Der Konzertkritiker Marc Munch (c) Philippe Schalk
Marc Munch ist in Straßburg der Doyen der Musikkritik. In diesem Interview lässt er hinter die Kulissen eines Berufes blicken, der für viele Menschen ein Buch mit sieben Siegeln ist.
Wie alt waren Sie, als Sie ihre erste Kritik schrieben und wie kamen Sie überhaupt mit der Musik in Berührung?
Musikpflege war zuhause eine Selbstverständigkeit. Mit dreizehn Jahren sang ich Sopran im Chor und ein Jahr später wurde ich im Konservatorium aufgenommen, zuerst im Fach Klavier. Mit 17 trat ich dann dort in die Orgelklasse ein. Am Konservatorium hatte ich nach Klavier und Orgel auch Harmonie und Kontrapunkt studiert, den Dirigentenkurs beim Konservatoriumsdirektor Fritz Münch absolviert und mit Diplomen (Premier Prix und Diplôme de perfectionnement) abgeschlossen. Mein Orgellehrer dirigierte nebenbei auch Chor und Orchester, mit welchen er Bachkantaten aufführte. Ich wurde später – 1962 – sein Nachfolger an der Leitung dieses Chors und in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten dirigierte ich selbst über hundert Kantaten und einige Oratorien. Mit dem Orchester, das mir zur Verfügung stand, haben wir in derselben Zeit Barockmusik in vielen Konzerten in Städten und Dörfern der Gegend gespielt. Studium und Praxis sind eine gute Schule um den musikalischen Prozess zu verstehen, den man besprechen soll. Doch die beste Lehre dazu ist das Erlebnis der Musik, an jedem Abend…..
An der Universität habe ich natürlich auch Musikwissenschaft studiert, wobei mir die reich ausgestattete Bibliothek des Instituts nützlich war. Doch ich zielte nicht darauf ab Musiklehrer zu werden, was mir offen gestanden wäre. Ich hatte als Hauptfächer Geschichte und Geografie gewählt, die ich dann nach den Examen und Concours in verschiedenen Lycées in Séléstat, Bischwiller und Strasbourg und eine Zeit lang in einem College lehrte. Ich habe gerne unterrichtet, und diese weltumfassenden Stoffe waren weniger Gegensatz zur Musik als Erweiterung des Horizonts: Zeit und Raum sind gemeinsame Dimensionen aller Strukturen. Die Kunstgeschichte muss auch in die Perspektive der allgemeinen Geschichte und Entwicklung der Kulturen gestellt werden. Und in einer Musikkritik eine Metapher geografischen Ursprungs einzuschalten, so etwa die Alpensymphonie von Richard Strauss als Mittelgebirge mit Wald und Wiese zu beschreiben, kann auch ein Vergnügen sein.
Nun komme ich endlich zur Beantwortung des Beginnes Ihrer ersten Frage. Neben Konzerttätigkeit und Lehreramt im Gymnasium ist Musikkritik eigentlich mein dritter gleichzeitig ausgeübter Beruf geworden, dem ich mich dank guter Gesundheit und dem Verständnis der Meinen ebenso intensiv widmen konnte.
Ich war 19 ½ Jahre alt, also ein junger Student, als ich meine erste Kritik schrieb. Ich wurde zur Zeitung gerufen, da jemand für die deutsche Ausgabe der DNA fehlte: Ein Mitarbeiter war beim Militärdienst. Als Eintrittsexamen musste ich einen Artikel über das Wiener Oktett übersetzen. Zwei Tage später, am Karfreitag 1952 war das Requiem von Brahms Anlass zu meinem ersten M.M. unterzeichneten Artikel , der in der zweisprachigen Ausgabe der Zeitung veröffentlicht wurde. Seitdem bin ich Mitarbeiter der Dernières Nouvelles d’Alsace geblieben.
Wenn Sie die Artikel Ihrer Anfangszeit ansehen, wie beurteilen Sie diese heute?
Den Inhalt kann ich zumeist noch verantworten, wie ich ihn geschrieben habe, abgesehen doch von den sprachlichen Unbeholfenheiten des Anfängers. Gewiss unterliefen einem auch einige Dummheiten. Ich musste ja anfänglich auch mehrere Sparten abdecken. Zu Konzert, Oper und Ballett kamen auch Jazz und Variétés, und auf den für mich weniger klassischen Gebieten ließ ich mich doch von Freunden beraten. Es machte Spaß, Louis Armstrong, Sidney Bechet, Gillespie und andere Größen des New Orleans-Stils zu hören. Und es war auch ein Erlebnis, eine Edith Piaf bei einem ihrer letzten Konzerte zu hören, bei welchem neben der elend aussehenden Chanson-Sängerin im ersten Teil des Abends ein heiß schwitzender Debütant mit Namen Jacques Brel aufgetreten war. Mit dem Aufkommen des Rock-n’Roll habe ich ohne jegliches Bedauern auf die Berichterstattung dieser lärmigen Events verzichtet. Ich hatte 1970 über Jimmy Hendricks geschrieben, und vierzig Jahre später, anlässlich einer Hommage an Hendricks wurde mein Artikel erwähnt, und ich war sehr erstaunt, dass der Journalist zu denselben Schlussfolgerungen wie ich gekommen war.
Bis Ende des siebziger Jahre war der Journalismus noch in der „Ära Gutenberg“, in der es noch recht „sportlich“ zugegangen ist, da die Artikel sehr rasch nach den Konzerten geschrieben und gedruckt wurden. Es kam oft vor, dass wir nach dem Konzert im Sängerhaus oder der Oper im Theater am Broglie-Platz schnell in die Redaktion rannten und dort schrieben. Den Umfang in Zeilen und die Zeit des Redaktionsschlusses erfuhren wir bei Ankunft. „Bis 1 Uhr machst mir 120 oder 130 Zeilen!“ Da war nicht viel Zeit über den Aufbau des Artikels nachzudenken! Und während man schrieb, kamen manchmal noch Aufforderungen, Zeilen hinzuzufügen oder wegen Platzmangel zu streichen. Die ersten Seiten des Manuskriptes wurden oft, kaum geschrieben, abgeholt. Und so hatte man keine Übersicht mehr über den gesamten Inhalt des Artikels. Das letzte Blatt lieferte man selbst ab und hatte schon 5 Minuten später den Abdruck zur immer hastigen Korrektur. In der saturnisch bleischweren Atmosphäre der Druckerei setzten sich die Rotationsmaschinen in Gang und ich wartete auf die ersten druckfrischen Exemplare, um mit der Zeitung unterm Arm nach Hause zu gehen. Heute hat man ja viel mehr Zeit, um zu schreiben, weil die Artikel nicht so kurz nach den Konzerten erscheinen. Und sie werden auf dem Computer getippt und direkt in die Redaktion gesandt. Lang bedachte Zeilen sind im Inhalt nicht immer besser als diejenigen, die im Eiltempo verfasst wurden.
Was fasziniert Sie eigentlich an der Konzertkritik?
Jedes Konzert, wie auch jede Opernaufführung, in der das Szenische genau wie das Musikalische in Betracht gezogen werden muss, ist einmalig. Ich bin der Meinung, dass man für das Publikum schreiben muss, und auch für die ausführenden Künstler. Das kann ihnen allen dienlich sein. In allen Fällen schlüpft der Kritiker in die Rolle eines Vermittlers. Ich schreibe ja über Oper, Konzerte und Kammerkonzerte und mag alle drei Gattungen gleich gern. Jedoch ist ja nicht jedes Konzert gleich interessant. Aber jedes bietet Gelegenheit, über Musik nachzudenken. Aber wenn man glaubwürdig sein will, muss man wissen, worüber man schreibt. Ich war mit einigen Dirigenten oder Interpreten auch nicht immer einer Meinung und habe das aber auch immer zu verstehen gegeben, selbst wenn die Formulierung „durch die Blume“ gelesen werden musste. Nach einem Konzert hatte ich dem Dirigenten des Orchesters einmal gesagt, ich sei mit seiner Interpretation der 1. Symphonie von Brahms nicht einverstanden. Daraufhin hörte ich: „Wollen Sie mit mir ein Duell ausfechten?“ Da musste ich antworten: „Angefangen haben ja Sie!“ Aber wir haben dann doch eine gute Zeit lang diskutiert und argumentiert. Mir geht es auch darum, das „Warum“ einer Interpretation zu verstehen.
Das OPS (Orchestre Philharmonique de Strasbourg) veranstaltet 1-2 Mal im Jahr Auslandsreisen. Halten Sie diese für wichtig?
Ja klar, und ich begleite die Musiker sehr gerne auf Tournee. Es ist wichtig, dass das Orchester sich auswärts vorstellen darf. Für die Musiker selbst ist es eine Herausforderung, die sie hoch anspornt. Sie spielen in einer anderen Umgebung, in anderen Sälen, das ist eine große Bereicherung. Und solche Reisen zeugen auch von der breiten Ausstrahlung, die das Straßburger Orchester hat. In Wien, München, London, Madrid, Athen, in italienischen Städten und in Amsterdam zu spielen trägt auch zu seinem europäischen Ruf bei. Und selbst im eigenen Land ist es nicht unnütz, sich bekannt zu machen: Als Marc Albrecht zum Beispiel die Salome von Strauss in Paris dirigierte, entdeckten einige Amtsbrüder der Hauptstadt erst das wahrhaft hohe Niveau des OPS , das sie bei ihren Besuchen in Strasbourg oft nicht gebührend anerkannt hatten. Der Erfolg ist aber auch im gewohnten Kreis des Palais de la musique et des congrès messbar. Was die Dirigenten anbelangt, so hat sich in den Jahrzehnten, seit ich ihre Arbeit mitverfolge, viel geändert. Heute zum Beispiel wählt das Orchester in Mitbestimmung jene Dirigenten, die wieder kommen dürfen. Ein Dirigent muss nicht nur sein künstlerisches Können unter Beweis stellen, sondern auch seine Psychologie und seine pädagogischen Fähigkeiten in der Zusammenarbeit mit einem Orchester.
Welche bekannten Dirigenten haben Sie selbst erleben können?
Furtwängler zum Beispiel, den ich kurz vor seinem Tode, und Szell, in Salzburg gesehen habe. Sie hatten zu Beginn ihrer Karriere in Strasbourg dirigiert, wie auch Klemperer . Ich erinnere mich noch gut an Hans Rosbaud als ersten Dirigenten des Südwestfunkorchesters Baden-Baden. Rosbaud hatte während des Krieges als Generalmusikdirektor in Strasbourg für den Rosenkavalier 48 Proben angesetzt, etwas, was heute gar nicht mehr machbar wäre. Aber die Arbeit, die er damit geleistet hat, die Spuren, die er damit hinterließ, waren 20 Jahre später noch hör- und spürbar. Charles Munch kam oft mit dem Orchéstre National de France zu unserem Festival, im Mai 1952 sogar mit seinem Boston Symphony Orchestra. Viele sehr namhafte Dirigenten gastierten in Strasbourg schon zur Zeit, als die Stadt noch zwei Symphonieorchester besaß. Monteux dirigierte in den Nachkriegsjahren hier den Sacre du printemps von Strawinski, ein Glanzwerk das er 1913 bei den Ballets russes uraufgeführt hatte.
Das Straßburger Musikfestival im Juni hat viele große Dirigenten eingeladen. In Baden-Baden und in anderen Festivals hat man bedeutende Sommitäten am Pult sehen können. Die Dirigenten, die man nicht live angetroffen hat, so Leonard Bernstein (er starb kurz bevor er in Strasbourg gastieren sollte), sind noch auf dem Fernsehschirm sichtbar. Heute entgeht einem kein großer Interpret mehr.
Lassen Sie uns noch ein wenig über die Feinheiten einer Kritik sprechen…
Man sagt, es gäbe einen Unterschied allein schon zwischen französischen und deutschen Kritiken. Auf rechter Seite des Rheins sind die Kritiken meist ausführlicher. Hier im Elsass schreiben wir vielleicht gründlicher über Musik als in anderen Gegenden des Landes, weil unser Konzertleben hier eine lange Tradition besitzt. Andererseits muss man auch feststellen, dass eine Zeitung ein industrielles Produkt ist, und in einer Tageszeitung wenig Platz für lange und allzu scharfe Analysen ist. Der Platz in einer kulturellen Seite ist heute eng bemessen und im Gegensatz zu früher hat sich das Angebot an Konzerten sehr erweitert.
Mit der Zeit habe ich meine Leserschaft oft auch persönlich kennen gelernt und als eine kleine Aufmerksamkeit für sie gebe ich , wenn es geht, den Titel der Zugaben an, wenn es diese im Konzert gibt. Denn ich weiß genau, dass viele Hörer wissen wollen, was nicht im Programm gestanden ist, aber vor allem erwarten sie eine solide wenn auch kritisch fundierte Erläuterung des Konzertgeschehens. Der Artikel soll ihre Rezeption der Musik stärken, und vielen Menschen immer wieder Lust geben ins Konzert oder in die Oper zu gehen.
Was ist für Sie die größte Herausforderung?
Die Schwierigkeit, umfassend in dem Format, das einem zur Verfügung steht, zu berichten. Der erste Satz einer Kritik ist am Schwierigsten zu verfassen. Von diesen ersten Zeilen ausgehend baut sich die Kritik auf, und die Sätze fließen aus der Feder. Grundsätzlich darf der Musikkritiker nie vergessen, dass auch er eine Verantwortung trägt, in Hinsicht auf das kulturelle Leben seiner Stadt und dass es auch ihm obliegt, Anwalt der geistigen und humanistischen Werte der Kunst zu sein. Eitelkeit ist da nicht angebracht.
Stéphane Hessel, 93jähriger, französischer Grandseigneur, war am 10.2. vom Europarat und der Stadt Straßburg zum „Dialogue de Strasbourg“ eingeladen worden. Der unglaublich virile ehemalige Diplomat kam dieser Einladung gerne nach, konnte er doch dabei sein Buch „Indignez -vous!“ zu Deutsch: „Empört Euch!“ promoten.
Wie bei einem richtigen Popkonzert wartet das Publikum gut eine halbe Stunde länger auf den Auftritt des Stars. Immer strömen noch mehr Zuhörerinnen und Zuhörer in den Saal, in dem sich schließlich viele auch auf den Treppen zwischen den Sitzreihen niederlassen müssen. Als er auf die Bühne kommt, beginnt es im Raum zu kochen. Standing ovations mit frenetischem Applaus begrüßen den alten Herren und das zu Beginn einer Veranstaltung, bei der es um politische Ansichten und die Aufforderung zum Handeln geht – ganz abseits von einer Parteienveranstaltung. Wer hat das schon gesehen?
Stéphane Hessels Biographie liest sich wie ein Schnelldurchlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Siebenmeilenstiefeln, in denen ein Mann steckte, der aufgrund seiner Herkunft und seines eigenen Tuns heute für viele als Vorbild gelten kann. Sein neuestes Werk, ein Büchlein mit gerade einmal 32 Seiten, schlägt in Frankreich alle Verkaufsrekorde. Seit seinem Erscheinen im Oktober 2010 bis Ende Januar ging es 1,3 Millionen Mal über die Ladentische. Der Dumpingpreis von 3,– Euro, aber auch die gute Platzierung direkt neben den Kassen der unabhängigen Buchhandlungen, sowie Hessels Auftritt in einer Fernsehshow zu später Sendezeit reichte, um diese verlegerische Erfolgsgeschichte zu schreiben, möchte man meinen. Doch ganz so einfach ist das „Bestsellerrezept“ nicht.
Es gibt mehrere Faktoren, die für diesen Verkaufshit verantwortlich sind. Der erste muss den Verlegern – Indigène aus Montpellier, herausgegeben in der Reihe „Ceux qui marchent contre le vent“ – zugeschrieben werden. Sie waren es, die auf Hessel aufmerksam geworden waren, ihn um ein Treffen baten und dabei im Anschluss in wenigen Sceancen notierten, was der alte Herr zum Thema Empörung zu sagen hatte. Somit war es nicht Hessel, der von sich aus einen Verlag gesucht hat, sondern der Verleger suchte sich seinen Autor – ganz zeitgeistig – beinahe wie im Sinne der heutigen Castingshows. Ursprünglich sollten seine Erfahrungen in der Résistance im Zentrum der Aufnahmen stehen; dass sich Hessel jedoch mit den 14 direkt ihm zugeschriebenen Seiten dann stärker mit einem Zukunftsprogramm an die junge Generation Frankreichs wandte, dürfte auch seine Auftraggeber verblüfft haben.
Den zweiten Faktor, der, abgesehen von der erwähnten Fleißaufgabe der Editoren, notwendig ist, dass ein Buch zum Bestseller avanciert, muss man schon etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ganz genau hinschauen bzw. hinfühlen zu jenen Menschen, die das kleine Büchlein vor Weihnachten oft gleich im Dutzendpack kauften, um damit ihre Freunde und Verwandtschaft zu beglücken. Und auch hier wiederum ist es à priori nicht der Inhalt, der viele Menschen in Frankreich aus dem Herzen geschrieben scheint, sondern ganz gewiss auch eine relativ banale Motivation: Wann kommt man schon in den Genuss, ein Weihnachtsgeschenk um heiße 3 Euro zu verschenken, bei welchem gleichzeitig die eigene intellektuelle Wachsamkeit mittransportiert wird!
Der dritte Faktor schließlich ist der interessanteste von allen. Denn liest man das kleine Pamphlet, fragt man sich, was Hessel denn darin so Neuartiges, so Einzigartiges von sich gegeben hätte, das nicht schon davor allen bekannt war? Nun, das Problem zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen ist es nicht, was die Nation bewegt. Wenn, dann schon eher spaltet. In jene, die meinen, Hessel agiere hier politisch völlig unkorrekt und würde sich zu sehr auf die Seite der Palästinenser stellen. Und anderseits in jene, die Hessels Argumentation folgen und meinen, Ungerechtigkeit muss beim Namen genannt werden, selbst auf die Gefahr hin, dass die Pro-Israelfront mit Schaum vor dem Mund herumläuft, angesichts ihrer nicht genügend hervorgehobenen Demütigungen und Terroranschläge, die das Land von der Hamas hinnehmen und erleiden musste und immer noch muss. Wie auch der Erfolg des Sarrazin`schen Werkes in Deutschland zeigt, ist ein vermeintlicher oder tatsächlicher Tabubruch immer auflagefördernd. Das scheinbar eindeutige zur Schau-stellen seiner nicht am Mainstream orientierten Meinung scheint den Erfolg zu begünstigen. Allerdings sei an dieser Stelle gesagt: Haltet ein, beide Parteien. Schaut genau hin, was Hessel schreibt und sagt, denn er tritt für einen Dialog ein, den er zugegebenermaßen als „extrem schwer“ aber „nicht unmöglich“ bezeichnet. „Es geht darum, diesen Konflikt ohne Gewalt auszutragen. Gewalt ist das falsche Mittel, Unterdrückung ist das falsche Mittel. Damit kann nie Frieden gedeihen“. Und dennoch wird er dabei scheel angesehen. Das ist wohl das Los und vielleicht auch das Erfolgsrezept jener, die Position beziehen und sich nicht scheuen, bis aufs Messer dafür kritisiert zu werden. Ganz abgesehen von dieser Polemik und Auseinandersetzung, die das Büchlein in politisch aktiven Kreisen ausgelöst hat, ist es viel stärker dafür berühmt geworden, zu einem urdemokratischen Misstrauen aufgerufen zu haben und ein aktives Einmischen in die Politik der Mächtigen zu fordern.
Doch zurück zur Erfolgsgeschichte und deren dritten Faktor: Gerade Stéphan Hessel schreibt man aufgrund seines Lebens und Wirkens ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu. Man nimmt es diesem liebenswerten und gleichzeitig scharfsinnigen Herren ab, dass es ihm nicht um politische Lorbeeren ging und geht. Er war nie verstrickt in tagespolitische Entscheidungen, war nie einer von „denen da oben“. Im Gegensatz zu Sarrazin war er nie aktiver Politiker, jedoch Zeit seines Lebens ein politischer Aktivist.„Schaut Euch um“, sagt der alte Herr direkt ans junge Publikum im Saal Schweitzer in Straßburg gewandt. „Rund um euch gibt es Dinge, die betreffen euch. Die machen euch betroffen, die wollt ihr so nicht hinnehmen. Es kommt ganz darauf an, was euch stört. Seien es soziale Ungerechtigkeiten zwischen Jung und Alt, sei es die schlechte Behandlung von Migranten in diesem Land, sei es das Abholzen der Regenwälder. Ganz nach Eurer eigenen Persönlichkeit gibt es Dinge, die Euch so, wie sie derzeit gehandhabt werden, nicht passen. Dagegen müsst ihr euch wehren“. Sagt er und schreibt er, wohl wissend, dass dieser Aufruf alleine nicht genügt. Die „Generation Fun“ ist ja angeblich immer darauf bedacht, ihren eigenen Vorteil bei allem Tun und Lassen zu sehen. So zumindest legt der Diskussionsleiter die Fährte in Richtung Spaßgesellschaft. Aber auch hier weiß Hessel Rat: „Ich sage Euch, weil ich es selbst erlebt habe, weil ich es selbst gefühlt habe. Sich für sein Land einzusetzen, oder heute noch darüber hinaus – sich einzusetzen für den Erhalt der ganzen menschlichen Rasse – ist etwas, dass noch viel mehr Glück bereitet als man es mit der Erfüllung der eigenen, privaten Wünsche erleben kann!“ Wer kann da noch etwas dagegen setzen? Hessel verschreibt Widerstand zur persönlichen Glücksanhebung auf Rezept, sozusagen. Das dürfte wohl der allergrößte Motivwandel sein, der Aufbegehren und Revolutionen bisher zugrunde lag. Sieht man eimal davon ab, dass die Grundbedürfnisse eines Menschen nach Maslow gedeckt sind! Und doch dürfte dieser Rat, dieses Rezept nicht das Schlechteste sein.
Der Zufall wollte es, dass Hessel am Vorabend der Mubark-Abdankung in Straßburg war und aufgrund einer Fehlinformation, der auch Amerika aufgesessen war, gleich nach dem Betreten der Bühne verkündete: „Ich kann euch mitteilen, dass Mubarak zurückgetreten ist“, was mit allgemeinem Applaus quittiert wurde. Es sollte zwar noch einen Tag länger dauern, dass Ägypten seinen seit über 30 Jahren amtierenden Präsidenten aus dem Amt demonstrierte. Aber der Bogen zwischen diesem Geschehen und Hessels Ausführungen ist dennoch extrem bemerkenswert. Denn Hessel sprach ein Dilemma der westlichen Demokratien an, das mit einer Politikverdrossenheit vor allem der jungen Menschen einhergeht: „Wenn man den Krieg zwischen seinen Händen hält, ist es leicht, gegen etwas zu sein, sich zu empören!“ Was Hessel im Hinblick auf seine Jugend meinte, wird mit einem kleinen Blick nach Ägypten wie unter einem Brennglas beleuchtet. Es ist gefühlsmäßig leicht nachvollziehbar, dass in diesem arabischen Land Massen auf die Straße gingen und der psychologischen Kriegsführung der Führungselite Paroli bot. Wo es keine Demokratie gibt, die vom Volk getragen ist, wo Menschenrechte, wie in Europa gelebt, nur ein Traum sind, wo es nur einigen wenigen vorbehalten ist, Karriere zu machen, viele aber weit unter der Armutsgrenze leben müssen, da ist es tatsächlich die mannigfaltige Not, die man zwischen den Händen hält und die so unter den Nägeln zu brennen beginnt, dass man sich dagegen empören muss. In Tunesien und in Ägypten, aber auch allen anderen islamischen Ländern, in denen Menschen ohne direkte Demokratie mit freien, unmanipulierten Wahlen leben müssen, ist es leicht und zugleich unsagbar schwer, sich zu empören. Für über 300 Menschen in Ägypten so schwer, dass sie dabei ihr Leben verloren.
In Frankreich muss Stéphane Hessel von Veranstaltung zu Veranstaltung reisen, sich selbst als Vorzeigegutmenschen präsentieren und den jungen Menschen mehr Glück versprechen, damit sie sich politisch und sozial engagieren, um – vielleicht – etwas bewirken zu können. „Etwas“ in Hessel´schem Sinne meint: einen Fortschritt für die Gemeinschaft erkämpfen. Die Menschenrechte stärken, die, auch mehr als 63 Jahre nach ihrer Deklaration nichts an Aktualität und Notwendigkeit eingebüßt haben. In Frankreich füllt Stéphane Hessel Säle mit einigen hundert Menschen, in Straßburg gut einem Drittel davon im Studentenalter. In Ägypten demonstrierten Millionen hoch motivierter Menschen. Dort brauchte es keinen Hessel, der die Jungen zum Widerstand aufrief. In Frankreich, aber darüber hinaus auch in ganz Europa, ja eigentlich der gesamten westlichen Welt, braucht es aber Menschen wie Stéhane Hessel, die den Jungen die Augen öffnen und ihnen aufzeigen: „Ohne Euch geht es nicht!“ Dass der große alte Herr des Widerstandes – „ich bin ein Freund von Aufmüpfigkeit“, sich 2010 auf die Liste der Grünen im Regionalwahlkampf um Paris setzen ließ straft all jene Lügen, die ihn ausschließlich für einen eingefleischten Linken halten. „Daniel Cohn Bendit ist so ein Aufmüpfiger, deshalb habe ich ihn gerne unterstützt“ fügt er mit einem unglaublichen Schalk im Auge seinen erklärenden Ausführungen hinzu – und – wer an diesem Abend dabei war weiß: das kam von Herzen.
Die Nähe der Veranstaltung in Straßburg und der Sturz Mubaraks am darauf folgenden Tag machte es überdeutlich. Abstrakter Widerstand, Widerstand, der aus der eigenen Persönlichkeit heraus wachsen muss, ohne große Unterstützung von der Familie, von Nachbarn oder Arbeitskollegen, ist nur ganz wenigen gegeben. Widerstand, der ein kollektives Erlebnis benötigt, dadurch erst möglich wird, ist jener, der, zumindest hat es auf den ersten Blick so den Anschein, nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheint. Einige werfen Hessel Anstiftung zum Aufruhr vor, den Aufruf zur Ungehorsamkeit quasi. Hätte Hessel in seiner Jugend diesen Ungehorsam kollektiv erleben können, der zweite Weltkrieg wäre diesem Planeten vielleicht erspart geblieben. Aus seiner Sicht hat er Recht. „Indignez vous! Empört euch!“ bevor es tatsächlich wieder zu spät ist! Aber so sollte man auch hinzufügen – schaut genau hin, bevor ihr euch empört! Denn auch der Nationalsozialismus, der für Stéphan Hessels Engagement für Frieden und Menschenrechte ausschlaggebend war, wird gerade an seinem Beginn häufig als eine instrumentalisierte Empörungsbewegung der Jungen angesehen. Deshalb sollte man, nein – muss man – bei aller Empörung auch immer noch so viel kühlen Kopf behalten, dass man seine Empörung nicht den falschen Agitatoren opfert.
Empörung ja, aber immer im Sinn der Menschenrechte und der Erhaltung der natürlichen Ressourcen. Wer sich nur empört, um des Empören willen, kann mit Stéphan Hessels Segen nicht rechnen.
Interview mit dem Autor und Regisseur René Pollesch
René Pollesch (c) Robert Lyons
Sie verfolgen in Ihren szenischen Arbeiten eine nicht-direktive Vorgehensweise bei der Erarbeitung der Stücke und binden die Schauspieler von Anbeginn in die szenische Umsetzung ein. Dabei betonen Sie auch immer wieder, dass Sie Ihre Stücke für Sophie Rois schreiben. In „Ein Chor irrt sich gewaltig“, das im Le-Maillon in Straßburg aufgeführt wurde, ist dies besonders gut spürbar, lebt das Stück ja zu weiten Teilen von der Impulsivität, dem Charme und dem Charisma der Schauspielerin. Wenn Ihre Stücke in Zukunft auch von anderen Regisseuren inszeniert und mit anderen Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt werden – können Sie sich das ohne „Qualitätsverlust“ oder präziser ohne Verlust der Authentizität vorstellen?
Unsere Stücke werden nicht von anderen Regisseuren und Schauspielern nachgespielt. Das war uns ganz wichtig, klarzustellen, daß es hier um eine Theateraufführung geht und nicht um eine Blaupause und einen Plan, mit dem weitere Klone hergestellt werden könnten. Nein, es gibt nur diesen Abend. Alles andere wäre in der Tat ein Qualitätsverlust, in jedem Sinne. Literatur nachspielen hat nichts mit unserer Praxis zu tun. Ich hab den Abend nicht „für“ Sophie Rois geschrieben. das heißt, sie war nicht gezwungen ihn „entgegenzunehmen“, wie das sonst Praxis ist, wenn sich ein Autor scheinbar vor Schauspielern verbeugt. Das ist normalerweise eine sehr patriarchale Geste, das Niederknien des Regisseurs vor einer Schauspielerin. Ich habe für alle beteiligten Schauspieler Texte geschrieben und sie sagen an dem Abend, die Texte des ganzen Materials, das ich herangeschafft habe, die sie sagen wollen. Die Texte, die ihnen einen Grund geben, auf die Bühne zu gehen.
Das Stück, das in Straßburg im Le-Maillon gezeigt wurde, arbeitet wie „Mädchen in Uniform“ mit einem ständigen Rollenwechsel der Schauspielerinnen und Schauspieler und nimmt vor allem in großen Teilen Bezug auf typische, man könnte sagen, ikonenhafte Szenen des Theaters oder auch der Oper. Damit reihen Sie sich in den jahrhundertelangen Diskurs über Sinn und Wirkung des Theaters mithilfe des Theaters selbst. Macht es überhaupt noch Sinn, über Sinn und Wirkung des Theaters zu diskutieren?
Wir diskutieren nicht über Sinn und Wirkung des Theaters, wir versuchen aber alles zu berücksichtigen, damit das Theater eine Wirkung hat. Und nicht nur automatisch wirkt, weil alle an die Verabredung glauben. Ich muß dafür sorgen, daß das Theater eine Wirkung hat und darf nicht auf den Konsens vertrauen, daß das Nachspielen der Klassiker schon Wirkung genug ist. Daran glaub ich nicht.
Bleiben wir beim konkreten Beispiel „Ein Chor irrt sich gewaltig“. Sie lassen Ihre Charaktere zum Teil kurze Monologe sprechen, in welchen sie unter anderen philosophisch-ökonomische Fragestellungen, die sich in der jetzigen Phase des Kapitalismus stellen, anreißen, aber nicht mehr. Vom Textumfang her sind das oft nur Einschübe, welche die boulevardesken, parallelen Handlungsstränge unterbrechen. Wie definieren Sie in diesem Zusammenhang Ihre Aufgabe, oder auch Ihre Rolle als Autor?
Es wird in „Chor“ schon eine zusammenhängende Debatte über die Kapitalismuskritik im Theater geführt. Ein paar Sachen werden angerissen, wie z.B. Mindestlohn etc. Aber unsere Kritik an einer theatralen Kapitalismuskritik ist schon geschlossen.
Ihre Arbeiten wurden schon mehrfach im Le-Maillon in Straßburg gezeigt. Haben Sie, als Sie „Ein Chor irrt sich gewaltig“ geschrieben haben, schon gewusst, oder damit geliebäugelt, dass dieses Stück auch in Frankreich gezeigt werden wird? Es hat ja mannigfaltigen Frankreich-Bezug, besonders in der Szene, in welcher in schon ikonoklastischer Art und Weise auf den Croissants herumgetrampelt und mit Baguettes herumgeworfen wird. Hat das Publikum in Straßburg speziell in diesen Szenen anders auf das Stück reagiert als in Deutschland?
Ich war in Straßburg leider nicht dabei. Daß der Abend so frankophil wurde, hat mit Brigitte Cuvelier und Jean Chaize zu tun. Die machten uns auf Moliere aufmerksam und auf die Idee des Films „Das Leben ist ein Chanson“. Danach kamen eben auch die Croissants dazu.
Wenn Sie selbst Ihre Arbeiten betrachten, Ihre eigene Entwicklung entlang Ihrer eigenen Stücke. Würden Sie heute noch alle so stehen lassen?
Im Theater muß ja nichts stehen bleiben. Die Abende von früher gibt es ja nicht mehr. Und an Literatur glaube ich nicht.
Gibt es für Sie einen Vorzug, den das Theater gegenüber der Allmächtigkeit des Fernsehens und des Films aufweisen kann?
Fernsehen und dem Film geht es ja gar nicht mehr gut. Im Moment haben wir es mit einer Allmächtigkeit des Internet. Mit Google und Facebook zu tun. der Vorzug des Theaters ist für mich seine Vergänglichkeit, die es andererseits aber langlebiger macht, als zum Beispiel Film und Fernsehen.
Die Theaterdirektorin Julie Brochen (c) Christophe Urbain
Interview mit der Theater- und Schauspielschuldirektorin des TNS Julie Brochen
Das TNS, das Théatre national de Strasbourg, ist ein großer Gebäudekomplex aus dem 19. Jahrhundert, von außen unnahbar, innen jedoch zeitgemäß adaptiert und voll Leben. Das nach Paris zweite französische Nationaltheater mit einer angeschlossenen Schauspielschule weist eine Besonderheit auf. Es wird von einer Frau geleitet. Julie Brochen steht seit 2 Jahren dem Theater sowie der Schule als Direktorin vor und leistet dort eine bemerkenswerte Arbeit. Es ist ein leicht erklärbares Phänomen, dass der Geist eines Hauses maßgeblich von der Leitung bestimmt wird; dass dieser Geist jedoch auch auf das Publikum überschwappt, ist nicht immer der Fall. Beim TNS ist dies jedoch unübersehbar, bzw. deutlich spürbar. Julie Brochen, die sich Zeit für unser Gespräch genommen hat – und zwar – „selbstverständlich“, wie sie selbst es ausdrückte – logiert nicht, wie man erwarten könnte in einem großen Büro, das Platz für Sitzungen und Gespräche mit mehreren Leuten hat. Es liegt nicht am Ende oder am Beginn eines langen Ganges, den man ehrfürchtig durchschreiten muss, um zu ihr zu gelangen, sondern eingepfercht zwischen anderen kleinen Büros, die, so wie das ihre, nicht mehr als einen Schreibtisch, zwei Sessel und ein Bücherregal aufweisen. Julie Brochen sieht nicht aus wie eine Direktorin, sie residiert in keinem Büro einer Direktorin und sie gibt sich nicht wie eine Direktorin. Aber sie ist eine. Und man möchte hinzufügen – dennoch eine wie aus dem Bilderbuch.
Ob sie eine freundschaftliche Führungsart praktiziere, frage ich gleich zu Beginn. „Sie hofft es“, ist ihre Antwort, mit einem kleinen Lächeln. Kennt man ihre Auftritte bei Pressegesprächen, sieht man sie bei offiziellen Anlässen beim Small Talk, dann weiß man und spürt man, dass es wirklich so ist. Ob Freundschaft etwas Wichtiges für sie sei, ist eine weitere Frage und ob die auch bei der Arbeit zum Tragen komme: „Ja sehr“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Aber Julie Brochen relativiert rasch ein wenig. Sie könne Freundschaft und Arbeit gut trennen, das eine würde manches Mal mit dem anderen nicht kompatibel sein. Sie hätte schon in der Vergangenheit bewiesen, dass man da eine klare Trennungslinie ziehen muss und wenn es nicht geht, einen Schlussstrich unter solch eine Arbeit und wahrscheinlich würde das auch in Zukunft wieder passieren. Aber grundsätzlich stehe sie dazu. „Verbindungen, die man sich im Leben aufgebaut hat und auf die man auch zählen kann, sind wichtig, sehr wichtig sogar.“ Und dann fügt sie hinzu: „Abgesehen davon, dass ich nicht gut arbeiten kann, wenn es dabei Konflikte gibt.“ Hier ist es wieder, diese Nachsicht, diese Offenlegung der eigenen Schwäche, die Julie Brochen so ungemein liebenswert macht. Wie sehr sie fähig ist, auch wichtige Lebensverbindungen von anderen zu erkennen und anzuerkennen, zeigte sie unlängst mit einer berührenden Besetzung. Für den „Kirschgarten“ von Anton Tschechow in der letzten Saison, den sie selbst inszenierte, verpflichtete sie André Pommarat, den mittlerweile 80jährigen Doyen des TNS, der viele Jahre vom Theaterbetrieb seines ursprünglichen Stammhauses abgeschnitten gewesen war. Jeder, der diese Aufführung gesehen hat, war beeindruckt von seinem Auftritt und noch mehr von der Besetzungsidee an sich. Eine um eine Generation jüngere Theaterdirektorin holt einen Mann an das Haus zurück, der dort Theatergeschichte schrieb, als sie noch in die Grundschule ging. Welch eine Geste, welch ein Handschlag mit der Vergangenheit, der zugleich weit in die Zukunft reicht.
Was denn ihre Direktion ausmache, was dabei wohl einzig sei, möchte ich erfahren und wieder kommt eine Antwort ohne eine Sekunde Verzögerung. „Dass ich eine Frau bin“. Das sitzt. Wir befinden uns im Jahr 2010 und man möchte meinen, dieses Thema hätte sich erledigt. Mitnichten. „Ich war die zweite Frau, die in Frankreich an einem der wichtigen Theater eine Direktionsstelle bekommen hat. Vor mir war es nur Muriel Mayette, die an die Comédie-Française berufen wurde. National gesehen sind wir bis jetzt 5!“ 5, das ist gerade eine Handvoll, nicht mehr. „Und es ist nach wie vor schwer, an einem Posten wie diesem zu sitzen. Wir müssen besser sein als die Männer, mehr leisten, haben es schwerer in den Verhandlungen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass ich den Job sicher bekommen habe, weil die Zeit dafür reif war und weil es gesellschaftspolitisch erwünscht war, eine Frau an die Spitze zu setzen. Ich war die einzige Frau, die vorgeschlagen wurde und das war zugleich mein Glück. Ich bin mir dessen bewusst.“ Das Frau-Sein als Makel und als Chance zu begreifen, die Bipolarität des Lebens, das ist etwas, was Brochen offenbar auch in anderen Bereichen fasziniert. „Dass es hier eine Schauspielschule gibt, in der ich auch neben meinem Job als Theaterdirektorin arbeiten kann, war ein großer Anreiz für mich, hier her zu kommen.“ Unterrichten, junge Menschen leiten, auf ihren Beruf vorzubereiten, das ist etwas, was die sanfte und zugleich so energiegeladene Julie Brochen offensichtlich gerne macht. Immer wieder kommt sie in unserem Gespräch auf diese Verbindung zurück. „Alles, was wir hier machen, ob am Theater oder in der Schule, ist irgendwie miteinander verwoben. Ob die Schauspieler oder Regisseure, ob die Bühnenbildner, sie alle arbeiten mit den Studenten und diese für sie. Die einen unterrichten in der Schule, die anderen treten in den Vorstellungen mit auf. Das Arbeiten mit den Studenten geht nicht darauf hinaus Fragen zu beantworten. Vielmehr ist es so, dass es auf viele Fragen ja keine endgültigen Antworten gibt und gerade in der Charakterbildung eines Menschen, in der Weiterentwicklung von jungen Menschen steht man vor wesentlich mehr Fragen als vor Antworten.“ „Sich selbst besser zu kennen“, das sei das Wichtigste für einen jungen Schauspieler. „Die Ausbildung ist eigentlich eine Übung zur Bescheidenheit. In ihr sollte mehr gesucht als gefunden werden, ja sie enthält sogar das Risiko, keine Antworten auf die Fragen zu finden, die man stellt. Ein Instrument oder ein Handwerk kann man erlernen, aber den Beruf eines Schauspielers, eines Regisseurs oder eines Bühnenbildners, den nicht“ und das sagt eine Frau, die an der Spitze der Hochschule für darstellende Kunst in Straßburg steht.
Sie lobt die anderen, direkt oder indirekt in unserem kurzen Gespräch mehrfach. Dass ihre Mitarbeiter ganz Außergewöhnliche seien, mit einem hohen Ausbildungsgrad und tollen Kompetenzen, kommt zum Beispiel als Seitenbemerkung . Oder dass das deutsche Publikum besonders wichtig für Straßburg und ihr Theater sei. Obwohl sich die deutsche Abonnentenzahl in Grenzen hält. „Unser Theater ist ja jenes Französische, das der deutschen Grenze am nächsten ist. Wir sind unmittelbar daran und es ist wichtig, ich empfinde es für wichtig, dass wir diese Grenzen permanent übertreten und sogar feiern.“ Das Miteinander, der Austausch sei so wichtig, die Grenzüberschreitung, das Feiern der Grenze. „Das Feiern der Grenze“ – poetischer kann man eine harmonische Beziehung zwischen zwei Grenzregionen kaum ausdrücken.
Grenzüberschreitend im wahrsten Sinne des Wortes agierte Julie Brochen kurz nach Saisonbeginn in diesem Jahr auch, als sie die schon bestehende, aber noch nicht benannte Spielstätte abseits des traditionsreichen Theaters im Zentrum, in der Rue Jacques Kablé, auf den Namen Klaus Michael Grüber taufen ließ. Diese Spielstätte, die hauptsächlich vom Theaternachwuchs für Aufführungen genutzt wird, trägt nun den Namen jenes charismatischen deutschen Theatermannes, der in den 80ern und 90ern mit einigen Inszenierungen und seiner Arbeit unter anderen an der Comédie-Française auch in Frankreich für reichlich Aufsehen sorgte. Sie selbst war 15 Jahre alt, als sie die Arbeit von Grüber kennen lernte. „Er war ein Revolutionär des Theaters und hat die europäische Szene erhellt“, erklärt Brochen ihre Sicht auf Grübers Wirken. Mit der Benennung der zusätzlichen Spielstätte möchte sie „ein starkes Zeichen setzen, an einem Ort der Zusammenkunft“. Wie stark das Zeichen gleich zu Beginn war, zeigte die Eröffnungsfeier, zu der niemand Geringerer geladen war als Bruno Ganz, Michel Piccoli, Hanna Schygula, Angela Winkler und Jean Pierre Thibaudat, um nur einige Prominente zu nennen. Wer aber nun glaubt, dass ob dieses Aufgebotes der rote Teppich ausgelegt worden war, der irrt gewaltig. Was zu erleben war, war eine schlichte Feier, bei der der Arbeit von Grüber gedacht wurde und jeder einzelne und jede einzelne der prominenten Festgäste ihren Beitrag dazu leisteten. Ob es eine Erzählung war, wie Schygula Grüber kennenlernte, eine musikalische Referenz von Angela Winkler oder auch eine schlichte Verbeugung von Bruno Ganz – alle Gesten, alle Auftritte stellten die eigene Künstlerpersönlichkeit in den Hintergrund, um Klaus Michael Grüber gebührend zu gedenken. Ein zu Herzen gehender Abend, der die typische Handschrift von Julie Brochen trug und auch von den deutschen Nachbarn als Geste empfunden werden kann, dass gutes Theater grenzüberschreitend wirkt.
Die Theaterdirektorin denkt immer in einer Periode von drei Jahren. „Am Ende eines jeden Jahres steht das komplette Programm für das nächste Jahr fest. Dabei müssen wir auch die Schulaufnahmsprüfungen mitbedenken, deren Vorarbeiten auch immer enorm sind. Jede Saison hat ihren eigenen Geschmack, der von verschiedenen Gerichten bestimmt wird. Erst, wenn das gesamte Menü gegessen ist, kann man beurteilen, wie es eigentlich war“, drückt Julie Brochen die Einzigartigkeit jeder Saison metaphorisch aus. Das provoziert natürlich die Frage, wie denn der Geschmack der Saison 2010/11 aussähe: „Das ist eine gute Frage! Ich glaube man könnte sagen, wir suchen das Moderne im klassischen Repertoire. Ich finde es falsch, eine Debatte zwischen Alt und Neu aufzuziehen. Wir möchten die Aktualität aufzeigen, die auch bekannte, historische Stücke in sich bergen. Dann wird Alain Françon, der die Stücke von Feydeau inszeniert, die nächsten drei Jahre über auch mit den Schauspielschülern der Gruppe 40 arbeiten, die hier gerade aufgenommen wurde. Und darüber hinaus gibt es viele Querverbindungen zwischen Inszenierungen und der Schule.“
Was denn einzigartig am Theater in Straßburg sei, möchte ich darauf hin wissen: „Ich glaube, dass das Theater allein schon aufgrund seiner langen Vergangenheit und seiner Schule eine außergewöhnliche Arbeit leistet. 50% unserer Besucher sind jünger als 26 Jahre, das ist eine enorme Zahl. Ich glaube, dass wir hier sehr kollegial arbeiten und wirklich jeder mit Enthusiasmus am Werk ist. Unser Programm ist auch sehr kontrastreich – das finde ich besonders wichtig, damit jeder etwas für sich darin finden kann.“
Für meine Abschlussfrage, ob es denn einen Wunsch gäbe, den Julie Brochen für ihr Haus hat, braucht die Theaterdirektorin keinen Augenblick, um zu antworten: „Oh ja, ein freies Budget wäre schön und natürlich die Möglichkeit, hier am Haus eine eigene Truppe aufzubauen. Ein richtiges Ensemble mit mindestens 15 Personen; darunter einige, die aus der Schauspielschule aufgenommen werden könnten – das wäre toll. Ein Ensemble, dass von verschiedenen Regisseuren geleitet werden könnte, nicht nur von mir!“ Und nach einer kurzen Zehntelsekunde Nachdenkpause fügt sie bestimmt und lachend zugleich hinzu: „Genau dafür bin ich ja da!“
Interview mit Patrick Minard, dem Generaldirektor des OPS, des Philharmonischen Orchesters von Straßburg
Herr Minard, Sie sind jetzt seit – ich glaube – etwas über 10 Jahre Direktor vom OPS
Es sind exakt 10 Jahre. Im März 2000 wurde ich berufen und im Juli 2000 habe ich beim OPS begonnen.
Wie würden Sie Ihre Rolle, oder Aufgabe als Direktor kurz beschreiben?
Ich bin ein Garant der Institution und schütze diese vor etwaigen Beeinträchtigungen, die sie in Gefahr bringen könnten. Wenn Sie so wollen, bin ich auch der Verteidiger des Orchesters.
Gegen wen oder was müssen Sie das Orchester verteidigen?
Gegen vielerlei Einflüsse, die dem Orchester schaden können. Ich muss es zum Beispiel gegen ein Programm verteidigen, das weder für das Orchester noch für das Publikum gut wäre. Oder, wenn es notwendig ist, muss ich die Interessen des Orchesters auch gegen politische Einflüsse verteidigen. Wenn Sie so wollen, garantiere ich für die Umstände, die das Bestehen des OPS ermöglichen.
Was ist dazu notwendig, was sind die wichtigsten Eigenschaften, die der Direktor eines Orchesters mitbringen muss?
Er muss die Musik und die Musiker lieben. Er muss die Psychologie von Musikern verstehen und ein „intuitives“ und nicht „objektives“ Management wie z. B. in einem Aktienbetrieb führen.
Was meinen Sie genau mit intuitivem Management?
Die Leitung eines Orchesters unterscheidet sich wesentlich von den Managementaufgaben eines Fabrikvorstandes. Ich muss im Interesse der Institution auf meine eigene Intuition hören. Ich muss im Interesse der Musiker handeln, zu Ihnen Vertrauen aufbauen, aber gleichzeitig die institutionelle Seite im Auge behalten und beachten.
Die Managementleitung ist bei den Konzerten des OPS immer präsent. Das ist auffallend, ist das in Frankreich allgemein so üblich?
Das kann ich nicht sagen, ob das allgemein üblich ist. Bei uns ist es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz , eigentlich empfinden wir das für natürlich. Einerseits ist es so, dass man, wenn man den ganzen Tag im Management arbeitet, man leicht vergessen könnte, wofür man eigentlich arbeitet, man kann die Musik darüber leicht vergessen. Und andererseits ist es aber auch wichtig den Musikern im Orchester zu zeigen, dass wir hinter ihnen stehen, mit ihnen ein Team bilden.
Das OPS zeichnet sich in der Zusammensetzung dadurch aus, dass es eine sehr ausgewogene Altersstruktur hat. Es gibt viele junge Musiker aber auch viele, die schon eine große Erfahrung aufweisen. Wer ist denn für die Auswahl verantwortlich?
Die Zeit!
Die Zeit, was heißt das genau?
Seit meiner Direktionszeit wurden in den 10 Jahren ca. 20-22 Musiker neu aufgenommen, das sind im Schnitt zwei im Jahr. Es ist ein natürlicher Abgang. Es ist aber wichtig zu wissen, dass ein Orchester nur mit jungen Musikern allein nicht funktioniert. Wir nehmen gerne bei der Besetzung der Solostellen junge Leute, weil sie oftmals hoch motiviert sind und jene, die schon länger beim Orchester sind wieder mitreißen können. Aber den Klang eines Orchesters machen zum großen Teil jene Musiker aus, die schon lange beim Orchester selbst sind. Wenn man bedenkt – ältere Musiker hatten die Gelegenheit mit Dirigenten zusammenzuarbeiten, die die Wurzeln ihrer Erfahrungen noch im 19. Jahrhundert hatten. Das ist eine enorme Bereicherung für das Orchester an sich, denn die erfahrenen Musiker machen den Klang eines Orchesters aus. Das OPS kann sich auf seiner Alterspyramide entspannt ausruhen, weil sie so ausgewogen ist. Ein Orchester nur mit jungen Solisten allein kann nicht wirklich gut sein. Das haben auch verschiedene „Experimente“ gezeigt, in denen man hochrangige und ausgezeichnete Dirigenten einem Orchester vorstehen ließ, die nur aus jungen Solisten bestanden. Nach zwei, drei CD-Aufnahmen wurden diese Experimente wieder eingestellt, weil man gemerkt hat, dass das so nicht funktioniert. Aber oftmals ist es auch nicht die freie aktive Auswahl, die bestimmt, wie das Orchester zusammengesetzt ist, sondern auch, was sich aus den Umständen ergibt, was auch pflichtmäßig eingehalten werden muss. Die Rotation in einem Orchester ist enorm wichtig, aber auch sehr fragil. Deswegen ist das intuitive Management, von dem ich vorher sprach, unerlässlich. Zu wissen, intuitiv zu erfassen, wer an welche Stelle passt und warum.
Wie gestalten sich bei Ihnen die Neubesetzungen?
Wir schreiben die neue Stelle aus, die dann im Wettbewerbsverfahren besetzt wird. Die Musiker spielen bei uns hinter einem Paravent, sodass wir sie nicht sehen können und unbeeinflusst bleiben. Das Gremium setzt sich aus dem musikalischen Direktor, dem Konzertmeister, einem Spezialisten des jeweiligen Instrumentes zusammen, den wir einladen, aus einer Vertretung des Orchesters sowie dem betreffenden Stimmführer.
In dieser Saison werden viele Stücke gespielt, die man nicht oft hört oder die in Straßburg schon lange nicht gespielt wurden. Ist das eine große Herausforderung für die Orchestermusiker?
Ja, schon. Denn wenn man neue Stücke erarbeitet, dann braucht es eine gewisse Zeit, bis man den Stil des jeweiligen Werkes wiedergeben kann. Das OPS hat oft eine doppelte Identität. Sowohl eine deutsche, als auch eine französische, was sich aus der Geschichte bedingt. Das heißt, das Repertoire des Orchesters ist nicht wirklich in der französischen Musik verankert. Auch der jetzige musikalische Direktor, Marc Albrecht, hat seine Wurzeln nicht in der französischen Musik, was sich auf das Programm ebenso auswirkt. Die Geschichte des OPS ist stark mit jener Europas verbunden und war auch immer von den jeweiligen künstlerischen Leitern mitbestimmt. Einer der wichtigsten war Ernest Bour. Unter ihm erlebte das Orchester Glanzzeiten; er war stark in die zeitgenössische Musikszene eingebunden, was sich auch auf das Orchester auswirkte. Ich habe Gespräche mit der Leitung des Festivals Musica geführt, weil wir die Absicht haben, mit diesem Festival in Zukunft zusammenzuarbeiten. Das wird dann unter einem neuen künstlerischen Leiter stattfinden, von dem wir uns auch wünschen, dass er in Straßburg direkt lebt. Es ist wichtig, dass er seine Verbindungen zu den Institutionen vor Ort verstärkt und direkten Kontakt pflegt.
Wir sprachen über Marc Albrecht, dessen Zeit als künstlerischer Leiter ja ausläuft. Wenn er das OPS dirigiert, ist das zu hören, denn er hat eine eigene Art, die Stücke sehr genau zu analysieren, ist dann aber in seinem Auftritt sehr emotionell.
Ja, man könnte sagen, Marc Albrecht sucht die Emotion in der Genauigkeit und nicht im Pathos. Er sucht immer das Konzept in der Musik, wie es auch zum Beispiel der Geiger Christian Tetzlaff , oder der Pianist Lars Vogt machen. Er entdeckt in den Werken, zum Beispiel den spätromantischen, jene zeitgenössische Komponente, die ihnen zur Zeit ihrer Entstehung eigen war. Das ist nicht immer einfach in der Erarbeitung von Stücken, denn einige Musiker verstehen diese Art des Zugangs nicht.
Es steht ja nicht nur die Bestellung eines neuen künstlerischen Leiters an, sondern es wird auch darüber gesprochen, dass das PMC umgebaut werden soll. Wird das das OPS direkt betreffen?
Oh ja, sehr stark sogar. PMC bedeutet ja „Palais de la musique et des congrès“ – also ein Gebäude für die Musik und für Kongresse. Als es gebaut wurde, stand die Musik im Vordergrund, aber in den letzten Jahren hat sich das hin zu einer stärkeren Kongressnutzung entwickelt. Das bedeutet aber, dass wir mittlerweilen große Schwierigkeiten haben, unsere Proben durchzuführen. Und diese Schwierigkeiten wirken sich bis nach Mulhouse aus, da unser Orchester ja auch die „Filiature“ (Opernhaus von Mulhouse) mitbespielt. Bis jetzt konnten der Direktor in Mulhouse, der Direktor der Oper hier in Straßburg, in der unser Orchester ja auch spielt, und ich diese Herausforderungen meistern. Aber es wird jetzt immer schwieriger. Es wird schon seit langer Zeit über den Neubau der Oper gesprochen, aber hier gibt es noch nichts Konkretes. Das OPS ist jetzt ein Orchester ohne ein eigenes Haus, über das es jederzeit verfügen kann. Deswegen würden wir uns wünschen, dass es zu einem Neubau von einer Konzerthalle käme, in der das OPS seine Proben ungestört abhalten kann – unter Umständen auf dem Ausstellungsgelände. Büros, die diesem Neubau angeschlossen sind, wären auch sehr sinnvoll. Die Halle sollte eine Mehrzweckhalle sein, die aber auch gleichzeitig als Aufnahmeraum verwendet werden kann. Die Konzerte könnten dann nach wie vor im Salle Erasme stattfinden, der ja 2000 Sitzplätze hat. Aber die Proben könnten in dem kleineren Raum ungestört abgehalten werden, was ja jetzt unser größtes Problem der Koordination mit den Kongressveranstaltern ist.
Haben Sie einen Wunsch für das Orchester, eine Zukunftsvision?
Ja, eigentlich schon. Ich würde mir so etwas wie eine Partnerschaft mit einem anderen europäischen Orchester wünschen. Ich könnte mir vorstellen, dass es zu einem gegenseitigen Austausch kommt. Zu einem Austausch unserer Solisten, aber auch der Dirigenten. Es wäre möglich, dass unser Orchester einmal für zwei oder drei Wochen in der Partnerstadt arbeitet und auch umgekehrt. Es ist ja sehr spannend, welche kulturellen Unterschiede es gibt. Alleine, wenn man daran denkt, dass die Bassisten in Deutschland den Bogen anders halten als in Frankreich! Oder auch die Arbeitszeiten der Orchester, die gänzlich unterschiedlich sind und einen anderen Arbeitsrhythmus vorgeben. Es könnte hier zu einem gegenseitigen Austausch des Programms kommen. Man könnte auch die Schüler der Konservatorien gegenseitig austauschen und ihnen die Erfahrung des anderen Landes zuteil werden lassen. Unter Umständen wäre Dresden eine gute Wahl. Aber ich wünsche mir vor allem, dass das OPS einen künstlerischen Leiter bekommt, mit dem es wahrhaft Eins wird.
Was ist Ihrer Meinung nach das Highlight dieser Saison ?
Das sind die Gurrelieder die nicht nur in Straßburg, sondern auch danach in Paris, im Saal Pleyel gespielt werden. Sie sind ein ganz wichtiger Moment für das Orchester, aber auch für Marc Albrecht selbst. Sie stellen ein Verbindungsglied in der Musik dar, aber noch mehr. Sie fungieren auch als Verbindungsglied des Orchesters zwischen Marc Albrecht und seinem Nachfolger.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für das interessante Gespräch!
Kennen Sie eine Stadt, in deren Zentrum Schwäne, Enten, Störche und Bisamratten leben?
Straßburg zählt 272.000 Einwohner, wenn man das Umland dazurechnet sogar 640.000 Einwohner. Seine Schönheit zeigt sich in den architektonisch unterschiedlichen Vierteln. Beginnend von den mittelalterlichen Bauten im Stadtzentrum, über die „Neustadt“, die im 19. Jahrhundert unter Kaiser Wilhelm erbaut wurde, bis hin zu den Gebäuden der europäischen Gemeinschaft aus jüngster Zeit. Überall herrscht internationales, pulsierendes Großstadtleben. Den wirklichen Reiz aber erhält die Stadt durch ihre Naturfülle, der man auch im Zentrum auf Schritt und Tritt begegnet. Wer Zeit hat, besucht einen der vielen Parks der Stadt oder promeniert an der Ille entlang und erlebt dabei Natur pur.
Lassen Sie sich von den Impressionen verzaubern, die in Straßburgs Stadtmitte während eines 1stündigen Spazierganges am 30. Oktober 2010 fotografiert wurden.