Die Schauspielausbildung ist eine Übung zur Demut
30. November 2010
Interview mit der Theater- und Schauspielschuldirektorin des TNS Julie Brochen Das TNS, das Théatre national de Strasbourg, ist ein großer Gebäudekomplex aus dem 19. Jahrhundert, von außen unnahbar, innen jedoch zeitgemäß adaptiert und voll Leben. Das nach Paris zweite französische Nationaltheater mit einer angeschlossenen Schauspielschule weist eine Besonderheit auf. Es wird von einer Frau geleitet. […]
Michaela Preiner
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Die Theaterdirektorin Julie Brochen (c) Christophe Urbain

Interview mit der Theater- und Schauspielschuldirektorin des TNS Julie Brochen

Das TNS, das Théatre national de Strasbourg, ist ein großer Gebäudekomplex aus dem 19. Jahrhundert, von außen unnahbar, innen jedoch zeitgemäß adaptiert und voll Leben. Das nach Paris zweite französische Nationaltheater mit einer angeschlossenen Schauspielschule weist eine Besonderheit auf. Es wird von einer Frau geleitet. Julie Brochen steht seit 2 Jahren dem Theater sowie der Schule als Direktorin vor und leistet dort eine bemerkenswerte Arbeit. Es ist ein leicht erklärbares Phänomen, dass der Geist eines Hauses maßgeblich von der Leitung bestimmt wird; dass dieser Geist jedoch auch auf das Publikum überschwappt, ist nicht immer der Fall. Beim TNS ist dies jedoch unübersehbar, bzw. deutlich spürbar. Julie Brochen, die sich Zeit für unser Gespräch genommen hat – und zwar – „selbstverständlich“, wie sie selbst es ausdrückte – logiert nicht, wie man erwarten könnte in einem großen Büro, das Platz für Sitzungen und Gespräche mit mehreren Leuten hat. Es liegt nicht am Ende oder am Beginn eines langen Ganges, den man ehrfürchtig durchschreiten muss, um zu ihr zu gelangen, sondern eingepfercht zwischen anderen kleinen Büros, die, so wie das ihre, nicht mehr als einen Schreibtisch, zwei Sessel und ein Bücherregal aufweisen. Julie Brochen sieht nicht aus wie eine Direktorin, sie residiert in keinem Büro einer Direktorin und sie gibt sich nicht wie eine Direktorin. Aber sie ist eine. Und man möchte hinzufügen – dennoch eine wie aus dem Bilderbuch.

Ob sie eine freundschaftliche Führungsart praktiziere, frage ich gleich zu Beginn. „Sie hofft es“, ist ihre Antwort, mit einem kleinen Lächeln. Kennt man ihre Auftritte bei Pressegesprächen, sieht man sie bei offiziellen Anlässen beim Small Talk, dann weiß man und spürt man, dass es wirklich so ist. Ob Freundschaft etwas Wichtiges für sie sei, ist eine weitere Frage und ob die auch bei der Arbeit zum Tragen komme: „Ja sehr“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Aber Julie Brochen relativiert rasch ein wenig. Sie könne Freundschaft und Arbeit gut trennen, das eine würde manches Mal mit dem anderen nicht kompatibel sein. Sie hätte schon in der Vergangenheit bewiesen, dass man da eine klare Trennungslinie ziehen muss und wenn es nicht geht, einen Schlussstrich unter solch eine Arbeit und wahrscheinlich würde das auch in Zukunft wieder passieren. Aber grundsätzlich stehe sie dazu. „Verbindungen, die man sich im Leben aufgebaut hat und auf die man auch zählen kann, sind wichtig, sehr wichtig sogar.“ Und dann fügt sie hinzu: „Abgesehen davon, dass ich nicht gut arbeiten kann, wenn es dabei Konflikte gibt.“ Hier ist es wieder, diese Nachsicht, diese Offenlegung der eigenen Schwäche, die Julie Brochen so ungemein liebenswert macht. Wie sehr sie fähig ist, auch wichtige Lebensverbindungen von anderen zu erkennen und anzuerkennen, zeigte sie unlängst mit einer berührenden Besetzung. Für den „Kirschgarten“ von Anton Tschechow in der letzten Saison, den sie selbst inszenierte, verpflichtete sie André Pommarat, den mittlerweile 80jährigen Doyen des TNS, der viele Jahre vom Theaterbetrieb seines ursprünglichen Stammhauses abgeschnitten gewesen war. Jeder, der diese Aufführung gesehen hat, war beeindruckt von seinem Auftritt und noch mehr von der Besetzungsidee an sich. Eine um eine Generation jüngere Theaterdirektorin holt einen Mann an das Haus zurück, der dort Theatergeschichte schrieb, als sie noch in die Grundschule ging. Welch eine Geste, welch ein Handschlag mit der Vergangenheit, der zugleich weit in die Zukunft reicht.

Was denn ihre Direktion ausmache, was dabei wohl einzig sei, möchte ich erfahren und wieder kommt eine Antwort ohne eine Sekunde Verzögerung. „Dass ich eine Frau bin“. Das sitzt. Wir befinden uns im Jahr 2010 und man möchte meinen, dieses Thema hätte sich erledigt. Mitnichten. „Ich war die zweite Frau, die in Frankreich an einem der wichtigen Theater eine Direktionsstelle bekommen hat. Vor mir war es nur Muriel Mayette, die an die Comédie-Française berufen wurde. National gesehen sind wir bis jetzt 5!“ 5, das ist gerade eine Handvoll, nicht mehr. „Und es ist nach wie vor schwer, an einem Posten wie diesem zu sitzen. Wir müssen besser sein als die Männer, mehr leisten, haben es schwerer in den Verhandlungen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass ich den Job sicher bekommen habe, weil die Zeit dafür reif war und weil es gesellschaftspolitisch erwünscht war, eine Frau an die Spitze zu setzen. Ich war die einzige Frau, die vorgeschlagen wurde und das war zugleich mein Glück. Ich bin mir dessen bewusst.“ Das Frau-Sein als Makel und als Chance zu begreifen, die Bipolarität des Lebens, das ist etwas, was Brochen offenbar auch in anderen Bereichen fasziniert. „Dass es hier eine Schauspielschule gibt, in der ich auch neben meinem Job als Theaterdirektorin arbeiten kann, war ein großer Anreiz für mich, hier her zu kommen.“ Unterrichten, junge Menschen leiten, auf ihren Beruf vorzubereiten, das ist etwas, was die sanfte und zugleich so energiegeladene Julie Brochen offensichtlich gerne macht. Immer wieder kommt sie in unserem Gespräch auf diese Verbindung zurück. „Alles, was wir hier machen, ob am Theater oder in der Schule, ist irgendwie miteinander verwoben. Ob die Schauspieler oder Regisseure, ob die Bühnenbildner, sie alle arbeiten mit den Studenten und diese für sie. Die einen unterrichten in der Schule, die anderen treten in den Vorstellungen mit auf. Das Arbeiten mit den Studenten geht nicht darauf hinaus Fragen zu beantworten. Vielmehr ist es so, dass es auf viele Fragen ja keine endgültigen Antworten gibt und gerade in der Charakterbildung eines Menschen, in der Weiterentwicklung von jungen Menschen steht man vor wesentlich mehr Fragen als vor Antworten.“ „Sich selbst besser zu kennen“, das sei das Wichtigste für einen jungen Schauspieler. „Die Ausbildung ist eigentlich eine Übung zur Bescheidenheit. In ihr sollte mehr gesucht als gefunden werden, ja sie enthält sogar das Risiko, keine Antworten auf die Fragen zu finden, die man stellt. Ein Instrument oder ein Handwerk kann man erlernen, aber den Beruf eines Schauspielers, eines Regisseurs oder eines Bühnenbildners, den nicht“ und das sagt eine Frau, die an der Spitze der Hochschule für darstellende Kunst in Straßburg steht.

Sie lobt die anderen, direkt oder indirekt in unserem kurzen Gespräch mehrfach. Dass ihre Mitarbeiter ganz Außergewöhnliche seien, mit einem hohen Ausbildungsgrad und tollen Kompetenzen, kommt zum Beispiel als Seitenbemerkung . Oder dass das deutsche Publikum besonders wichtig für Straßburg und ihr Theater sei. Obwohl sich die deutsche Abonnentenzahl in Grenzen hält. „Unser Theater ist ja jenes Französische, das der deutschen Grenze am nächsten ist. Wir sind unmittelbar daran und es ist wichtig, ich empfinde es für wichtig, dass wir diese Grenzen permanent übertreten und sogar feiern.“ Das Miteinander, der Austausch sei so wichtig, die Grenzüberschreitung, das Feiern der Grenze. „Das Feiern der Grenze“ – poetischer kann man eine harmonische Beziehung zwischen zwei Grenzregionen kaum ausdrücken.

Grenzüberschreitend im wahrsten Sinne des Wortes agierte Julie Brochen kurz nach Saisonbeginn in diesem Jahr auch, als sie die schon bestehende, aber noch nicht benannte Spielstätte abseits des traditionsreichen Theaters im Zentrum, in der Rue Jacques Kablé, auf den Namen Klaus Michael Grüber taufen ließ. Diese Spielstätte, die hauptsächlich vom Theaternachwuchs für Aufführungen genutzt wird, trägt nun den Namen jenes charismatischen deutschen Theatermannes, der in den 80ern und 90ern mit einigen Inszenierungen und seiner Arbeit unter anderen an der Comédie-Française auch in Frankreich für reichlich Aufsehen sorgte. Sie selbst war 15 Jahre alt, als sie die Arbeit von Grüber kennen lernte. „Er war ein Revolutionär des Theaters und hat die europäische Szene erhellt“, erklärt Brochen ihre Sicht auf Grübers Wirken. Mit der Benennung der zusätzlichen Spielstätte möchte sie „ein starkes Zeichen setzen, an einem Ort der Zusammenkunft“. Wie stark das Zeichen gleich zu Beginn war, zeigte die Eröffnungsfeier, zu der niemand Geringerer geladen war als Bruno Ganz, Michel Piccoli, Hanna Schygula, Angela Winkler und Jean Pierre Thibaudat, um nur einige Prominente zu nennen. Wer aber nun glaubt, dass ob dieses Aufgebotes der rote Teppich ausgelegt worden war, der irrt gewaltig. Was zu erleben war, war eine schlichte Feier, bei der der Arbeit von Grüber gedacht wurde und jeder einzelne und jede einzelne der prominenten Festgäste ihren Beitrag dazu leisteten. Ob es eine Erzählung war, wie Schygula Grüber kennenlernte, eine musikalische Referenz von Angela Winkler oder auch eine schlichte Verbeugung von Bruno Ganz – alle Gesten, alle Auftritte stellten die eigene Künstlerpersönlichkeit in den Hintergrund, um Klaus Michael Grüber gebührend zu gedenken. Ein zu Herzen gehender Abend, der die typische Handschrift von Julie Brochen trug und auch von den deutschen Nachbarn als Geste empfunden werden kann, dass gutes Theater grenzüberschreitend wirkt.

Die Theaterdirektorin denkt immer in einer Periode von drei Jahren. „Am Ende eines jeden Jahres steht das komplette Programm für das nächste Jahr fest. Dabei müssen wir auch die Schulaufnahmsprüfungen mitbedenken, deren Vorarbeiten auch immer enorm sind. Jede Saison hat ihren eigenen Geschmack, der von verschiedenen Gerichten bestimmt wird. Erst, wenn das gesamte Menü gegessen ist, kann man beurteilen, wie es eigentlich war“, drückt Julie Brochen die Einzigartigkeit jeder Saison metaphorisch aus. Das provoziert natürlich die Frage, wie denn der Geschmack der Saison 2010/11 aussähe: „Das ist eine gute Frage! Ich glaube man könnte sagen, wir suchen das Moderne im klassischen Repertoire. Ich finde es falsch, eine Debatte zwischen Alt und Neu aufzuziehen. Wir möchten die Aktualität aufzeigen, die auch bekannte, historische Stücke in sich bergen. Dann wird Alain Françon, der die Stücke von Feydeau inszeniert, die nächsten drei Jahre über auch mit den Schauspielschülern der Gruppe 40 arbeiten, die hier gerade aufgenommen wurde. Und darüber hinaus gibt es viele Querverbindungen zwischen Inszenierungen und der Schule.“
Was denn einzigartig am Theater in Straßburg sei, möchte ich darauf hin wissen: „Ich glaube, dass das Theater allein schon aufgrund seiner langen Vergangenheit und seiner Schule eine außergewöhnliche Arbeit leistet. 50% unserer Besucher sind jünger als 26 Jahre, das ist eine enorme Zahl. Ich glaube, dass wir hier sehr kollegial arbeiten und wirklich jeder mit Enthusiasmus am Werk ist. Unser Programm ist auch sehr kontrastreich – das finde ich besonders wichtig, damit jeder etwas für sich darin finden kann.“

Für meine Abschlussfrage, ob es denn einen Wunsch gäbe, den Julie Brochen für ihr Haus hat, braucht die Theaterdirektorin keinen Augenblick, um zu antworten: „Oh ja, ein freies Budget wäre schön und natürlich die Möglichkeit, hier am Haus eine eigene Truppe aufzubauen. Ein richtiges Ensemble mit mindestens 15 Personen; darunter einige, die aus der Schauspielschule aufgenommen werden könnten – das wäre toll. Ein Ensemble, dass von verschiedenen Regisseuren geleitet werden könnte, nicht nur von mir!“ Und nach einer kurzen Zehntelsekunde Nachdenkpause fügt sie bestimmt und lachend zugleich hinzu: „Genau dafür bin ich ja da!“

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