und Geborgenheit ausstrahlen und die man nicht unbedingt gleich miteinander in Verbindung bringt. Und doch sind sie, wie Claudia Bosse in ihrer neuesten Arbeit aufzeigt, untrennbar miteinander verbunden. „Bones and Stones“ erlebte seine Uraufführung in der Halle G des Museumsquartiers und soll – so die Theatermacherin – demnächst auch in die freie Natur übersiedeln. Das ergibt Sinn, denn Thema der Performance ist das Verhältnis des Menschen zu seinem knöchernen Innenleben, aber auch zur Natur mit ihren steinigen Ausformungen und der Evolution von der Erdentstehung bis heute.
Bosse arbeitet dabei mit sechs Frauen in einer Altersrange von 24 bis 75 Jahren, die sich während der zweieinhalbstündigen Aufführung zumeist nackt mitten unter dem Publikum bewegen. Man darf mit dem Ensemble mitwandern, oder sich auch weiter von ihm entfernen. Welche Position man einnimmt, bleibt einem selbst überlassen, auch wie und wann man diese wechseln möchte. Tatsächlich aber folgen die meisten Menschen der Regie, die den Raum ganz ausnutzt und die Schwerpunkte der Aktionen beständig verlagert. Das Dunkel des Saales und die Teilbeleuchtung auf kleine, mit Ziegelsteinen markierte „Vulkane“, sowie der erste Auftritt der Frauen, beamt einen in eine Zeit, lange noch bevor der Mensch als Spezies selbst die Erde beherrschte. Ausgestattet mit kleinen Knochen, Erweiterungen von Zehen und Fingern, agieren die Frauen als Wesen, die noch viel Tierisches an und in sich haben. Stumm werden sie – bis auf Ausnahmen – bis zum Schluss bleiben, ihr Habitus jedoch, wird sich permanent verändern.
Nachdem die kleinen Knöchelchen wie lästige Anhängsel erkannt und abgeschüttelt wurden, begibt man sich gemeinsam mit den Performerinnen auf die Nacherzählung der menschlichen Entwicklung, beginnend von der Prähistorie bis herauf in die Gegenwart. Es ist eine Erzählung ohne Worte, mit vielen Haltestationen. Solchen, die leicht zu fassen sind und anderen, die einen größeren Interpretationsspielraum zulassen.
Da werden Körpermassen als eine am Boden platzierte Skulptur präsentiert, in der sich allmählich Leben zu regen beginnt. Erinnerungen an das Künstlerpaar Prinz Gholam wurden dabei ebenso wach wie an Arbeiten von Mette Ingvartsen. Tänzerisches und Ästhetisches aus der Bildenden Kunst halten sich hier gekonnt die Waage. Kurz nachdem sich die Frauen voneinander gelöst haben und nun als Individuen, mit langen Plastikschürzen ausstaffiert, agieren, verändern sich ihre lächelnden Gesichter. Der stark gestrafften Vertreibung aus dem Paradies, das die humanen Wesen noch unreflektiert, mit einem Lächeln auf den Lippen, erleben durften, folgt eine Aktion mit veritabler Menschenverachtung. Wer am Boden zusammensinkt, wird grob an Armen oder Beinen aus der ihn umgebenden Menschenmasse weggeschleift. Mit Fußtritten werden die Extremitäten der leblosen Körper so in Position gebracht, dass man diese ohne Hindernisse hinter sich herziehen kann. Ein Text begleitet den brutalen Akt mit dem Hinweis, dass es die Knochen der Leiber sind, die Spuren am Boden hinterlassen. Womit die Aufmerksamkeit auf die Körperlichkeit der Frauen gelenkt wird. Nicht aber auf jene Stereotype, auf die meist bei Frauen geachtet wird – auf ihr Gesicht, ihre Brüste, ihre Hüften. Vielmehr ist es nun das Skelett, das plötzlich ein starkes Attraktionsmoment bekommt. Verstärkt wird dies noch durch eine Szene, in welcher der Großteil des Publikums die sitzenden und stehenden Frauen von hinten betrachtet. Langsame Bewegungen mit Dehnungen nach links und rechts aus ihrer Mitte verdeutlichen die Biegsamkeit ihrer Wirbelsäule und rücken auch die Ausformung ihrer Schulterblätter gekonnt ins Licht.
Immer wieder stellen sich, während man der Performance folgt, Fragen nach der eigenen körperlichen Verfasstheit. Woher kommt man, was tragen wir in uns, was schon vor Jahrtausenden und Jahrmillionen von Jahren bereits da war? Wie verändert sich durch dieses besondere Sehen der Blick auf uns, aber auch der Blick auf andere? Welche Rolle spielen wir als Teil der Natur auf dieser Erde?
Dionysische Momente mit live gesungenen und gesprochenen Laut- und Sprachfetzen schieben das imaginierte Zeitrad kurz danach um Jahrtausende nach vor und lassen es irgendwo zwischen Industrialisierung und Wagner’schem Gralsmythos stehen. Der Klang von schweißtreibendem Hämmern auf großen Steinbrocken verschmilzt mit einer kräftigen Frauenstimme, die den Satz „reality exists of processes rather than material object“ mehrfach wiederholt. Der Soundlayer – von Beginn an genial von Günther Auer in vielen Facetten produziert – wird dichter und erreicht, auch durch die stimmliche Begleitung, ekstatische Ausmaße.
In der danach einsetzenden Stille durchquert die älteste Performerin, ausgestattet mit zwei Einkaufssäcken, den Raum und schüttet schließlich den Inhalt – blank polierte Schweineknochen – auf den Boden. Nacheinander suchen sich nun die Frauen einige aus dem kleinen Haufen heraus und tragen diese an andere Plätze im Raum, um sie dort neu anzuordnen. Mit der Zeit schwappt der archäologische Blick, mit welchem die Knochen zu neuen Gebilden zusammengesetzt werden, auch zum Publikum über. Nicht ausgelassen wird auch der Hinweis auf die Gefährdung und Zerbrechlichkeit der Natur. Zylindrische Glasbehälter, in welchen kleine Biosphären angesiedelt sind, vermitteln den Eindruck einer konservierten Natur in einer dystopischen Zukunft. Sie symbolisieren einen Restbestand dessen, woraus die Erde einst bestand.
Es wäre keine Arbeit von Claudia Bosse, würde sie sich darin nicht auch explizit mit dem Medium des Theaters auseinandersetzen. Und das tut sie mit einem Grande Finale. Darin evoziert sie mit einer schlafenden Frau an einem zirzensisch geschaffenen Ort ein Bild, das alles, was vorher zu sehen war, ins Reich der Träume verortet.
Mit Anna Biczók, Myrthe Bokelmann, Anita Kaya, Carla Rihl, Marcela San Pedro und Christa Zuna-Kratky agierte ein homogenes, zugleich aber auch diverses Ensemble. Die kluge, reine Frauenbesetzung ermöglichte es, Fragen nach männlicher und weiblicher Identität, Rivalität, Anziehung und Abstoßung nicht aufkommen zu lassen, was eine Konzentration auf das Humanum an sich bedeutete. Auf die Fortsetzung im Außenraum darf man gespannt sein.
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