Von meditativ bis explosiv – zeitgenössische Musik auf der Hochschaubahn

Von meditativ bis explosiv – zeitgenössische Musik auf der Hochschaubahn

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musikFabrik (c) musikFabrik

Im Semperdepot trat am 4.11. das Ensemble musikFabrik mit einem Programm auf, dass sich zwischen den beiden Polen der Meditation und höchster Spannung bewegte.
Eines gleich vorweg: An diesem Abend erlebte das Publikum zeitgenössische Musik wie sie besser nicht präsentiert werden kann. Die Performance des aus Köln stammenden Ensembles ließ keinerlei Wünsche übrig, vielmehr zeigten die Damen und Herren, dass es möglich ist ganz ohne Qualitätsverlust auch ohne Dirigat auszukommen. Auf der Homepage ist zu lesen: „Anders freilich als es der Name suggeriert, hat das maßgeblich vom Land Nordrhein-Westfalen unterstützte Ensemble musikFabrik keinen Chef. Das basisdemokratische Ensemble verwaltet sich selbst und fällt alle wichtigen Entscheidungen in den eigenen Reihen“. Dies geht soweit, dass auch die einzelnen Konzerte, die zur Aufführung gelangen, vom Ensemble alleine getragen werden, was jeder und jedem einzelnen in der Gruppe ein Höchstmaß an Verantwortung abverlangt.

Den Auftakt machte Harrison Birtwistles „Cortege, a ceremony in memory of Michael Vyner für 14 Musiker“. Ganz entgegen seinem Titel, der auf eine Trauermusik hinweist, die Birtwistle seinem früh verstorbenen Freund widmete, entwickelte sich schon nach ganz kurzer Zeit eine spannende Darbietung. Nach einer feierlichen Paukeneröffnung traten die Musikerinnen und Musiker  nacheinander  in den Bühnenvordergrund um ihren Solopart zu spielen um danach überganslos von einem weiteren Instrument abgelöst zu werden. Dabei agierten die Solistinnen und Solisten beinahe wie Schauspieler, traten in einen Wettstreit miteinander oder verließen auch schon beinahe unwillig das Rampenlicht um dem nächsten Platz zu machen. In Erinnerung blieb der wunderbare Wettstreit zwischen Trompete und Klarinette, aber vor allem auch das Flötensolo, bei welchem die Flötistin ein Instrument nach dem anderen anspielte, um von diesen eine Antwort zu bekommen. Eine Darbietung, die, obwohl das dunkel eingefärbtes Stück am Schluss noch lange verhallend nachwirkte, dennoch mit Witz und Pfiff ausgestattet war. Der Charakter der Gleichberechtigung, mit der jede einzelne Stimme ausgestattet war, entspricht ganz der Grundintention des Ensembles. Eine hervorragende Stückwahl, welche die musikFabrik nicht besser hätte treffen können. Die danach folgenden Stücke „Stirring Still II“ von Rebecca Saunders und „Round the Star and Back“ von Jonathan Harvey tauchten den Konzertraum in eine meditative Grundstimmung. Vor allem Saunders Werk beeindruckte durch seine vordergründige Einfachheit, die mit wenigen Klangsensationen   auskam und gerade deswegen die Seele beim Zuhören so weit weg fliegen ließ. Die Überleitung „Climbing Frame“ von Harvey, die als Zwickelstück zu Wolfgang Mitterers Schlusskonzert agierte, knüpfte thematisch an Birtwistle an, hatte aber mit dem Nachteil zu kämpfen, dass das Publikum schon ungeduldig auf das letzte Stück des Abends wartete. Und das nicht zu Unrecht.

Wolfgang Mitterer © julia

Wolfgang Mitterer © julia Stix

Wolfgang Mitterers Ausnahmekomposition „Little Smile für Ensemble und live-Elektronik“ entstanden 2011, bot eine Klangdramaturgie der ganz besonderen Art. Innerhalb weniger Sekunden gelang ihm eine Raumbeschreibung, in welcher er von einer Fern- hin zu einer Nahsicht gelangte. So als ob eine Kamera sich langsam an einer Mauer entlang bewegte und diese immer stärker und stärker vergrößert, bis hin in den Mikrobereich, in welchem ersichtlich wird, dass das, was sich dort abspielt, alles andere als kalt und grau ist. Belebte Materie wurde hörbar, eine riesige Anzahl an Lebewesen vorstellbar, die über- unter- und nebeneinander leben, uns umgeben, und dennoch im Alltag unsichtbar bleiben. Mitterer erzählte eine Geschichte, angesiedelt zwischen  Märchen  und Traum. Ein Geschehen, das wir aber alle im Wachzustand erleben konnten während wir seiner Musik lauschten.

Es erklang ein Schnattern, Flattern und Rauschen. Ein Schaben, Kratzen und Raunen, das mit jeder neuen Szene sich noch furioser steigerte. Ein Zirpen, Knacken und Wispern, ein Gefistel, Gequake und Gewoge das den Konzertraum so erfüllte, dass man das Geschehen förmlich körperlich wahrnehmen konnte. Und man hätte sich, wäre man blind gewesen oder hätte  man die Augen geschlossen fragen können: Wo sind die Instrumente geblieben? Dieses virile, dichte Klangszenario konnte doch nicht von klassischen Instrumenten erzeugt werden, oder doch? Dazwischen ertönten immer wieder einige Glockenschläge,  dann plötzlich zwei deutlich wahrnehmbare Frauenseufzer und eine kleine Klarinettenmelodie. Der Ort, die Zeit war damit präzisiert. Nacht, altes Gemäuer und Traumszenen, die sich weiterentwickelten. Ein Geschepper und Gekratze, ein Flirren und Schwirren, unterbrochen von koboldähnlichen Wisperstimmchen und den vereinzelten Klängen eines verstimmten Klavieres – von Ferne, so als ob sich mit diesen Klängen eine vergangene Zeit ins Bewusstsein zurückdrängen wollte, erfüllte den Saal und drang ein in unsere Fantasie. In unser Vorstellungsvermögen, das sich dank Mitterers Erzählung eine gespenstische Szenerie imaginierte.   Immer wieder ebbte das Geschehen leicht ab, doch schon nach wenigen Momenten wartete man noch gespannter auf das, was nach der vermeintlichen Beruhigung noch kommen würde. Und tatsächlich lebten die Kreaturen wieder auf, wurden wieder sichtbar: Wirbelnd, wimmelnd, kreuchend und fleuchend präsentierten sie  uns ihr übervolles Leben, das die Menschenspezies wahrscheinlich lange überdauern wird. Kleine, miniaturhafte Märchenwesen, aber auch Asseln und Käfer, Würmer und Fliegen bis hin zu winzigen Ein- und Mehrzellern. Und wie in einem erzählten Märchen üblich, verschwanden sie in dem Moment, in dem eine Reihe von Glockenschlägen den Morgen verkündete. Und genau in diesem Moment der Stille, der auf das Stück folgte, kam die Erinnerung: Das, was wir hier im Konzertsaal gehört hatten, die Emotionen, die dieses Stück weckte, haben wir vor langer Zeit schon erlebt. Damals, als wir klein waren und Schaudergeschichten vorgelesen bekamen. Später dann als wir selbst begannen zu lesen; Geschichten, von denen wir zitternd nicht mehr lassen konnten bis wir auf der letzten Seite angelangt waren. So fühlten wir uns, als wir uns fröstelnd vor Schauer die Decke über den Kopf zogen um nur ja in einem geschützten Raum zu sein, in den nach unserer Vorstellung niemand eindringen konnte. Der einzige Unterschied zum Konzertabend bestand darin, dass es unser kindlicher Schlaf war, der uns wie der darauf folgende Morgen von unseren imaginären Bildern befreite, sodass alles wieder vergessen war. Lange vergessen.

Mitterers Komposition ist unverwechselbar und grandios, beeindruckend und meisterlich, gelang ihm nicht nur eine faszinierende Zeit- und Raumbeschreibung sondern mehr noch, ein Erinnern unserer eigenen Gefühle, die wir vor langer Zeit erlebt haben und die über Jahre hinweg zugeschüttet gewesen waren.

So großartig wie die Komposition selbst, war aber auch die Interpretation durch die musikFabrik – dieses Mal aber doch unter einem Dirigat. Enno Poppe, der mit seinen zackigen Bewegungen selbst wie eine gesteuerte Gliederpuppe wirkte,  beeindruckte am Pult genauso wie die Ausführenden, unter denen Wolfgang Mitterer am Laptop mitwirkte. Eine Aufführung, die sich wunderbar in das Ambiente des Semperdepots schmiegte, wenngleich die hinteren Reihen trotz aufwendiger elektronischer Mischung viele Klangfeinheiten leider nicht mehr wahrnehmen konnten.

Tausend und eine Möglichkeit

Tausend und eine Möglichkeit

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ORF Radio Symphonieorchester Wien (c) ORF Thomas Ramstorfer

Am 3. 11. spielte das RSO im großen Saal des Wiener Musikverein unter der kompetenten Leitung von Johannes Kalitzke. Und man könnte das Konzert in Anlehnung an die Erzählungen von tausend und einer Nacht ohne weiteres unter ein ähnliches Motto stellen, nämlich tausend und eine Möglichkeit.

So viele waren es zugegebener Maßen nicht, die das RSO präsentieren konnte, aber die Zahl 11 ist, was die Stückanzahl und damit verbundene Komponistenanzahl betrifft, für einen einzigen Konzertabend schon sehr außergewöhnlich. 11 verschiedene Stücke von 11 verschiedenen Komponisten schafft selbst ein großes Orchester wie das RSO nur durch einen Kunstgriff: Indem es nämlich im ersten Programmpunkt 9 musikalische Miniaturen präsentierte, die ihm anlässlich des 40jährigen Bestehens des Orchesters im Jahr 2010 von österreichischen Komponisten gewidmet wurden. Insgesamt waren es „102 masterpieces“, die das Orchester erhalten und auch auf 2 CDs eingespielt hatte. 9 davon waren nun bei Wien Modern zu hören. Auffallend, dass sich darunter aber leider das Werk keiner einzigen Frau befand. An dieser Stelle eine qualifizierte Beschreibung des Geschehens abzugeben ist schier unmöglich, denn so kurze Klangsequenzen – meistens nur maximal eine Minute lang, entziehen sich so gut wie jeder fundierten Beschreibung. Herausragend, weil frisch und frech, war Gerald Reschs „Ein Stück Land für Orchester“, das nicht eine Auskoppelung aus einer größeren Komposition darstellte, sondern an sich nur ein 40 Sekunden-Stück ist. Die klangliche Verfremdung der österreichischen Bundeshymne ist ihm derart gut gelungen, dass man schon nach wenigen Sekunden zu schmunzeln beginnt. Seine musikalische Karikatur sorgt auch zugleich in Windeseile dafür, dass man sich mit all jenen Fragen konfrontiert sieht, die sich in Zusammenhang mit Nationalstolz, Vaterlandsliebe oder sonstigen abstrakten Begriffen stellen, die von der Politik so gerne verwendet werden. Diese Musik ist zwar klein, aber oho! Was aber die komplette Aufführung schlaglichtartig verdeutlichte ist, dass es tatsächlich ein großes musikalisches Potential im kleinen Land Österreich gibt, das sich der Komposition von zeitgenössischer Musik widmet und das mit einer erstaunlich hohen Qualität.

Diese kam im zweiten Programmpunkt so richtig zum Tragen, dieses Mal aber nicht durch einen Komponisten Österreichs, sondern durch Rebecca Saunders, jener in London geborenen jungen Komponistin, die seit schon geraumer Zeit in Berlin lebt und die im Festival mit mehreren Werken vertreten ist. Ihr brandneues Konzert für Violine und Orchester aus dem Jahr 2011, das an diesem Abend in Österreich uraufgeführt wurde war schlichtweg beeindruckend. Saunders gelang es, ihrer Violine eine ganz eigenartige Färbung zu geben, die beinahe das gesamte Stück über eingehalten wurde. Sie arbeitete mit einer musikalischen Sprache, die im Violinenpart Tonhöhen und –tiefen vermied und dennoch unglaublich farbig erschien. Kratzig raue Dissonanzen, kräftig hintereinander gesetzt, schmeichelten sich trotz ihrer Sprödigkeit in die Gehörgänge. Ihr Konzert zerfiel in zwei große Teile in welchen vor allem die Instrumentalistin Carolin Widman ihre Klasse zeigen konnte. Ihre Spielfreude und Energie, aber auch ihre Präzision war bewundernswert und die Freude, das Stück zu interpretieren, war deutlich spürbar. Die mechanistische Klangkonstruktion, die am ehesten an industrielle Entstehungsprozesse in einer großen Fabrik erinnerten, in der immer und immer wieder dieselben Klangsequenzen, hervorgerufen durch maschinellen Einsatz, entstehen – verbreiteten eine emotional gedrückte Stimmung. Der Mensch als Teil eines industriellen Fertigungsprozesses verlor darin gänzlich seine Eigenheit und seine Freiheit. Der zweite Teil hingegen, setzte gerade letztgenannte Komponenten in den Vordergrund. Windgeräusche, ein Rauschen und ein Brummen das sich quer durch das Orchester zog waren ein Teil von naturimitierenden Klängen, die sich schließlich in beinahe lyrische Passagen auflösten und den Eindruck der Mühe und Plage des Lebens in der Fabrik hinter sich ließen. Freiheit stellte sich nun auch in der Tonhöhenbehandlung ein und – als ob Saunders diese Aussage auch noch auf die Spitze treiben hätte wollen – entschwanden die letzten gespielten Töne auf der Violine in den darauf höchsten spielbaren Tönen aufs Zarteste. Die Kraft dieser Komposition und die tolle Interpretation ließen dieses Werk zum herausragenden Ereignis des Abends werden.

Und dies, obwohl als Abschlusskonzert noch „The triumph of time“ von Harrison Birtwistle auf dem Programm stand. Die ganz zu Beginn schon gesetzte Miniaturmelodie, aus nur 3 Tönen bestehend, zieht sich durch das Werk wie ein roter Faden und verlässt die Gehörgänge auch noch lange nach dem Konzert nicht. Die dunkle, geheimnisvolle Stimmung zieht sich durch den ersten, getragenen Satz durch und bleibt auch später bestehen. Obwohl der zweite Satz wesentlich dynamischer aufgebaut ist und mit so intensiven Klangwellen ausgestattet, dass sie körperlich spürbar sind. Im Abschlusssatz erklingt wieder das kleine Motiv, das schon zu Beginn so aufhorchen ließ. Das Werk entstand 1971/72 und bietet den Hörerinnen und Hörern mannigfaltig die Möglichkeit, sich von den Klängen forttragen zu lassen, auf ihnen zu schwimmen und ganz einzutauchen in die wunderbare Welt der Orchestermusik. Birtwistle überzeugt darin nicht mit Progressivität aber mit außerordentlich handwerklicher Qualität die ihr Ziel nicht verfehlt.

PHACE fasziniert mit neuen „alten“ Klängen

PHACE fasziniert mit neuen „alten“ Klängen

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PHACE (c) Oliver Topf

Am 1. November stand das Ensemble PHACE unter der Leitung seines Dirigenten Simeon Pironkoff auf der Bühne des Berio-Saales im Konzerthaus in Wien. Werke von 5 Komponisten wurden gespielt, wobei die Auswahl der Stücke mehr als gelungen war. Aber nicht nur die Auswahl, sondern auch die Abfolge, denn sie bat eine wunderbare Gelegenheit, die einzelnen Werke miteinander in Beziehung zu setzen. Oder zumindest durch das Hören von Äquivalenzen aber auch Differenzen einen Mehrwert an Erkennen zu generieren.

Die Komposition „Ein Garten, Pfade, die sich verzweigen“ des jungen Österreichers Gerald Resch (*1975) bildete den Beginn. Möchte man den Sport als Vergleich bemühen – so ist die Startnummer 1 eine relativ unbeliebte, muss das Publikum sich doch erst einhören, das Ensemble sich erst warmspielen. Nichts desto trotz reüssierte das Ensemble mit der Arbeit des Preisträgers der Erste Bank 2011. Und dennoch war eines am Ende des Stückes klar: Je länger es dauerte umso überzeugender präsentierte sich diese Komposition, die Hauptaugenmerk auf die Stimme der Viola, gespielt von Petra Ackermann, legt, die mit ihrem samtenen und weichen Ton ganz erdverbunden erscheint. So, als spüre man den weichen Garten- oder Parkboden unter seinen Füßen beginnt Resch den Raum musikalisch zu beschreiben. Doch schon nach kurzer Zeit unterbrechen dramatische Ballungen den imaginären Gang durch den Garten, welche die auditiven Spaziergängerinnen und –gänger in Erstaunen versetzen. Gerade gewöhnte man sich an den Rhythmus auf den man sich eingelassen hatte, nahm die restlichen Stimmen des Orchesters als Unterstützung für einen aufrechten Gang war, sodass er mühelos geschehen konnte, hatte sich schon wie selbstverständlich daran gewöhnt. Da kippte die Stimmung plötzlich. Nicht laut, aber dennoch deutlich wurde die Marimba hörbar, die mit dazu beitrug, dass sich nun eine durchscheinende, lucide Bewegung ausbreitete, die tastende Schritte in unbekanntes Terrain erlaubte. War dieser Gang, dieses Tasten, dieses Trippeln nun mit Vorsicht, Rücksicht oder Zögerlichkeit belegt? Das konnte sich jede Hörerin und jeder Hörer selbst aussuchen. Wohl ganz nach dem eigenen Temperament. Aber gerade das ist es, was das Werk auszeichnet: dass es Platz und Raum für ganz persönliche Interpretationen bietet. So wie für die Assoziationen der Rezensentin, die es ihr erlaubten in jenen Teil des Gartens einzutreten, der verwunschen im Verborgenen lag und dessen Reiz aus seiner Unerforschtheit bestand.

Was im zweiten Teil der Komposition von Resch angedeutet wurde – dass das Interessante, das Aufwühlende nicht das ist, was plakativ und laut erscheint, sondern vielmehr das, was die Gedanken anregt, unabhängig von der Lautstärke, wurde mit dem zweiten Stück des Abends noch stärker verdeutlicht. Gérard Pessons „Mes béatitudes“ für Klavier und Streichtrio zeigte, wie sehr der Klang eines Orchesters reduziert werden kann, ohne dass die Idee aufkommt, etwas zu vermissen. In den béatitudes – den Glücksgefühlen – ist die Musik mehr Idee als Klang, mehr Erinnerung als Gegenwart und beschreibt so genau, was Pesson (*1958) ausdrücken wollte: „all das, was ich im Laufe meines Lebens aufgeben musste“ Der klare und deutliche Aufbau, der durch ein Thema, das immer wieder kehrt, gekennzeichnet ist, hilft dabei jene Ideen zu entwickeln, die das Stück im eigenen Kopf erst zu dem machen, was es ist. Neben einer musikalischen Präsentation eine philosophische Leerstunde über Ideen, Begriffe und Ideale. Das Klavier, das mit einzelnen angeschlagenen Noten jenen Part einnimmt, der am stärksten wahrgenommen werden kann ist – so paradox es klingen mag – nicht jenes Instrument, dem man am innigsten lauscht. Vielmehr sind es die Streicher, die ihre Seiten nicht zum Klingen, sondern nur zum Hauchen bringen, die ihre Instrumente mehr atmen als singen lassen und denen es dennoch mit wenigen, leicht verfremdeten Noten des Adagios von Bruckners 7. Symphonie gelingt, ein Gewitter im Kopf auslösen. Ein Gewitter, oder besser einen Föhnsturm, der alles an Klang komplettiert, was gar nicht ausgesprochen wird. Alles, was man aus der Vergangenheit kennt und darüber in Wonne schwelgt – obwohl es an diesem Abend eben nicht zu hören ist – vereint sich mit den wenigen, sparsamen fast minuskelhaften Klängen, die gerade noch möglich sind an den Streichinstrumenten erzeugt zu werden. Pesson zeigt, dass er nicht nur ein großes Verständnis für den außergewöhnlichen Umgang mit den Instrumenten mitbringt, sondern vielmehr, dass es möglich ist, eine Komposition direkt am weitläufigen Ufer zur Philosophie anzusiedeln. Es wäre nicht verwunderlich, fände diese Komposition Einzug in jenes Forschungsgebiet der Wahrnehmung, die versucht herauszufinden, inwieweit Realität und Fiktion selbst gemachte, also intrinsische Phänomene sind.

Um sich aus dieser unglaublich gelungenen akustisch-gedanklichen Umklammerung wieder zu befreien, bedurfte es eines Stückes wie jenes von Arturo Fuentes (*1975), der an diesem Abend auch anwesend war. „Superfluidity II“ für Gitarre solo und kleines Ensemble war insofern gelungen gewählt, als auch diese Komposition durch ihre Feinsinnigkeit beeindruckte. Eine leise Klangwolke zu Beginn, die zu atmen schien und sich dabei langsam fortentwickelte zeigte, dass auch hier nicht der kompositorische Holzhammer ausgepackt wurde. Vielmehr waren es die kleinen akustischen Sensationen, wie Marimba- oder Akkordeonblitze, die das Geschehen nur schlaglichtartig erhellten, aber nie verbrannten. Lange ließ der Komponist das Publikum sich in die Struktur einhören, um dann ganz unspektakulär die Klangfarbe und damit den Raum zu verändern. Kleine Wischbewegungen an der Gitarre oder zarte Glockenschläge stachen aus den einzelnen Sequenzen beinahe unmerklich heraus. Und wie eine Perlenkette erst durch das Auffädeln jeder einzelnen Perle zu einer solchen und damit auch tragbar wird, so nahm das Stück auch erst durch die Aneinanderreihung der unterschiedlichen ineinanderfließenden Sequenzen Gestalt an. Als Überraschungseffekt ließ der in Mexiko City geborene Fuentes schließlich das Saxophon „pferdisch“ sprechen, die Gitarre sich leise an einen Flamenco erinnern und den zuvor so schön aufgebauten akustischen Schwebezustand mit dem Klingeln eines alten Telefones beenden. Eine beeindruckende Performance, vor allem auch durch die Leistung von Jürgen Ruck an der Gitarre.

Ausgerechnet eine Frau – Rebecca Saunders – (*1967) setzte mit ihrer Komposition einen markanten Gegenpart zum bereits Gehörten, der nichts an Kraft und Volumen, Schärfe und Bedrohung zu wünschen übrig ließ. „Dichroic seventeen“ für Akkordeon, Klavier, E-Gitarre, 2 Schlagzeuger, Cello und 2 Kontrabässe aus dem Jahre 1996 kann als Beispiel herangezogen werden, wir rasch sich akustische Novitäten zu auditiven, historischen Phänomenen verwandeln können. Denn der Einsatz von einem Röhrenverstärker für die E-Gitarre oder eines Plattenspielers, dessen Nadelrutschen auf immer derselben leere Rille zu hören war konnten von den jüngsten Konzertbesuchern in ihrem akustischen Erinnerungsvermögen gar nicht mehr abgerufen werden. Sie sind schon mit CDs und DVDs groß geworden um müssen Plattenspieler sich bereits in Phonomuseun anschauen. Saunders dunkles Klanggebilde, das immer wieder durch feine Percussionklänge akzentuiert wurde, zeichnete sich vor allem auch dadurch aus, dass sie Klänge so miteinander vermischte, dass deren ursprüngliche Herkunft gar nicht mehr nachvollziehbar wurde. Die räumliche getrennte Aufstellung der beiden Percussionisten erzeugte einen deutlich hörbaren räumlichen Effekt. Wie schon in Fuentes Werk, reihten sich auch bei Saunders Klangmengen an Klangmengen, der Unterschied jedoch bestand darin, dass sich diese viel stärker ineinander verschränkten oder auch überlagerten. Von Beginn bis zum Schluss hielt Saunders an einer einzigen Stimmung fest, die sich trotz des unterschiedlichen Klanggeschehens bis zum Schluss hin nicht veränderte. Erst ganz zum Schluss wird dem Klavier ein wichtigerer Part zugeteilt, tauchen die schon zu Beginn erklungenen, bedrohlichen Streicherklänge noch einmal ganz zart auf – bis schließlich die Plattennadel, über Lautsprecher verstärkt, mehrfach ihr kratzendes Geräusch von sich gibt, welches das Ende in einer Endlosschleife markiert.

Wie gut der Ablauf konzipiert war – eingangs wurde darauf schon hingewiesen – zeigte sich mit dem Schlussstück „Scena“ für Violine und Kammerensemble von Jonathan Harvey. Mit konzentrierter Kraft arbeitete sich Ivana Pristasova an ihrer Geige durch die Komposition, die ständige neue Räume, neue Klangszenerien aufbaute und das Publikum in keiner Sekunde von der Leine ließ. Der 1939 geborene Komponist schuf ein Werk, das an diesem Abend verdeutlichte, wie anders er sich als die um eine und eineinhalb Jahre jüngere Generation in seinem Kompositionsgeschehen ausdrückt. Das Neue wird bei Harvey nicht in verschiedenen Klangsensationen deutlich, er ist auf keinerlei Effekthascherei aus, vielmehr ist es seine Idee, die Violine durch mehrere hintereinander gesetzte dramatische Ereignisse wandern zu lassen, die überzeugt. Klagelied, mystisches Ereignis, romantisches Ereignis und Metamorphose übertitelte er die einzelnen Teile, die Platz genug für jegliche individuelle Assoziation ließen. Die Solistin gestaltete ihren Part herausragend und überstrahlte damit jede andere – nicht minder großartige musikalische Leistung. Ihr inneres Feuer, das vom ersten Ton an zu brennen begann, schwappte in Sekundenschnelle auf das Publikum über, das ihr ihre Darbietung auch mit überaus heftigem und langem Applaus bedankte.

Nicht unerwähnt soll die Leistung des Dirigenten Simeon Pironkoff bleiben, der in seiner unspektakulären Art und Weise seine Musikerinnen und Musiker an diesem Abend präzise wie ein Uhrwerk zu führen wusste. Ihm sind vor allem die jungen Komponisten zu Dank verpflichtet, legte er mit seinem Dirigat bei diesem Wien Modern – Konzert die Latte für künftige Aufführungen doch sehr hoch.

Präzise heißt nicht blutleer

Präzise heißt nicht blutleer

Harrison-Birtwistle

Harrison Birtwistle (c) Hanya Chlala

Den Briten wird per se eine etwas noble Unterkühltheit im sozialen Umgang attestiert. Würde dies stimmen, müsste sich dies auch in den zeitgenössischen Kompositionen ausdrücken. Wie man aber am 31. Oktober im Konzerthaus in Wien feststellen konnte, so ist diese Vorstellung in keiner Weise deckungsgleich mit der Realität. Das Ensemble London Sinfonietta unter dem Dirigenten Franck Ollu bewies nämlich genau das Gegenteil. Was das Kammerorchester allerdings auch zeigte: Zeitgenössische Musik erfordert Präzision, wird aber nur dann zum Ereignis, wenn sie mit Herzblut gespielt wird. Und das war unbestritten der Fall. Auf dem Programm standen 5 Kompositionen zeitgenössischer, britischer Komponisten. Allen voran – weil er als Altmeister der zeitgenössischen Musik auf der Insel gilt – Harrison Birtwistle. Dem 1934 Geborenen ist beim Festival Wien Modern ja neben Friedrich Cerha ein Themenschwerpunkt gewidmet, was aufmerksamen Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit bietet, Parallelitäten oder auch Unterschiede der beiden Komponisten zu entdecken.

Und Ehre wem Ehre gebührt – soll an dieser Stelle seine Komposition als erste zu ihrem beschriebenen Recht kommen. Sein Stück Silbury Air, geschrieben für Kammerensemble im Jahr 1977, beeindruckte massiv. Nicht nur die Kritikerin, sondern das gesamte Publikum, dass dementsprechend akklamierte. Sein im 2/4 Takt angelegter Auftakt, ganz zu Beginn beinahe wie das Ticken einer Uhr wahrnehmbar, wandelt sich im Laufe des Stückes hin bis zu einer stampfenden Rhythmik, um ganz zum Schluss in einem wiederum zarten, metrisch bestimmten Abgesang noch einmal leise aufzutauchen. Zwischen dem Anfang und dem Ende gelang Birtwistle nicht nur ein schönes und mitreißendes Stück, sondern zugleich zeugt es von hoher Intelligenz sowie wunderbarem Verständnis, was den Einsatz der Instrumente betrifft. Allen voran konnte der exzellente Schlagwerker sein Können unter Beweis stellen. Von ihm hingen viele Einsätze ab, die wegen der komplexen, manches Mal ineinander verschachtelten Rhythmik punktgenau kommen mussten. Gekennzeichnet war das Stück sowohl von einem vollen Orchesterklang bis hin zu einer Reduktion der Stimmen, in welcher der vorgegebene Marschrhythmus nur mehr schwingend erahnbar war. Aber auch die immer wieder kehrenden, harten Trommelschläge, die einzelne Passagen beendeten, konnte man schon mit schöner Regelmäßigkeit wieder erwarten. Der Schluss, den Birtwistle selbst als Air bezeichnete, als ein kleines, musikalisches Stück mit melodiösem Grundcharakter, verzauberte die Stimmung komplett und ließ all die Macht und Genauigkeit, all das Voluminöse und Akkurate, all das Laute und Plakative im Nu hinter sich. Die Musik verschwand, ja tropfte förmlich aus und hinterließ mit den letzten Harfenklängen einen lang wirkenden Nachhall, den das Publikum bis ins letzte Hinein genoss.

Mit George Benjamin (1960 in London), Luke Bedford (1978 in Wokingham), Simon Holt (1958 in Bolton) sowie Thomas Adès (1971 in London) beherrschten vier weitere, jedoch wesentlich jüngere Komponisten das weitere Geschehen des Abends. George Benjamins „First Light“ von 1982 – ein Werk das er als 22jähriger geschrieben hat – erwies sich als sehr komplex und zeigte mannigfaltige musikhistorische Querverweise. Es stellt den Versuch dar, ein Bild von William Turner zu beschreiben, der darin mündet, die Komposition weit darüber hinaus mit der Musikgeschichte zu verbinden, in der Benjamin ja nicht der erste ist, der sich an Bildbeschreibungen abgearbeitet hat. Es kann kein Zufall sein, dass seine scharfen Trompetenstöße, seine klagenden Klarinetteneinsätze oder die helle Flötenstimme unweigerlich Assoziationen zu Mussorgskys Ausstellungszyklus erweckt, überraschender hingegen wirkt eine kurze Passage, die klanglich ganz nahe an der zweiten Wiener Schule steht. Als ob er aber auch noch den Beweis abliefern müsste auch die zeitgenössische Kompositionstechnik erforscht zu haben, kommen, wenn auch sehr sporadisch, aber doch, Alltagsklänge zum Einsatz. Dann nämlich, wenn der Schlagwerker zum Beispiel eine Zeitung zerreißt, oder einen kleinen Tischtennisball mehrfach auf hartem Untergrund aufhüpfen lässt. Spätestens diese kleinen Verweise, die das Publikum in Sekundenschnelle ganz sensibel auf die folgenden Klangphänomene macht sind Hinweise zumindest auf die Entstehungszeit der Komposition. Nicht jedoch auf Benjamins Alter, denn eine Arbeit wie diese möchte man kaum als Jugendwerk einstufen.

Luke Bedford, dessen Werk „Man Shoots Strangers vom Skyscrapers“ aus dem Jahr 2002 im Anschluss erklang, wählte, wenn man so möchte, im Hinblick auf den Ausgangspunkt seiner musikalischen Überlegungen, mit einem Kammerorchester eigentlich ein anachronistisches Medium. Immerhin nahm er sich Luis Buñuels „Das Gespenst der Freiheit“ als Ausgangsbasis seiner Komposition vor. Jenen Film, in welchem ein Unbekannter von Hochhäusern aus wahllos auf Passanten schießt. Es gelingt ihm, aus dem Kammerorchester einen unglaublich dichten, wogenden, melodischen Klang zu zaubern, der akustisch ein wesentlich größeres Ensemble evoziert. Immer wieder treten einzelne Stimmen daraus hervor, bis durch scharfe, immer wiederkehrende Tuttisalven die Leichtigkeit, ja beinahe Unbekümmertheit der Stimmung in eine Bedrohung umschlägt, die nicht mehr abgeschüttelt werden kann. Der in Wien anwesende, sehr sympathisch wirkende Komponist, schuf mit diesem kurzen Stück aber mehr als nur die Kurzfassung einer Filmbeschreibung. Vielmehr lässt er an jene Schicksalsmomente denken, die manche von uns aus heiterem Himmel wie Keulen treffen und nach denen nichts mehr so ist, wie es zuvor einmal war. Man kann gespannt sein, was die Zukunft Bedfords noch bringen wird.
Simon Holts „Lilith“ aus dem Jahr 1990 wurde aus kleinen, fast miniaturhaften Themen entwickelt, die in ihren Variationen ein ständiges Vorantreiben des Stückes bewirkten. Begleitet von extrem harten, stakkatierenden Harfenklängen, durchliefen diese Miniaturen das gesamte Ensemble, bis die Oboe die Kraft der Harfenschläge übernahm. Nur kurz dauerte der daraufhin einsetzende, ruhige Mittelpart, in dem das Publikum sich von der Wucht der Instrumentaleinsätze und der Rastlosigkeit des Geschehens erholen konnte, um bald darauf mit einem abermals dramatischem Aufbrausen konfrontiert zu werden. Ganz im Gegensatz zu Birtwistles Stück gestaltete der junge Komponist seinen Schluss dramatisch. Nach einer sirenenhaften Ballung aller Stimmen, sowie einem abermaligen scharfen Oboensolo und einem harten Harfenklang verstummte das Orchester und hinterließ damit eine unaufgelöste Spannung.
„Living Toys“, das opus 9 von Thomas Adès, komponiert im Jahr 1993, stellte am Schluss des Konzertabends eine schöne Klammer dar, die sich vor allem im Hinblick auf Holt und Birtwistle als interessanter Vergleich erwies. Das 17minütige Stück ist in 5 Teile gegliedert, das, laut Konzertbeschreibung, Anagramme des Wortes battle beinhaltet. Das Spiel mit den Worten battle, balett und tablett – war zwar in der Komposition akustisch nicht mehr wahrnehmbar. Dennoch überzeugt diese mit ihren ständig wechselnden Stimmungen. Zu Beginn gleich verschmolzen viele kleine Zitate zu einer nervösen Verfassung, die besonders durch den differenziert Einsatz von vielen Perkussionsinstrumenten, aber auch dem zusätzlichen Klatschen einzelner Musiker, gekennzeichnet war. Diesem Auftakt folgten jazzige Anklänge durch die Trompete, die mit dem Einsatz von einem Dämpfer besonders plakativ ausfiel. Die Antwort des Ensembles, überraschenderweise jedoch in einer ganz anderen musikalischen Sprache, blieb nicht aus und als ob es auf die Kraft des Blasinstrumentes ein adäquates Gegenmittel setzen hätte wollen, eskalierte und verdichtete sich der Klang zusehends. Wie auf einer Schaukel wiederholte sich diese Eskalation und Deeskalation noch einmal, verblüffte jedoch dazwischen mit einer fast romantischen Einlage, die vom immer beeindruckenden tiefen Klang des Fagotts unterlegt war. Ein dumpfer Paukennachhall, nachdreimaligem orchestralem Aufschrei, beendete das Stück.
Das besonders Interessante dieses Konzertabends war die Tatsache, dass alle Komponisten mit ihren Werken ganz im Rahmen des herkömmlich tradierten Gebrauches der Instrumente arbeiteten. Bis auf kleine Ausnahmen blieben sie dabei, die jeweiligen Klangeffekte der Instrumente beinahe schon historisch zu nutzen. Einzig die Kompositionen selbst, in denen es an Ideenvielfalt nicht mangelte, stellten den Bezug zu unserer Jetztzeit dar. Eine gelungene Demonstration, dass der Konzertsaal und das Kammerorchester nach wie vor noch eine Rolle im zeitgenössischen Musikgeschehen einnehmen.
Ein Abend, an dem man sich wünschte, viel mehr Zeit für die einzelnen Kompositionen zu haben, um das Paket an Informationen, das jede einzelne in sich trägt, noch besser zu entschlüsseln und genießen zu können.

London meets Vienna – Klangspiegel

London meets Vienna – Klangspiegel

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Hildur Guðnadóttir Photo: (c) Brunnenpassage

In der Brunnenpassage, mitten im wogenden und brodelnden Yppenplatzviertel, von dem aus sich die Brunnengasse erstreckt, in dem ein Marktstand nach dem anderen internationales Publikum zum Einkaufen anlockt, finden während des Festivals Wien ModernAufführungen zeitgenössischer Musik statt, die für jede und jeden frei zugänglich ist. Darauf möchte ich hier ganz explizit hinweisen, denn es kommt nicht oft vor, dass man zeitgenössische Musik in der Qualität, wie sie dort geboten wird, zum Nulltarif konsumieren kann. Der große, helle Raum, nicht nur durch Oberlicht, sondern auch durch die beiden Glaseingänge an den Schmalseiten beleuchtet, wird von einigen Menschen tatsächlich als Passage benutzt. Am Nachmittag des 29. Oktober demonstrierte dies ein ca. 12jähriger Junge gleich zweimal. Er marschierte ungeniert ob der darin stattfindenden Konzerte an Publikum und Interpretinnen vorbei, wobei er ihnen aber zumindest einmal durch eine artige Verbeugung seine Reverenz erwies. Mit solchen Einlagen müssen die Akteurinnen und Akteure, wenn sie dort auftreten, immer rechnen und tatsächlich sind Aktionen wie diese wohl ein Zeichen dafür, dass die Brunnenpassage ein Ort ist, an dem sich zwar während des Festivals Wien Modern die Avantgarde der zeitgenössischen Musik trifft, die Bevölkerung jedoch keine Scheu hat, den Ort wie gewohnt zu nutzen – als Passage eben.

Am zweiten Tag des Festivals lieferten dort unter dem Motto Klangspiegel London/Wien eine Reihe von Musikerinnen und Musikern aktuelle Beiträge ihres jeweiligen Schaffens ab. Was hier so trocken klingt, war aber alles andere als theorielastige Musik. Den Beginn machte Jana Winderen mit ihrer 2011 entstandenen Komposition „From the black forest to the black sea“ , in der sie eine akustische Reise vom Schwarzwald bis ans Schwarze Meer schuf. Dabei mischte sie Klänge ihres Synthesizers mit jeweils vor Ort aufgenommen akustische Eindrücken, die sie entlang des Donauverlaufes gesammelt hatte und nahm damit das Publikum mit auf eine imaginäre Fahrt vom Ursprung des Flusses bis hin zu seiner Mündung. Die Reise gestaltete sich als ob man in einer fliegenden Untertasse Platz genommen hätte, die sich vereinzelte Landungsplätze entlang des Stromes ausgesucht hatte. Zu Beginn war Vogelgezwitscher und Grillengezirpe aus dem Schwarzwald wahrnehmbar, das Grollen des Donners, der von weither schlechtes Wetter verkündete – sodass man gerne mit Winderens Klanggebraus wieder abhob, um sich wenig später neuen Klangeindrücken hinzugeben. Es folgten Tropfgeräusche und kleine, gurgelnde Strömungen aber auch tiefes Unterwasserpulsieren und man hatte den Eindruck, als ob die fliegende Untertasse als Amphibienfahrzeug ausgerüstet war. Tief im Fluss wähnte man sich ob der Geräusche dem starken Wasserdruck ausgesetzt und das abermalige Wiederauftauchen gestaltete sich mit der bedrohlichen akustischen Begleitung eines immer stärker werdenden Dröhnens, das man dem Antrieb der Kapsel zuordnete. Nach mehreren fiktiven Landungen und ebensolchen Starts wurde das Dröhnen des Antriebs zu etwas Vertrautem, ja erzeugte sogar eine Art Schutzhülle, einen Raum, der einem erlaubte, sich in Minutenschnelle über tausende von Kilometern zu bewegen. Hundegebell, das Gekreisch von Krähen und eine nicht näher definierbare Klangkulisse, die jedoch weit von natürlichen Waldgeräuschen entfernt war machte alsbald deutlich, dass Winderen uns in stärker besiedeltem Gebiet umhören ließ. Am Schluss der Komposition war es starkes Brandungsrauschen anhand dessen klar war, dass wir uns nun am Ende unserer Reise befanden. Es vermischte sich, wie schon die Klänge zuvor, streckenweise mit den dröhnenden Klängen unseres fiktiven kleinen Raumschiffes, das uns so mühelos auf diese weite Reise mitgenommen hatte. „Die wahren Abenteuer sind im Kopf“ hieß es in einer Textzeile einmal bei André Heller. „Und in den Ohren“ möchte man in diesem Zusammenhang hinzufügen. Eine bezaubernde Arbeit, die man sich auch sehr gut als Begleitung zu einer Videoinstallation vorstellen kann.

Mit Hildur Guðnadóttir, einer jungen Isländerin, ging es bei den Klangspiegeln I im Anschluss auf eine weitere Reise. Sie widmete sich in ihrer Komposition, die sie nicht nur mit Computerklängen erzeugte, sondern dazu auch live am Cello agierte und teilweise auch sang, den am Himmel ziehenden Wolken. Genauer gesagt, den Wolken, die am Himmel Islands wohl vorüberzogen, während sie die Idee zu diesem Stück hatte. Denn schon nach wenigen Momenten war klar, dass die ruhige Elegie, die sie zu Beginn an ihrem Cello anstimmte, an Volksweisen ihrer Heimat angelehnt war. Am Balkan oder in Großbritannien, um zwei gegensätzliche Pole zu verwenden, wäre diese Musik wohl kaum entstanden. So determinierte die junge Musikerin gleich zu Beginn den Ort ihrer musikalischen Reise, der sich schließlich nicht nur als Ort, sondern auch als Statement zur Geschichte der Musik entpuppte. Denn es war nicht allein der Cellovortrag und auch nicht die sukzessive Einbindung von Celloeinspielungen, die sie selbst auch mitbegleitete, die Bilder im Kopf hervorriefen. Vielmehr zeigte sich, dass Guðnadóttir das Werk mehrsätzig angelegt hatte, also bewusst eine musikhistorische Komponente wählte, die sie in ihrer eigenen Art neu aufbaute und deutete. Ihre Partner in den mehrstimmigen Passagen saßen nicht mit ihr vor dem Publikum, vielmehr waren es ihre eigenen, zuvor aufgenommenen Cellopartien an die sie sich heftete und mit denen sie in Interaktion trat. Der Blick auf den Monitor ersetzte jenen, schon historisch zu nennenden, zu den wahrhaftig zeitgleich Musizierenden neben ihr. Guðnadóttir spielte mit Guðnadóttir Bezog sich auf sich selbst, nahm Motive auf, wandelte sie um oder begleitete sich einfach selbst mit harmonischen oder disharmonischen Akkorden. Was so einfach begann, veränderte sich im Verlauf des Stückes radikal. Die Musikerin baute komplexere Rhythmusstrukturen auf um von der Elegie in eine pulsierende musikalische Sprache zu wechseln, die beinahe Lust auf Mittanzen machte und endete schließlich mit einem Satz, in welchem sie ihre Stimme vom Band begleitete, die nun, wie zu Beginn der Komposition, Islands Singtradition aufleben ließ. Bei Guðnadóttir ist es weniger die Naturbeschreibung, die so faszinierend wirkte, sondern vielmehr die durchdachte Komposition an sich, die so unprätentiös von ihr selbst interpretiert wurde als ob es nichts Einfacheres und Natürlicheres gäbe als zu Komponieren, die eigene Komposition zum Teil auf Band aufzunehmen und diese dann live zu begleiten. Doch kaum waren diese Gedanken gedacht, strafte sie die junge Komponistin Lügen, denn der kraftvoll pulsierende Schluss evozierte nun plötzlich vor dem inneren Auge doch Wolken – die, wie wir es aus Filmen, die im Zeitraffer wiedergegeben wurden, kennen – in Windeseile über unsere Köpfe zogen. Gerade die mehrfachen Ebenen, die diese Komposition beinhaltet, macht sie so besonders eindrucksvoll und Lust darauf, sie wieder zu hören um ihre Strukturen beim zweiten Mal noch besser zu erkennen.

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one.night.band Photo: (c) Brunnenpassage

Am späteren Nachmittag folgte der 2. Teil der Klangspiegel London/Wien mit einem Auftritt der „one.night.band – einer Formation aus Musikerinnen und Musikern, die sich anlässlich des Festivals kurz davor zu einem Workshop zusammen gefunden hatten. Mike Harding und Mia Zabelka agierten dabei am Pult, Hildur Guðnadóttir am Violoncello sowie in der Live Elektronik, Jana Winderen am Laptop bzw. Synthesiser, Zahra Mani am Laptop/E-Bass und Kontrabass, Philip Jeck, der seit den 80er Jahren mit 2 alten Plattenspielern und Platten experimentelle Musik macht, Manon-Liu Winter am Klavier, das sie zum größten Teil als Perkussionsinstrument benutzte, Franz Hautzinger an der Trompete und Live-Elektronik, sowie Rie Nakajima an der Live-Elektronic – und – wie der Begleittext so schön erklärte – an den Toys; kleinen Objekten wie Tischtennisbällen, Kügelchen oder einem Kinderxylophon, deren Klänge elektronisch verstärkt ihren Beitrag zum Gesamteindruck der Kompositionen leisteten.

Den Auftakt gestaltete Philip Jeck, der wohl zu Recht als einer der Urväter oder Altmeister der elektronischen Musik genannt werden darf. Ganz unspektakulär agierte er sitzend hinter seinen beiden alten Kofferplattenspielern aus denen er erstaunliche wabernde Klangwolken entlockte. Immer wieder blitzten kurze melodiöse Geigenpassagen auf, um gleich darauf in einem Klangnebel des Vergessens wieder unterzugehen. Nahtlos an seine lyrische Performance schloss sich die Komposition „drone construction“ von Mike Harding an, in welcher sich nacheinander die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne einfanden und genauso nahtlos ihre Parts übernahmen, bis sich schließlich alle versammelt hatten um ein scheinbar einfaches, geschlossenes Grundgerüst Stück für Stück mit mehr Leben und Klangvolumen zu füllen. Harding selbst agierte dabei nur, wenn er die einzelnen Künstlerinnen und Künstler mit einer Geste zu den anderen bat, mehr an Einsatz war nicht notwendig. Die Klangwolke, die erzeugt wurde, war so klar gerastert, dass sie keine weiteren Dirigatanweisungen benötigte.

Ähnlich wie in den beiden vorangegangenen Stücken begann schließlich auch das Abschlusskonzert von Mia Zabelka. „Organische Trennung 3“, ein anfangs kontemplativer Klangteppich, entwickelte sich bei ihr aber rasch zu einem komplex aufgebauten Stück mit vielen einzelnen Passagen, in welchen die Musikerinnen und Musiker ihre Instrumente zu tragenden Stimmen erhoben. Nicht nur dichter wurde das klangliche Geschehen, sondern es nahm auch dramatisch an Lautstärke und Tempo zu und endete schließlich abrupt im Fortissimo, dem ein langer Nachhall folgte. Beeindruckend agierte die Dirigentin und Komponistin Zabelka, die mit ihren Händen eine wunderbare Choreografie zeigte, bei welcher jeder einzelne Einsatz für die Interpretinnen und Interpreten punktgenau kam. Ihr Stück ist eines der wenigen zeitgenössischen, welches man – auch ohne dass man live beim Konzert gewesen war -zuhause gut nachhören könnte ohne dabei den live-act zu vermissen. Oftmals ist das Erleben zeitgenössischer Musikaufführungen genauso wichtig wie die auditive Aufnahme durch unsere Ohren. Dieses feine und zugleich komplexe Stück jedoch bohrt sich tief in unsere Gehörgänge, ohne dass das Auge dabei unbedingt befriedigt werden will.

Ein erfolgreicher Nachmittag – nicht nur für alle Beteiligten und das Publikum, sondern auch für die Brunnenpassage selbst, die durch die Lebendigkeit ihres Programmes mitten in der Stadt zeigt, dass auch schwierigere künstlerische Ausdrucksformen besser in diesem pulsierenden Umfeld aufgehoben sind als in einem isolierten Elfenbeinturm.

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Auftaktkonzert von Wien Modern

 

Von tiefsten Tiefen zu höchsten Höhen

Von tiefsten Tiefen zu höchsten Höhen

Spiegel I – VII, Friedrich Cerhas „opus magnum“, begonnen 1959/60 und 12 Jahre später erst fertiggestellt, eröffnete das diesjährige Festival Wien Modern im Wiener Konzerthaus.

Unter der Leitung von Cornelius Meister, der vor dem Konzert bei einem Publikumsgespräch hervorhob, dass es für ihn „wie Weihnachten sei, dieses Konzert dirigieren zu dürfen“ zeigte das RSO, dass es anscheinend keine wirklichen Herausforderungen gibt, denen es nicht Stand halten kann. Denn Cerhas Werk – eigentlich ist es eine Sammlung aus 7 verschiedenen Stücken – fordert nicht nur die Partiturfestigkeit des Dirigenten, sondern ebenso der Musikerinnen und Musiker, die nur durch größte Aufmerksamkeit ihrerseits jene Klanggebäude aufbauen und verfallen lassen können, die der Komponist sich ausgedacht hat. Die „Spiegel“ sind eine Komposition für großes Orchester – insgesamt agieren 113 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, darunter 6 ! mit Schlagwerk, was schon die Probenarbeit vor ganz besondere Herausforderung stellt. Vielleicht ist dies mit ein Grund, dass das Werk bisher keine wirkliche Aufnahme in die Konzertsäle dieser Welt gefunden hat.

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Friedrich Cerha - Photo: (c)Friedrich Cerha

Was Cerha mit diesem Werk gelungen ist, lässt sich nicht nur in einige wenige Worte fassen. Vielmehr sind die 7 Spiegel zwar jeweils eigenständig, beziehen sich jedoch auch aufeinander, ergänzen oder widersprechen sich. Erst wenn man alle 7 hintereinander gehört hat wird klar, dass Friedrich Cerha mit seinen teils aufregenden, teils meditativen Klanggebilden mehr schuf als nur Musik. Dass der in diesem Jahr 85 Jahre alt gewordene Wiener Komponist ein Meisterwerk geschaffen hat wird schon alleine dadurch deutlich, dass es ihm mit seinen teils abstrakten, teils aber sehr anschaulichen, ja schon beinahe naturalistischen Partien der Komposition gelungen ist, sowohl einzelne menschliche Befindlichkeiten zu „spiegeln“, als auch eine Beschreibung des allgemeinen menschlichen Seins, seiner Bedingungen sowie seiner sozialen Eingebundenheit in die Gesellschaft darzustellen. Das durch unmenschliche Taten hervorgerufene Grauen einerseits und die Transzendenz, in die der Mensch Zeit seines Lebens versucht einzudringen, diese beiden Pole liegen in den Spiegeln ganz eng beieinander.

Musikalisch entpuppen sich die „Spiegel II“, die nur aus dem Streicherklang entwickelt werden, durch langsam vorangetriebene Klangverschiebungen als harmonisch unglaublich bezaubernde Klangnebelschwaden die sich langsam verdichten um sich bald darauf wieder zu erhellen. Dieses Flirren der Streicher vermittelt ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Der Klang scheint sich in den Äther zu erheben, um sich bald darauf als Schwebezustand festzusetzen, der schier unendlich anzuhalten scheint. Hier ist Cerhas Musik nicht mehr räumlich zu verstehen, sondern es scheint, als sei ihm die Aufhebung von Raum und Zeit gelungen. Man hört und kann sich trotz festen Bemühens keinen Raum vorstellen, schließt die Augen und weiß bald nicht mehr ob man nun 1 oder 10 Minuten diesen Klängen gelauscht hat. Erst, als sich der Schwebezustand wie durch einen Flügelschlag eines auffliegenden Vogels ganz plötzlich auflöst, wird diese Raum- und Zeitlosigkeit aufgehoben und man befindet sich wieder im Hier und Jetzt. Gäbe es in der Musik so etwas wie die Adelung eines Weltkulturerbes – dieses Stück würde sie sofort verdienen.

Als ob Spannung nur durch Gegensätze aufgebaut werden könnte verfolgt Cerha im „Spiegel III“ gegensätzliche Klangvorstellungen, wenngleich er – so als sei er selbst süchtig geworden – auch ab und zu noch auf den akustischen Schwebezustand des vorangegangenen Stückes zurückgreift. Das Aufschlagen von Wassertropfen auf ein Blechdach oder das Rauschen einer Meeresbrandung, die sich bis ins Fortissimo erhebt, macht klar, dass neben der Schönheit die sich aus dem Menschsein selbst ergibt auch die ihn umgebende Natur berücksichtigt werden muss. Gekonnt agieren hier Schlagwerker aber auch die Bläser sowie die Streicher, indem letztere ihre Bögen als zarte Perkussionsinstrumente einsetzen. So entsteht ein ungemein vielfältiges Klangbild, das Assoziationen an Geräusche in der Natur ermöglicht. Hört man schließlich in die Spiegel IV, so wird einem klar, dass gerade die Naturbeschreibung der Spiegel III als Übergang dazu diente, nun im Gegensatz dazu den Menschen und seine Untiefen ganz in den Mittelpunkt des musikalischen Geschehens zu rücken. Nicht Transzendentes oder beruhigend Naturhaftes steht hier im Vordergrund, sondern vielmehr das genaue Gegenteil. Man glaubt, durch das Zusammenspiel der Bläser und Schlagwerker entfernte Bombergeschwader hören zu können, spürt die Abhängigkeit der Masse von Autoritäten wenn man meint, tausende Stiefel über einen harten Boden marschieren zu hören und erschaudert ob jener imaginären Blicke ins Inferno, die Cerha heraufbeschwört. Paukenwirbel -unterstützt durch tiefe Posaunen – ein hölzernes und blechernes Geklapper und ein Holpern, das sich durch den gesamten Klangkörper von den Bassgeigen rechts bis hin zu den Geigen links durchzieht zeichnen ein grauenhaftes Ende einer großen Menschenmasse. Unwillkürlich denkt man an die vielen Massenvernichtungslager aus denen es so gut wie kein Entrinnen gab.

In den darauffolgenden Spiegeln bleibt der Komponist bei den bisher schon skizzierten Grundaussagen. Die Beschreibung der Natur steht im Kontrast zur zerstörerischen Energie, die dem Menschen im massenhaften Auftreten innewohnt. Die sich langsam auf- und abbauenden Klangwolken hingegen legen Zeugnis ab von einer überirdischen Schönheit, der sich das Individuum hingibt, so ihm die Auflösung seiner eigenen Persönlichkeit gelingt.

Man fragt sich, ob Friedrich Cerha, wie er behauptet, ausschließlich retrospektive Emotionen verarbeitet hat. Emotionen, die rund um das Erlebte im zweiten Weltkrieg kreisten oder ob er nicht viel mehr prophetisch in die Zukunft blickte. In eine Zeit, in der der Mensch von gewaltigen, technischen Mechanismen beherrscht wird, die er nicht mehr zu beherrschen imstande ist und deswegen die große Gefahr besteht, dass er in ihnen umkommen muss. An diesem Punkt der Betrachtung zeigt sich ganz besonders, dass sich die Rezeption nicht von ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Umfeld abkoppeln kann. Was im Laufe der letzten 50 Jahre geschah, und hier vor allem im Laufe der letzten 10 Jahre, wirkt mindestens ebenso stark beim Zuhören auf der Gefühlsebene mit, wie die erzählten Erinnerungen von Eltern und Großeltern an die Grauen des zweiten Weltkrieges, auf die sich der Komponist so offensichtlich bezog. Das Stampfen von Tausenden von Stiefeln, das Brüllen von unweit entfernten Flugzeugen, die sich wie unsichtbar über unseren Köpfen zu befinden scheinen oder das Zusammenballen sintflutartiger Wassermassen all das ist Vergangenes genauso wie gefürchtet Zukünftiges. 9/11 und der Tsunami vor der Küste Thailands im Jahre 2004, davor noch Tschernobyl und vor Kurzem erst Fukushima sind nur einige Stationen, die emotionale Notstände hinterließen, sich tief in unser aller Gedächtnis eingegraben haben und beim Hören einiger Partien der Spiegel wieder hochkommen. Gerade im Zusammenhang mit dieser Betrachtungsweise wird klar, dass der Komponist hier ein Werk von universalem, zeitlosem Inhalt schuf.

Friedrich Cerha war in seinen Spiegeln weit davon entfernt, das Orchester zu demontieren, vielmehr schöpft er meisterlich aus den Möglichkeiten, die es für ihn bereit hält. Nicht Demontage, sondern Addition, die Hinzufügung eines neuen klanglichen Spektrums, kennzeichnet dieses Werk an einigen Stellen. Geräusche und Klangkulissen vom Band – aufgenommen übrigens von seinem Schüler Karlheinz Essl – ergänzen den Orchesterklang, aber nehmen niemals überhand.

Die Spiegel I – VII, die in vielen Rezensionen mit kaltem musiktheoretischem Vokabular blutleer beschrieben wurden reihen sich tatsächlich ein in die Liste jener Werke, die Österreichs Ruhm als Land der Komponisten ausmachen. Cerha hat sich damit selbst ein Denkmal gesetzt, das es gilt weit, weit über unsere Grenzen hinauszutragen und vielleicht auch einmal – wie der Komponist es ursprünglich wollte . szenisch mit Tänzern zu vervollkommnen.

Ein überaus gelungener Auftakt des diesjährigen Festivals, der Lust auf viel, viel mehr macht!

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