Glaube, Liebe Hoffnung

Glaube, Liebe Hoffnung

Die schwarze Bühne besteht aus einem nach allen Seiten begrenzten Raum ohne weitere Ausstattung. Einzig eine runde Scheibe schwebt über ihr, aus der Blitze zischen. Der Sound dazu – Untergangsstimmung mit einem Tosen und Dröhnen. Als der Lärm aufhört und die Blitze enden, tritt ein Mann in braunem Mantel mit Kapuze vor das Publikum. Er beginnt mit seinen Fingern langsam zu schnippen und seine Gesten laden die Zuseherinnen und Zuseher bald ein, es ihm gleichzutun. Es dauert nur wenige Sekunden, da hat er die Menschen im Saal in seiner Gewalt.

So einfach ist das, wenn man Gott ist. Oder ist er doch nur einer, der ohne erkennbaren Grund Inhaftierten?

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Foto: Danny Willems

Drei Frauen, drei Männer und ein unerwarteter Besucher

Wim Vandekeybus sorgt in seinem Stück „Mockumentary of a Contemporary Saviour“, das er im Volkstheater im Rahmen von Impulstanz zur Österreichischen Erstaufführung brachte, ordentlich für Verwirrung. Denn neben dem Mann im braunen Kuttenmantel gibt es auch noch Ana. Jene hübsche, groß gewachsene Frau, die behauptet, eine Mutter zu sein. Mutter von einem Jungen, von dem sie getrennt wurde und der außerhalb der erzwungenen Klause lebt. Die weiteren Bewohner – drei Frauen und drei Männer, fügen sich seltsamen Ritualen. Wie die zierliche Jun und der muskelbepackte Hüne Flavio. Jedes Mal, wenn die junge Frau Zuflucht bei diesem Riesen sucht, wird er zum Mörder. Auf vielfache Art und Weise zeigt er an ihr mit Gesten und brutalen Bewegungen, wie man Menschen töten kann. Aber immer wieder steht Jun erneut auf und beginnt ihre Annäherungsversuche abermals.

Plötzlich fällt ein massiger Körper mit einem lauten Knall auf den Boden. Rote Haare, den orangen Overall über dem Bauch offen, liegt er da. Das Publikum braucht einige Sekunden Erholungspause. Und die Menschen in der Gefängnisblase fangen nach dem ersten Schock bald über die Bedeutung des Menschen zu streiten an. Bringt er Segen oder Fluch? Was weiß er über die Außenwelt? Lebt er oder ist er tot? Als sich Walter zu regen beginnt, von seiner brutalen Zeitreise erwacht, gerät er in Panik. Auch er wurde ungefragt in die Szenerie geworfen und will nichts, wie von dort wieder weg.

Ein Psychologe greift ein

Das „in die Welt geworfen Sein“, wie es Martin Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ ausdrückte, bekommt bei Vandekeybus eine visuelle Entsprechung. Und tatsächlich kreist die Arbeit des belgischen Choreografen um das Thema des Existenzialismus, mit einem wichtigen Zusatz: Von Gott befreit ist hier niemand. Alle, die sich auf der Bühne befinden, fühlen sich dort von einer höheren Macht kontrolliert, Gott ausgeliefert. Alle meinen, ohne den Glauben an ihr Auserwähltsein, könnten sie nie gerettet werden.

Erst als Walter mit brachialer Gewalt auf der Bühne landet, verändert sich das Zusammenleben der sechs Menschen in ihrer unfreiwilligen Abgeschiedenheit. Er, der im realen Leben Menschen nur von seinen Bildschirmen aus betreute, aber das wissenschaftliche Handwerkszeug mitbringt, Seelen zu kurieren, greift mit seinen Fragen und Aktionen beinahe unbemerkt, aber umso vehementer in die vorgefundene Gesellschaftsstruktur ein.

„Mockumentary of a Contemporary Saviour“ zeigt sich als eine Mischung von Sprech- und Tanztheater, was vieles, was darin aufgezeigt wird, wesentlich leichter fassbar macht, als wenn es nur durch eine reine Tanzsprache erklärt werden müsste.

Getanzte Emotionen

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Foto: Danny Willems

Großartig zum Beispiel ist jene Szene , in welcher Maria die Geschichte ihrer Männerbeziehungen erzählt. Wie sie sich dabei verbiegt, als ob sie keine Knochen im Leib hätte, wie sie springt und ununterbrochen läuft, wie sie Bewegungen aus der Bodengymnastik einbaut, und dabei dennoch genug Luft zum Reden findet, ist einzigartig und bewundernswert. Der Regisseur gibt allen seinen Tanzenden die Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Manche erhalten ein Solo, andere ein Duett. Maria und Jason überwinden bei einem solchen unter der fachkundigen Anleitung von Walter ihre Abscheu voneinander und verbinden sich zu einem Herz und einer Seele. Sie werden ein Paar, das nur mit Gewalt und unter Geschrei zu trennen ist, aber dennoch wie die beiden Kugelhälften von Platon immer wieder zusammenfinden. Und Yun und Flavio wiederum tanzen das schönste Liebesduett, das in den letzten Jahren im zeitgenössischen Tanz choreografiert wurde. Wie die zarte Asiatin mit dem geschätzt doppelt so großen Mann korrespondiert, wie er sie vorsichtig hochhebt, in seinen Armen wiegt, wie sie bis zu seinem Kopf hochsteigt, um sich in vielen unterschiedlichen Positionen von ihm tragen zu lassen, er sich in einer Szene aber auch an sie festklammert, ist ein ausgesprochener Glücks- und Ausnahmemoment auf der Bühne.

Als schließlich das Kind, dessen Stimme immer wieder in Soundeinspielungen zu hören war, leblos in die Arme seiner Mutter segelt, ist zwar Nietzsches „Gott ist tot“- Behauptung erfüllt. Die Auflösung des Gefängnisses, die Vandekeybus mit diesem Bild zugleich vornimmt – der Himmel sinkt zu Boden und bildet nun keine Begrenzung mehr – wird von den nun Befreiten aber nicht wahrgenommen. Vielmehr machen sie sich nun daran, das Publikum zu missionieren. „Ihr seid auserwählt, ihr müsst glauben“, versuchen sie die Menschen im Saal – zum Teil mit Tuchfühlung – zu überzeugen.

Dass auch Walter von diesem Drang nun besessen ist, zeigt wohl, dass auch Vernunftmenschen nicht davor gefeit sind, sich von der süßen Droge der religiösen Erlösung vereinnahmen lassen.

Für Kindergartenkinder und Philosophen

Glaube, Liebe und Hoffnung sind in der christlichen Überlieferung die drei göttlichen Tugenden. Tugenden, die vom Existenzialismus zumindest zum Teil ad absurdum geführt wurden. Vandekeybus Gesellschaftsspiegel macht aber klar, dass wir heute mehr denn je weit davon entfernt sind, von ihnen zu lassen. Auch wenn wir die Möglichkeit dazu hätten.

Das zutiefst philosophische Stück hat Qualitäten, wie sie sich auch in Kunstwerken von Erwin Wurm finden: Egal ob Kindergartenkind oder Philosoph – alle kommen im Rahmen ihrer Reflexionsmöglichkeiten dabei auf ihre Kosten. Ein buntes, schrilles Spektakel mit herausragenden Ensembleleistungen, das zusätzlich die Möglichkeit bietet, sein eigenes Wertegefängnis zu hinterfragen.

Das Ensemble: Maria Kolegova, Yun Liu, Flavio DÀndrea, Jason Quarles, Anabel Lopez, Said Gharbi, Wouter Bruneel.

Schwarz, Weiß, Tag und Nacht

Schwarz, Weiß, Tag und Nacht

Eine dunkle Bühne mit einem Boden, der in geometrische, schwarz-weiße Streifen gegliedert ist. Eine Tänzerin und ein Tänzer. Ein monolithischer, großer, hochgestellter Quader in der linken Bühnenhälfte, der zu schweben scheint. Christian Rizzo, Tänzer, Choreograf und bildender Künstler, schuf mit dem Setting für sein neues Stück „ad noctum“ bei Impulstanz den Rahmen für ein Gesamtkunstwerk, in dem Tanz, Musik und bildende Kunst zu gleichem Recht kommen.

Kerem Gelebek, aus der Türkei gebürtiger Tänzer, teilt mit Rizzo seine Liebe zur bildenden Kunst. Beide haben sich vor ihrer Tanz- und Choreografiebegeisterung damit beschäftig. Mit Julie Guibert bildet Gelebek in Rizzos Inszenierung, die er mit dem ICI-CCN Montpellier verwirklichen konnte, schlicht ein Traumtanzpaar. Zu Recht hat Rizzo die beiden auf einer Bühne vereint, denn die Harmonie, die sich in ihrem Tanzausdruck findet, besticht nicht nur durch die Choreografie. Vielmehr sind sich die beiden völlig ebenbürtig. Es ist ein Paar unserer Zeit, in dem es keine offen zur Schau getragenen Geschlechterrollen gibt. Dennoch muss weder Gelebek seine Männlichkeit noch Guibert ihr Frausein negieren.

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ad noctum © Marc Coudrais

Die Choreografie, unterbrochen durch unzählige, nur wenige Sekunden dauernde Pausen, in welchen es stockdunkel im Saal ist, ist ein einziger Fluss. Darin schwimmen so bunte Schritt-Fischlein namens, Tango, Line-Dance, langsamer Walzer, Jive, Rock` n roll und viele andere mehr. Sie blitzen für wenige Momente auf, um bald wieder ihre Farbe zu ändern und ihre Gestalt zu verwandeln. Dabei hilft ihnen eine warme Strömung, die zeitgenössischer Tanz genannt wird. In ihr finden sich Drehungen mit ausgestreckten Armen und gleichzeitiges Beugen, kleine Sprünge, Läufe quer über die Bühne. Kaum meint man, sich von dieser Strömung weiter tragen zu lassen, taucht das nächste bunte Fischlein auf und zeigt seine elegante Gestalt.

Das Leben hat viele Szenen

Doch Rizzo zeigt nicht nur eine formvollendete, geistreiche und mit einer bewundernswerten Leichtigkeit ausgestattete Choreografie. Er schiebt zwischen die einzelnen Auftritte auch kurze Szenen ein, in welchen das Paar nicht tanzt. Vielmehr werden darin Momente erkennbar, in welchen die Beziehung der beiden aufgezeigt wird. In einer Szene sitzt Guibert abgewandt von ihrem Partner, der ein langes Solo tanz, während dessen er immer wieder zu seiner Partnerin blickt. In einer anderen Szene ist er es, der am Boden sitzt, den Rücken zum Publikum gekehrt, während sie ihre wunderbaren Kreise und Pirouetten über die Bühne zieht. Mehrfach versuchen sie, sich gegenseitig Halt zu geben. Mehrfach gehen sie, scheinbar zutiefst von Trauer erfasst, zu Boden. In einem kurzen Auftritt trägt Gelebek seine Partnerin wie leblos über seine Schulter gelegt. In einem anderen wendet sie sich schließlich von seinem regungslos am Boden liegenden Körper ab. Es ist keine durchgängige Geschichte, die hier erzählt wird, sondern es sind Momentaufnahmen aus vielen, unzähligen Geschichten, die das Leben schreibt. Damit bietet Rizzo vielen Menschen die Gelegenheit zur Identifikation und zeigt zugleich die Vielfalt von emotionalen Zuständen auf, die eine Beziehung in ihrem Verlauf kennzeichnen.

Eine Skulptur als Hauptdarsteller

Neben den beiden Hauptfiguren gibt es noch einen anderen Bühnenstar. Es ist Rizzos übermannsgroßer Quader, der, je nach Beleuchtung, seine Gestalt wechseln kann. Einmal präsentiert er sich mit einer durchsichtigen, grauen Haut, ein anderes Mal ist er in seinem Inneren mit vielen Scheinwerfern ausgestattet. Dann wieder verzieht sich dichter Nebel ganz langsam von seinem Boden bis an seine Decke, in welcher er auf unerklärliche Weise verschwindet. Computeranimierte Lichtranken und ebensolche geometrische Muster in Schwarz und Weiß beleben ihn genauso wie die weißen Schemen eines Tanzpaares, die bald nach ihrem Auftauchen zu winzigen, kleinen Püppchen schrumpfen und ins Nichts verschwinden.

Rizzo gelingt mit diesem „Auftritt“ eine perfekte Verschmelzung eines Kunstobjektes im Rahmen einer Bühnenperformance. Dennoch wird der Lichtskulptur ausreichend Aufmerksamkeit zuteil. Nach vielen Seiten interpretatorisch offen, erhält sie ihren Reiz auch durch den Sound von Pénélope Michel und Nicolas Devos. Dieser baut sich von einem simplen Geräusch-Layer – zu Beginn der Vorstellung – zu einer vielschichten Rhythmuswolke auf. Dass dieser Sound ganz und gar nichts mit den Tänzen zu tun hat, die in der Choreografie erkennbar werden, wirkt unglaublich reizvoll.

Ein Abgesang mit einem Hoffnungsschimmer

Als das Ende des Stückes gekommen scheint, schafft Christian Rizzo noch einen Turnaround. Dafür treten Guibert und Gelebek in weißen Kostümen auf, die Assoziationen zum Triadischen Ballett, zum Ku Klux Klan und zu einem Weißclown zulassen. Langsam, ganz langsam bewegen sie sich zu Arvo Pärts Arrangement für Stimme und Orgel, das er zu Robert Burns Gedicht „My heart`s in the highland“ schrieb. Burns, einer der bedeutendsten, romantischen, schottischen Schriftsteller, wurde 2009 in einer Fernsehumfrage zum wichtigsten Schotten auserwählt. In seinem Text beschreibt er das Abschiednehmen von seiner geliebten Heimat.

Ein Abschiednehmen zeigt sich auch im allerletzten Tanz auf der Bühne, bei welchem aus Julie Guiberts Kostüm sogar Rauch aufsteigt. Die surreale Szene, völlig abgekoppelt vom zuvor Gesehenen, versetzt das Publikum in eine andere Welt und eine andere Zeit. Schwebend zwischen der Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft berühren die beiden Tanzenden mit ihrer Sanftheit, ihrem Gleichklang und ihrer offenkundigen Liebe zueinander die Herzen des Publikums. Das Weiß ihrer Kleidung setzt einen kräftigen Kontrapunkt zu jenem Schwarz, welches das Publikum bis dahin so häufig ummantelte. Und es verbreitet Hoffnung. Worauf, das bleibt den Betrachtenden selbst überlassen.

Getäuschte Wahrnehmung und schmerzhafter Missbrauch

Getäuschte Wahrnehmung und schmerzhafter Missbrauch

Angewandte Medienkritik

Mit „As We Were Moving Ahead Occasionally We Saw Brief…“ zeigte der belgisch/französische Tänzer und Choreograf Gaëtan Rusquet im Leopoldmuseum, wie leicht sich unsere Wahrnehmung im medialen Umfeld täuschen lässt. Das Thema ist zwar so alt wie die Medienkritik selbst, dennoch ist es immer wieder verblüffend, wie sehr wir uns von bewegten Bildern in die Irre führen lassen. In der Performance, die Rusquet mit Amélie Marneffe und Bryan Campbell zeigte, bewegten sich die drei in einer sich ständig wiederholenden Bewegungsschleife von einer Streckung und Beugung, während sie dabei zugleich nackt durch den Raum schritten. In ihren Händen hielten sie eine kleine Kamera, die sie vom Mund in den Anus und wieder zurück führten.

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Gaetan Rusquet_We Were Moving (c) Paul McGee

Die so banale und auch belanglose Geste wurde dazu benutzt, durch die Projektion auf eine der großen, weißen Wände des Raumes ein Setting zu kreieren, das sich gänzlich von der Wahrnehmung beim Zusehen der Aktion unterschied. Nicht nur die Vergrößerung von Körperteilen, die dadurch zustande kam, auch die veränderte Raumwahrnehmung wurde dadurch zum Thema. Wie aus der darstellenden Kunst lange schon bekannt, überdeckte auch hier die große Projektion das Live-Geschehen, von dem das Publikum völlig abgelenkt wird. Mit Einspielungen von früher aufgenommenen Strand-Szenen und Live-Aufnahmen der Performance aus dem Nebenraum, der von dem Ensemble ebenfalls bespielt wurde, zeigte Rusquet auf, dass sich die Erwartungshaltung der Medienkonsumenten extrem steuern, manipulieren und auch verwirren lässt.

Kunst als Therapiemgöglichkeit

Ganz anders die Arbeit der Finnin Samira Elagoz, in welcher sie sich mit zwei erlittenen Vergewaltigungen auseinandersetzte. Der Zugang der in Holland lebenden Künstlerin ist bewundernswert, stülpt sie dabei doch schonungslos ihr Innerstes nach außen und macht dabei klar, dass sie ihre Traumata nur durch erneute Konfrontation mit Männern aufarbeiten kann.

Die Datings, die Elagoz dafür im Netz arrangierte, hielt sie in Fotos fest, welche die Männer in jenem Augenblick zeigten, als sie sich ihnen im Chat präsentierte. Dass diese dabei eine zum Teil höchst lächerliche Figur abgeben, erheiterte das Publikum, trotz des dramatischen Themas. Der nächste Schritt führte die junge Frau schließlich direkt in die Wohnzimmer von Unbekannten. Die Künstlerin bat die Männer vorab dafür, eine Kamera mitnehmen und filmen zu dürfen, was ihr zumindest ein subjektives Sicherheitsgefühl vermittelte. Auch hier gebärdeten sich die Gedateten zum Teil höchst skurril, schrullig oder auch angsteinflößend. Die letzte Aufforderung erging an einige jüngere Männer mit der Bitte, Elagoz seelische Verletzungen mit einem unschuldigen Kuss zu heilen.

Die Verschränkung, die Elagoz mit Filmeinspielungen ihrer Familie und von Freunden zeigten, machten deutlich, wie sehr Gewaltereignisse bis tief in eine Gemeinschaft hineinwirken, aber auch, wie diese Hilfestellung leisten kann.

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Samira Elagoz_Craigslist Allstars (c) SamiraElagoz

Die Filme, von Elagoz selbst an den unterschiedlichen Schauplätzen gedreht, ergänzten ihre jeweils kurzen, theoretischen Ausführungen vor jedem neuen Filmkapitel, höchst anschaulich. Das österreichische Publikum konnte in dieser Vorstellung einen von der Künstlerin sicherlich nicht beabsichtigten Vergleich machen.  Auch Elisabeth T. Spiras Dauerbrenner „Liebesgeschichten und Heiratssachen“ ist in einer höchst ähnlichen Ästhetik gedreht und zeigt Menschen  in ihrer häuslichen Umgebung mit ihrer Sehnsucht nach uneingeschränkter Liebe. Elagoz Versuch, durch viele Männerkontakte den Schmerz, der ihr zugefügt wurde, vergessen zu lassen, ist für sie insofern von Erfolg gezeichnet, als sie, wie sie selbst ausführte, auch jetzt noch keinen generellen Hass auf Männer entwickelte.

Die höchst kunstvolle filmische Einleitung, bei der sie mit der Kamera ihren eigenen Körper verzerrt wiedergab und ihn spiegelbildlich in unterschiedlichen Posen filmte und ganz in der Popästhetik der 70er Jahre auflöste, sowie das berührende Portrait ihres Vaters, einem Arabistik-Gelehrten, der inmitten seines vermüllten Zimmers mit vor Glück umflorten Blick arabische Verse vorlas, sind als selbständige Kunstwerke zu bewerten. In ihnen zeigt sich nicht nur Elagoz Kreativität, sondern auch ihre unglaubliche Empathie, die ihr bei diesem Projekt in höchstem Maße zugute kam. Eine sehr komplexe und bemerkenswerte Arbeit in der vor allem die Menschlichkeit im Mittelpunkt steht. Wir gratulieren!

Das Leben ist ein Walzer

Das Leben ist ein Walzer

Mit Wucht treibt der Pianist und Performer Guy Vandromme am Bösendorfer-Flügel den „Valse“ von Maurice Ravel voran. Führt ihn von anfänglich lichten Höhen hin zu einem höllischen Gestampfe, welches infernalische Assoziationen zulässt. Während dessen liegt der Choreograf, Tänzer und Theaterschaffende Raimund Hoghe bäuchlings auf der Bühne und rührt sich nicht.

Eine bis zu den Knien aufgekrempelte, schwarze Hose und ein knallrotes Hemd verdeutlichen einen Farbcodex. Mit Rot assoziiert man ad hoc Leiden und Blut, mit Schwarz den Tod. Und so liegt Hoghe sinnbildlich für Millionen Gefallener des ersten Weltkrieges auf der Bühne des Akademietheaters. Im Rahmen von Impulstanz präsentierte er dort seine Österreichische Erstaufführung von „La Valse“.

Die Interpretation dieses Bildes ist zulässig, wenn man die Geschichte von Ravels „La Valse“ kennt. Der Komponist begann mit dem Stück bereits im Jahr 1906 und vollendete es 1920, zwei Jahre nach Beendigung des großen Krieges. Kein Wunder, dass die Komposition, bei der am Ende kein walzerseliges Vergnügen mehr zu verspüren ist, direkt in Verbindung mit den Kriegsgräueln gebracht wird. Ravel diente als Lastwagenfahrer und wusste genau, dass Hunderttausende Menschen den Kriegsgeschehnissen hilflos ausgesetzt waren und daran starben.

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Raimund Hoghe „LA VALSE“ (c) Rosa-Frank.com

Ein Abend voller Musik, Trauer und Schmerz

„Valse“ – der Titel von Raimund Hoghes neuem Stück steht aber nicht nur für Ravels Tonschöpfung, vielmehr ist er programmatisch für die Produktion gewählt. Tatsächlich sind – bis auf ganz wenige Ausnahmen – an diesem Abend ausschließlich Walzer zu hören. Und viele, ja beinahe alle, verbindet der Autor, Tänzer und Choreograf Hoghe mit Wehmut, Schmerz und Trauer. Marion Ballester, Ji Hye Chung, Emmanuel Eggermont, Luca Giacomo Schulte, Takashi Ueno und Ornella Balestra werden dazu mit grauen Decken ausgestattet. Dieses Kostümattribut wird zum Sinnbild für die angesprochenen Emotionen, aber auch zum Sinnbild für den Tod schlechthin. Über die Schulter geworfen oder darin eingehüllt, symbolisieren diese Decken den ersten Wärmeschutz nach der Errettung aus dem Meer. Sie stehen aber auch für die Trauer und jene Menschen, die nicht mehr unter uns sind. Abwesende, mit denen die noch Lebenden gerne tanzen würden.

In vielen Szenen, die Hoghe mit einem Walzer nach dem anderen aneinander reiht, steht das Ensemble, dem Publikum abgewandt, regungslos vor der schwarz verhängten, hinteren Bühnenwand. Alleine, zu zweit oder auch alle. Mehr Verweigerung am Leben und auch am Bühnengeschehen teilzunehmen – außer vielleicht eine komplette Abwesenheit – gibt es nicht.

Die Musik verharrt dabei ganz und gar nicht in einem picksüßen Wiener-Walzer-Zuckerschaum-Sound. Zu hören sind unter anderen die großartige Josephine Baker, Juliette Greco, Patti Page, aber auch historische Aufnahmen aus dem Zigeunerbaron, ein Walzerpotpourri, in dem der Rosenkavalier hervorsticht und, und, und. Noch nie hat man an einem einzigen Abend eine derart große Bandbreite dieses musikalischen Genres präsentiert bekommen. Es ist aber nicht die Musik alleine, die den Abend hoch emotional auflädt.

Interpretationsfeuerwerke am laufenden Band

Trotz oder vielleicht gerade aufgrund seiner durchgehend langsamen Choreografien und mit nur wenigen Requisiten erschuf Hoghe ein gewaltiges Arsenal an Bildmunition, die Interpretationsfeuerwerke in den Köpfen seines Publikums auslösen kann. Dabei verweist er auf ganz persönliche Erlebnisse genauso wie auf aktuelle, zeitgenössische Phänomene. Das Ertrinken von zehntausenden Flüchtlingen im Mittelmeer veranschaulicht er mit einer nassen Bühne, einem kleinen, Handteller großen Boot und sich selbst. Am Bauch liegend und mit den Armen Schwimmbewegungen vollführend, dauert Ravels „Valse“ – dieses Mal in der symphonischen Fassung – eine gefühlte Ewigkeit. Die abermalige Verwendung von Ravels Musik macht im Hinblick auf die allererste Szene mit ihrem Verweis auf den Ersten Weltkrieg Sinn. Nun begleitet Hoghe damit das aktuelle Sterben von Flüchtlingen in großer Zahl im Mittelmeer. Auch wenn nur er alleine auf der Bühne gegen die Gewalt des Meeres anschwimmt.

Mehrfach ist bei verschiedenen Szenenwechsel der Ruf eines Muezzins, begleitet von Gewehrsalven und dem Grollen von großen Waffen, zu vernehmen. Auch das, was derzeit in Syrien passiert, was den Mittleren Osten erschüttert, lässt Hoghe bis auf die Theaterbühne tönen.

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Raimund Hoghe „LA VALSE“ (c) Rosa-Frank.com

Diese dramaturgischen Ideen machen deutlich, warum dieser Abend nichts mit einem fröhlichen Dreivierteltakt-Gedrehe zu tun haben kann. Krieg und der Verlust von Menschen kann nicht schön getanzt werden. Hoghe, der selbst häufig auf der Bühne agiert, tut dies jeweils mit größter Bedachtsamkeit. Ob er sich um die eigene Achse mit verbundenen Augen dreht, einen zu Füsilierenden darstellt, ob er eine seiner Partnerinnen mit einem Rosenschal bezirzt, ob er den einen oder die andere bei ihren Soloauftritten unterstützt – immer tut er dies ohne eine einzige rasche Bewegung. Einzig in jener Szene läuft er kopflos von links nach rechts, vor und zurück über die Bühne, in welchem in einem aufgenommenen Gespräch eine Jüdin über ihr Schicksal nach der Auflösung des KZs berichtet, in dem sie als Deutsche gefangen gehalten wurde. Zurück nach Deutschland war für sie keine Option, die Ausreise nach England musste erst erkämpft werden.

Emotionen, die Geschichten kreieren

Wunderbar ist, dass Raimund Hoghe die Persönlichkeit aller Tanzenden in den Choreografien spürbar werden lässt. Ji Hye Chung und Takashi Uena dürfen dabei auf ihre kulturellen, asiatischen Wurzeln zurückgreifen, Emmanuel Eggermont besticht durch minimalistische, aber höchst ausdrucksstarke Bewegungen. Ornella Balestra wiederum, als Gast im Ensemble, ist von einer Trauer erfasst, die zu Herzen geht. Ein gemeinsamer Auftritt von ihr mit Hoghe, zu einem Song von Josephine Baker, gehört zum Emotionalsten, was der Abend zu bieten hat. Dabei geschieht wenig Tänzerisches. Aber die Hilfestellung, die Hoghe mit Gesten der Tänzerin anbietet, die Blicke, die in die Vergangenheit weisen und die Gesten, die deutlich machen, dass Verlorenes nicht wiederkommt, berühren zutiefst. Es sind Szenen wie diese, die den Zauber von Hoghes Choreografie auf den Punkt bringen.

Trotz aller Interpretationsmöglichkeiten geht es letztlich nicht darum, dem Publikum Geschichten vorzutanzen. Es geht darum, ihm Emotionen anzubieten, mit welchen es selbst Geschichten kreieren kann. Ein großer und berührender Abend.

Am 4. August ist Raimund Hoghe noch einmal bei Impulstanz zu sehen. Seine Solo-Show im Odeon trägt den Titel „Lettere amoroso“ 1999 – 2017.

Alles fake-dance, oder was?

Alles fake-dance, oder was?

Schon einmal stand das Ensemble von Amanda Piña & Daniel Zimmermann in Wien mit dieser Schau auf der Bühne des Tanzquartiers. Dieses Mal trat es im Volkstheater im Rahmen von Impulstanz auf und hinterließ bei einigen Zuseherinnen und Zusehern Verwirrung.

Ein Krieg wütet laut

Infernalischer Lärm begrüßt das Publikum beim Eintritt in den Saal. Eine brutale Soundwolke hüllt die Menschen ein. Viele verlangen nach den offerierten Ohrenstöpseln, zu unerträglich ist das Getöse, welches den Titel des Stückes „War“ auditiv wiedergibt. Dann plötzlich Dunkelheit und Stille. Als das Licht wieder angeht, erkennt man ein nicht allzu hohes Podest in der Mitte der Bühne. Links und rechts davon befindet sich je eine gespannte Leine, auf welcher Kostüme bereit gehängt sind. Eine große Leinwand begrenzt den Raum nach hinten.

In die Stille hinein werden Fotos von großen Vitrinen projiziert, in welchen sich Waffen und Uniformen aus dem ersten Weltkrieg befinden. Das, was zu sehen ist, ist museale Vergangenheit. Nichts desto trotz kommen kollektive Erinnerungen an das Grauen dieser Zeit hoch.

Amanda Piña, Choreografin und Tänzerin, ihre Kollegin Alexandra Mabes und Pascual Pakarati betreten das Podest und unterhalten sich, dem Publikum abgewandt, über die gezeigten Bilder.

Die allgegenwärtigen Kriegsbedrohungen

Das Setting – so erschließt es sich später – versinnbildlichte die Vorgangsweise, die der Produktion zugrunde liegt. Eine tänzerische Reflexion auf kriegerisches Geschehen von gestern und heute. Eine Reflexion, die sich schließlich in Choreografien im Stil der polynesischen Tänze Hula, Hoko, Haka und Tamuré zeigen. Insgesamt rund 10 Tänze wird das Publikum zu sehen bekommen, wobei vor jedem einzelnen eine weibliche Stimme aus den Lautsprechern erklärt, welchem Thema der jeweilige Tanz gewidmet ist. Nach oder manches Mal auch während der Choreografien lässt sich der Text, den die Performenden zum Teil singen oder sprechen, auf Englisch, auf die Leinwand projiziert, nachlesen.

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War – Amanda Pina – Daniel Zimmermann (c) nadaproductions

Der Einstiegstanz war dem Untergang der Lusitania gewidmet. 1915 wurde das Passagierschiff von einem deutschen U-Boot vor der Südküste Irlands versenkt. Als Vorbote zu einem Krieg, der die Welt erobern würde, bezeichneten die beiden Tänzerinnen dieses Ereignis während ihrer ersten Darbietung. Schon mit diesem Statement machte nadaproductions klar, dass das, was an diesem Abend gezeigt werden würde, in keiner sagenumwobenen Vergangenheit der Osterinseln lag und der gezeigte Tanz somit auch nicht aus einer Jahrhunderte alten Überlieferung stammte. Auch wenn die sanften Beugungen und Drehungen der Tänzerinnen und die markanten Armbewegungen zum Teil aus dem Bewegungsrepertoire der Tänze Polynesiens stammten.

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War – Amanda Pina – Daniel Zimmermann (c) nadaproductions

Im darauffolgenden Auftritt zeigte sich Pascual Pakarati in weißer Kriegsbemalung mit Federkopfschmuck, Lendenschurz und Bastringen an den Beinen. Sein Kriegstanz blieb der einzige, von dem man annehmen konnte, dass er nicht erst im 20. Jahrhundert choreografiert worden war. Es folgten ein Hula, der den europäischen Arbeiterkämpfen und Frauenrechten gewidmet war, sowie ein weiterer Tanz, der ein somalisches Sprichwort versinnbildlichte. Darin wurde der Kampf zwischen Bruder und Schwester, zwischen Familie und Clan bis hin zu jenem einer Nation gegen die ganze übrige Welt dekliniert. Der Krieg gegen die allgegenwärtige Überwachung, der Beschuss einer afghanischen Hochzeit mit einer amerikanischen Drohne, die Inhaftierung von Hannah Berger im Nationalsozialismus und ihr persönlicher Kampf gegen das Regime – all diese und weitere unter die Haut gehenden Themen wurden von Mabes, Piña und Pakarati Szene um Szene tanzend visualisiert.

Alles nur fake-dance?

Wer sich ungeachtet dieser Themata noch immer in einer folkloristischen Darbietung wähnte, wurde spätestens bei dem anschließenden, inszenierten Künstlergespräch eines Besseren belehrt. Die souverän agierende Elisabeth Tambwe „interviewte“ dabei Pakarati, der zu verstehen gab, dass die Tänze seiner Heimat, die auf der Osterinsel den Touristen gezeigt werden,  erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts kreiert wurden. Sie entstanden als Antwort auf die Nachfrage der Urlauber, die bei den Vorführungen der bis dahin gezeigten Hokotänze zum Teil eingeschlafen waren. Diese dienten ursprünglich dazu, die Männer dabei in einen Trancezustand zu versetzen. Kurzerhand entschloss man sich, das choreografische Repertoire zu ändern und so zu gestalten, dass das Publikum damit zufrieden gestellt werden konnte.

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War – Amanda Pina – Daniel Zimmermann (c) nadaproductions

Die stille Verwandlung der Diskutierenden durch eine der Tänzerinnen, ergab am Ende der Vorstellung ein Schattenbild, das sie so zeigte, als wären sie selbst Ureinwohner aus Polynesien. Während des Gesprächs wurde den Diskutanten dafür ein Kostümteil nach dem anderen angelegt, ruhig, und ohne die Diskussion dabei zu stören. Ausgestattet mit Bastkrausen und Federkopfschmuck boten sie schließlich jenes Bild, dass sich Touristen aus aller Herren Länder über die Einwohner Polynesiens tatsächlich auch heute noch machen.

„War“ – ein Kriegstanz – arbeitet mit zwei grundsätzlichen Themenbereichen. Zum einen ermöglicht die Arbeit, sich Kriegsschauplätze, -vorbereitungen, oder auch –nachwirkungen durch kurze, höchst illustrative Sequenzen vor Augen zu führen. Dabei wird deutlich, dass die Bedrohung von Leib und Leben, die davon ausgeht, über die Jahrtausende gleich geblieben ist. Was sich geändert hat, sind lediglich die technischen Mittel.

Zum anderen zeigt die Produktion auf, dass historische Tanz-Überlieferungen nur dann tatsächlich lebendig bleiben, wenn sie nicht in einem vorgegebenen Formalismus verharren. Tradition, die sich nicht ständig erneuert, kommt einmal an einen Punkt an, an dem sie nicht mehr weiter gegeben wird, oder an dem sie nur mehr einen folkloristischen Charakter aufweist. Ob das Publikum dies goutiert oder nicht. Mit einem fake-dance, um einen gewissen Amerikaner zu zitieren, der mit „fake“ alles belegt, war ihm nicht bequem ist, haben die Choreografien von Pascual Pakarati und Amanda Piña rein gar nichts zu tun. Sie sind der lebendigste und kreativste Ausdruck einer hoch gehaltenen Tanztradition, die für sich damit in Anspruch nehmen darf, sich ganz auf der Höhe unserer Zeit zu präsentieren.

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