Spiegel I – VII, Friedrich Cerhas „opus magnum“, begonnen 1959/60 und 12 Jahre später erst fertiggestellt, eröffnete das diesjährige Festival Wien Modern im Wiener Konzerthaus.
Unter der Leitung von Cornelius Meister, der vor dem Konzert bei einem Publikumsgespräch hervorhob, dass es für ihn „wie Weihnachten sei, dieses Konzert dirigieren zu dürfen“ zeigte das RSO, dass es anscheinend keine wirklichen Herausforderungen gibt, denen es nicht Stand halten kann. Denn Cerhas Werk – eigentlich ist es eine Sammlung aus 7 verschiedenen Stücken – fordert nicht nur die Partiturfestigkeit des Dirigenten, sondern ebenso der Musikerinnen und Musiker, die nur durch größte Aufmerksamkeit ihrerseits jene Klanggebäude aufbauen und verfallen lassen können, die der Komponist sich ausgedacht hat. Die „Spiegel“ sind eine Komposition für großes Orchester – insgesamt agieren 113 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, darunter 6 ! mit Schlagwerk, was schon die Probenarbeit vor ganz besondere Herausforderung stellt. Vielleicht ist dies mit ein Grund, dass das Werk bisher keine wirkliche Aufnahme in die Konzertsäle dieser Welt gefunden hat.
Was Cerha mit diesem Werk gelungen ist, lässt sich nicht nur in einige wenige Worte fassen. Vielmehr sind die 7 Spiegel zwar jeweils eigenständig, beziehen sich jedoch auch aufeinander, ergänzen oder widersprechen sich. Erst wenn man alle 7 hintereinander gehört hat wird klar, dass Friedrich Cerha mit seinen teils aufregenden, teils meditativen Klanggebilden mehr schuf als nur Musik. Dass der in diesem Jahr 85 Jahre alt gewordene Wiener Komponist ein Meisterwerk geschaffen hat wird schon alleine dadurch deutlich, dass es ihm mit seinen teils abstrakten, teils aber sehr anschaulichen, ja schon beinahe naturalistischen Partien der Komposition gelungen ist, sowohl einzelne menschliche Befindlichkeiten zu „spiegeln“, als auch eine Beschreibung des allgemeinen menschlichen Seins, seiner Bedingungen sowie seiner sozialen Eingebundenheit in die Gesellschaft darzustellen. Das durch unmenschliche Taten hervorgerufene Grauen einerseits und die Transzendenz, in die der Mensch Zeit seines Lebens versucht einzudringen, diese beiden Pole liegen in den Spiegeln ganz eng beieinander.
Musikalisch entpuppen sich die „Spiegel II“, die nur aus dem Streicherklang entwickelt werden, durch langsam vorangetriebene Klangverschiebungen als harmonisch unglaublich bezaubernde Klangnebelschwaden die sich langsam verdichten um sich bald darauf wieder zu erhellen. Dieses Flirren der Streicher vermittelt ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Der Klang scheint sich in den Äther zu erheben, um sich bald darauf als Schwebezustand festzusetzen, der schier unendlich anzuhalten scheint. Hier ist Cerhas Musik nicht mehr räumlich zu verstehen, sondern es scheint, als sei ihm die Aufhebung von Raum und Zeit gelungen. Man hört und kann sich trotz festen Bemühens keinen Raum vorstellen, schließt die Augen und weiß bald nicht mehr ob man nun 1 oder 10 Minuten diesen Klängen gelauscht hat. Erst, als sich der Schwebezustand wie durch einen Flügelschlag eines auffliegenden Vogels ganz plötzlich auflöst, wird diese Raum- und Zeitlosigkeit aufgehoben und man befindet sich wieder im Hier und Jetzt. Gäbe es in der Musik so etwas wie die Adelung eines Weltkulturerbes – dieses Stück würde sie sofort verdienen.
Als ob Spannung nur durch Gegensätze aufgebaut werden könnte verfolgt Cerha im „Spiegel III“ gegensätzliche Klangvorstellungen, wenngleich er – so als sei er selbst süchtig geworden – auch ab und zu noch auf den akustischen Schwebezustand des vorangegangenen Stückes zurückgreift. Das Aufschlagen von Wassertropfen auf ein Blechdach oder das Rauschen einer Meeresbrandung, die sich bis ins Fortissimo erhebt, macht klar, dass neben der Schönheit die sich aus dem Menschsein selbst ergibt auch die ihn umgebende Natur berücksichtigt werden muss. Gekonnt agieren hier Schlagwerker aber auch die Bläser sowie die Streicher, indem letztere ihre Bögen als zarte Perkussionsinstrumente einsetzen. So entsteht ein ungemein vielfältiges Klangbild, das Assoziationen an Geräusche in der Natur ermöglicht. Hört man schließlich in die Spiegel IV, so wird einem klar, dass gerade die Naturbeschreibung der Spiegel III als Übergang dazu diente, nun im Gegensatz dazu den Menschen und seine Untiefen ganz in den Mittelpunkt des musikalischen Geschehens zu rücken. Nicht Transzendentes oder beruhigend Naturhaftes steht hier im Vordergrund, sondern vielmehr das genaue Gegenteil. Man glaubt, durch das Zusammenspiel der Bläser und Schlagwerker entfernte Bombergeschwader hören zu können, spürt die Abhängigkeit der Masse von Autoritäten wenn man meint, tausende Stiefel über einen harten Boden marschieren zu hören und erschaudert ob jener imaginären Blicke ins Inferno, die Cerha heraufbeschwört. Paukenwirbel -unterstützt durch tiefe Posaunen – ein hölzernes und blechernes Geklapper und ein Holpern, das sich durch den gesamten Klangkörper von den Bassgeigen rechts bis hin zu den Geigen links durchzieht zeichnen ein grauenhaftes Ende einer großen Menschenmasse. Unwillkürlich denkt man an die vielen Massenvernichtungslager aus denen es so gut wie kein Entrinnen gab.
In den darauffolgenden Spiegeln bleibt der Komponist bei den bisher schon skizzierten Grundaussagen. Die Beschreibung der Natur steht im Kontrast zur zerstörerischen Energie, die dem Menschen im massenhaften Auftreten innewohnt. Die sich langsam auf- und abbauenden Klangwolken hingegen legen Zeugnis ab von einer überirdischen Schönheit, der sich das Individuum hingibt, so ihm die Auflösung seiner eigenen Persönlichkeit gelingt.
Man fragt sich, ob Friedrich Cerha, wie er behauptet, ausschließlich retrospektive Emotionen verarbeitet hat. Emotionen, die rund um das Erlebte im zweiten Weltkrieg kreisten oder ob er nicht viel mehr prophetisch in die Zukunft blickte. In eine Zeit, in der der Mensch von gewaltigen, technischen Mechanismen beherrscht wird, die er nicht mehr zu beherrschen imstande ist und deswegen die große Gefahr besteht, dass er in ihnen umkommen muss. An diesem Punkt der Betrachtung zeigt sich ganz besonders, dass sich die Rezeption nicht von ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Umfeld abkoppeln kann. Was im Laufe der letzten 50 Jahre geschah, und hier vor allem im Laufe der letzten 10 Jahre, wirkt mindestens ebenso stark beim Zuhören auf der Gefühlsebene mit, wie die erzählten Erinnerungen von Eltern und Großeltern an die Grauen des zweiten Weltkrieges, auf die sich der Komponist so offensichtlich bezog. Das Stampfen von Tausenden von Stiefeln, das Brüllen von unweit entfernten Flugzeugen, die sich wie unsichtbar über unseren Köpfen zu befinden scheinen oder das Zusammenballen sintflutartiger Wassermassen all das ist Vergangenes genauso wie gefürchtet Zukünftiges. 9/11 und der Tsunami vor der Küste Thailands im Jahre 2004, davor noch Tschernobyl und vor Kurzem erst Fukushima sind nur einige Stationen, die emotionale Notstände hinterließen, sich tief in unser aller Gedächtnis eingegraben haben und beim Hören einiger Partien der Spiegel wieder hochkommen. Gerade im Zusammenhang mit dieser Betrachtungsweise wird klar, dass der Komponist hier ein Werk von universalem, zeitlosem Inhalt schuf.
Friedrich Cerha war in seinen Spiegeln weit davon entfernt, das Orchester zu demontieren, vielmehr schöpft er meisterlich aus den Möglichkeiten, die es für ihn bereit hält. Nicht Demontage, sondern Addition, die Hinzufügung eines neuen klanglichen Spektrums, kennzeichnet dieses Werk an einigen Stellen. Geräusche und Klangkulissen vom Band – aufgenommen übrigens von seinem Schüler Karlheinz Essl – ergänzen den Orchesterklang, aber nehmen niemals überhand.
Die Spiegel I – VII, die in vielen Rezensionen mit kaltem musiktheoretischem Vokabular blutleer beschrieben wurden reihen sich tatsächlich ein in die Liste jener Werke, die Österreichs Ruhm als Land der Komponisten ausmachen. Cerha hat sich damit selbst ein Denkmal gesetzt, das es gilt weit, weit über unsere Grenzen hinauszutragen und vielleicht auch einmal – wie der Komponist es ursprünglich wollte . szenisch mit Tänzern zu vervollkommnen.
Ein überaus gelungener Auftakt des diesjährigen Festivals, der Lust auf viel, viel mehr macht!
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