Am 1. November stand das Ensemble PHACE unter der Leitung seines Dirigenten Simeon Pironkoff auf der Bühne des Berio-Saales im Konzerthaus in Wien. Werke von 5 Komponisten wurden gespielt, wobei die Auswahl der Stücke mehr als gelungen war. Aber nicht nur die Auswahl, sondern auch die Abfolge, denn sie bat eine wunderbare Gelegenheit, die einzelnen Werke miteinander in Beziehung zu setzen. Oder zumindest durch das Hören von Äquivalenzen aber auch Differenzen einen Mehrwert an Erkennen zu generieren.
Die Komposition „Ein Garten, Pfade, die sich verzweigen“ des jungen Österreichers Gerald Resch (*1975) bildete den Beginn. Möchte man den Sport als Vergleich bemühen – so ist die Startnummer 1 eine relativ unbeliebte, muss das Publikum sich doch erst einhören, das Ensemble sich erst warmspielen. Nichts desto trotz reüssierte das Ensemble mit der Arbeit des Preisträgers der Erste Bank 2011. Und dennoch war eines am Ende des Stückes klar: Je länger es dauerte umso überzeugender präsentierte sich diese Komposition, die Hauptaugenmerk auf die Stimme der Viola, gespielt von Petra Ackermann, legt, die mit ihrem samtenen und weichen Ton ganz erdverbunden erscheint. So, als spüre man den weichen Garten- oder Parkboden unter seinen Füßen beginnt Resch den Raum musikalisch zu beschreiben. Doch schon nach kurzer Zeit unterbrechen dramatische Ballungen den imaginären Gang durch den Garten, welche die auditiven Spaziergängerinnen und –gänger in Erstaunen versetzen. Gerade gewöhnte man sich an den Rhythmus auf den man sich eingelassen hatte, nahm die restlichen Stimmen des Orchesters als Unterstützung für einen aufrechten Gang war, sodass er mühelos geschehen konnte, hatte sich schon wie selbstverständlich daran gewöhnt. Da kippte die Stimmung plötzlich. Nicht laut, aber dennoch deutlich wurde die Marimba hörbar, die mit dazu beitrug, dass sich nun eine durchscheinende, lucide Bewegung ausbreitete, die tastende Schritte in unbekanntes Terrain erlaubte. War dieser Gang, dieses Tasten, dieses Trippeln nun mit Vorsicht, Rücksicht oder Zögerlichkeit belegt? Das konnte sich jede Hörerin und jeder Hörer selbst aussuchen. Wohl ganz nach dem eigenen Temperament. Aber gerade das ist es, was das Werk auszeichnet: dass es Platz und Raum für ganz persönliche Interpretationen bietet. So wie für die Assoziationen der Rezensentin, die es ihr erlaubten in jenen Teil des Gartens einzutreten, der verwunschen im Verborgenen lag und dessen Reiz aus seiner Unerforschtheit bestand.
Was im zweiten Teil der Komposition von Resch angedeutet wurde – dass das Interessante, das Aufwühlende nicht das ist, was plakativ und laut erscheint, sondern vielmehr das, was die Gedanken anregt, unabhängig von der Lautstärke, wurde mit dem zweiten Stück des Abends noch stärker verdeutlicht. Gérard Pessons „Mes béatitudes“ für Klavier und Streichtrio zeigte, wie sehr der Klang eines Orchesters reduziert werden kann, ohne dass die Idee aufkommt, etwas zu vermissen. In den béatitudes – den Glücksgefühlen – ist die Musik mehr Idee als Klang, mehr Erinnerung als Gegenwart und beschreibt so genau, was Pesson (*1958) ausdrücken wollte: „all das, was ich im Laufe meines Lebens aufgeben musste“ Der klare und deutliche Aufbau, der durch ein Thema, das immer wieder kehrt, gekennzeichnet ist, hilft dabei jene Ideen zu entwickeln, die das Stück im eigenen Kopf erst zu dem machen, was es ist. Neben einer musikalischen Präsentation eine philosophische Leerstunde über Ideen, Begriffe und Ideale. Das Klavier, das mit einzelnen angeschlagenen Noten jenen Part einnimmt, der am stärksten wahrgenommen werden kann ist – so paradox es klingen mag – nicht jenes Instrument, dem man am innigsten lauscht. Vielmehr sind es die Streicher, die ihre Seiten nicht zum Klingen, sondern nur zum Hauchen bringen, die ihre Instrumente mehr atmen als singen lassen und denen es dennoch mit wenigen, leicht verfremdeten Noten des Adagios von Bruckners 7. Symphonie gelingt, ein Gewitter im Kopf auslösen. Ein Gewitter, oder besser einen Föhnsturm, der alles an Klang komplettiert, was gar nicht ausgesprochen wird. Alles, was man aus der Vergangenheit kennt und darüber in Wonne schwelgt – obwohl es an diesem Abend eben nicht zu hören ist – vereint sich mit den wenigen, sparsamen fast minuskelhaften Klängen, die gerade noch möglich sind an den Streichinstrumenten erzeugt zu werden. Pesson zeigt, dass er nicht nur ein großes Verständnis für den außergewöhnlichen Umgang mit den Instrumenten mitbringt, sondern vielmehr, dass es möglich ist, eine Komposition direkt am weitläufigen Ufer zur Philosophie anzusiedeln. Es wäre nicht verwunderlich, fände diese Komposition Einzug in jenes Forschungsgebiet der Wahrnehmung, die versucht herauszufinden, inwieweit Realität und Fiktion selbst gemachte, also intrinsische Phänomene sind.
Um sich aus dieser unglaublich gelungenen akustisch-gedanklichen Umklammerung wieder zu befreien, bedurfte es eines Stückes wie jenes von Arturo Fuentes (*1975), der an diesem Abend auch anwesend war. „Superfluidity II“ für Gitarre solo und kleines Ensemble war insofern gelungen gewählt, als auch diese Komposition durch ihre Feinsinnigkeit beeindruckte. Eine leise Klangwolke zu Beginn, die zu atmen schien und sich dabei langsam fortentwickelte zeigte, dass auch hier nicht der kompositorische Holzhammer ausgepackt wurde. Vielmehr waren es die kleinen akustischen Sensationen, wie Marimba- oder Akkordeonblitze, die das Geschehen nur schlaglichtartig erhellten, aber nie verbrannten. Lange ließ der Komponist das Publikum sich in die Struktur einhören, um dann ganz unspektakulär die Klangfarbe und damit den Raum zu verändern. Kleine Wischbewegungen an der Gitarre oder zarte Glockenschläge stachen aus den einzelnen Sequenzen beinahe unmerklich heraus. Und wie eine Perlenkette erst durch das Auffädeln jeder einzelnen Perle zu einer solchen und damit auch tragbar wird, so nahm das Stück auch erst durch die Aneinanderreihung der unterschiedlichen ineinanderfließenden Sequenzen Gestalt an. Als Überraschungseffekt ließ der in Mexiko City geborene Fuentes schließlich das Saxophon „pferdisch“ sprechen, die Gitarre sich leise an einen Flamenco erinnern und den zuvor so schön aufgebauten akustischen Schwebezustand mit dem Klingeln eines alten Telefones beenden. Eine beeindruckende Performance, vor allem auch durch die Leistung von Jürgen Ruck an der Gitarre.
Ausgerechnet eine Frau – Rebecca Saunders – (*1967) setzte mit ihrer Komposition einen markanten Gegenpart zum bereits Gehörten, der nichts an Kraft und Volumen, Schärfe und Bedrohung zu wünschen übrig ließ. „Dichroic seventeen“ für Akkordeon, Klavier, E-Gitarre, 2 Schlagzeuger, Cello und 2 Kontrabässe aus dem Jahre 1996 kann als Beispiel herangezogen werden, wir rasch sich akustische Novitäten zu auditiven, historischen Phänomenen verwandeln können. Denn der Einsatz von einem Röhrenverstärker für die E-Gitarre oder eines Plattenspielers, dessen Nadelrutschen auf immer derselben leere Rille zu hören war konnten von den jüngsten Konzertbesuchern in ihrem akustischen Erinnerungsvermögen gar nicht mehr abgerufen werden. Sie sind schon mit CDs und DVDs groß geworden um müssen Plattenspieler sich bereits in Phonomuseun anschauen. Saunders dunkles Klanggebilde, das immer wieder durch feine Percussionklänge akzentuiert wurde, zeichnete sich vor allem auch dadurch aus, dass sie Klänge so miteinander vermischte, dass deren ursprüngliche Herkunft gar nicht mehr nachvollziehbar wurde. Die räumliche getrennte Aufstellung der beiden Percussionisten erzeugte einen deutlich hörbaren räumlichen Effekt. Wie schon in Fuentes Werk, reihten sich auch bei Saunders Klangmengen an Klangmengen, der Unterschied jedoch bestand darin, dass sich diese viel stärker ineinander verschränkten oder auch überlagerten. Von Beginn bis zum Schluss hielt Saunders an einer einzigen Stimmung fest, die sich trotz des unterschiedlichen Klanggeschehens bis zum Schluss hin nicht veränderte. Erst ganz zum Schluss wird dem Klavier ein wichtigerer Part zugeteilt, tauchen die schon zu Beginn erklungenen, bedrohlichen Streicherklänge noch einmal ganz zart auf – bis schließlich die Plattennadel, über Lautsprecher verstärkt, mehrfach ihr kratzendes Geräusch von sich gibt, welches das Ende in einer Endlosschleife markiert.
Wie gut der Ablauf konzipiert war – eingangs wurde darauf schon hingewiesen – zeigte sich mit dem Schlussstück „Scena“ für Violine und Kammerensemble von Jonathan Harvey. Mit konzentrierter Kraft arbeitete sich Ivana Pristasova an ihrer Geige durch die Komposition, die ständige neue Räume, neue Klangszenerien aufbaute und das Publikum in keiner Sekunde von der Leine ließ. Der 1939 geborene Komponist schuf ein Werk, das an diesem Abend verdeutlichte, wie anders er sich als die um eine und eineinhalb Jahre jüngere Generation in seinem Kompositionsgeschehen ausdrückt. Das Neue wird bei Harvey nicht in verschiedenen Klangsensationen deutlich, er ist auf keinerlei Effekthascherei aus, vielmehr ist es seine Idee, die Violine durch mehrere hintereinander gesetzte dramatische Ereignisse wandern zu lassen, die überzeugt. Klagelied, mystisches Ereignis, romantisches Ereignis und Metamorphose übertitelte er die einzelnen Teile, die Platz genug für jegliche individuelle Assoziation ließen. Die Solistin gestaltete ihren Part herausragend und überstrahlte damit jede andere – nicht minder großartige musikalische Leistung. Ihr inneres Feuer, das vom ersten Ton an zu brennen begann, schwappte in Sekundenschnelle auf das Publikum über, das ihr ihre Darbietung auch mit überaus heftigem und langem Applaus bedankte.
Nicht unerwähnt soll die Leistung des Dirigenten Simeon Pironkoff bleiben, der in seiner unspektakulären Art und Weise seine Musikerinnen und Musiker an diesem Abend präzise wie ein Uhrwerk zu führen wusste. Ihm sind vor allem die jungen Komponisten zu Dank verpflichtet, legte er mit seinem Dirigat bei diesem Wien Modern – Konzert die Latte für künftige Aufführungen doch sehr hoch.