Wie es gewesen sein könnte
Von Michaela Preiner
Einen außergewöhnlichen Konzertabend durfte das Grazer Publikum im Stefaniensaal im Rahmen der Styriarte erleben.
Dem vollen Klang, den Boesch an seiner Seite als Ausgangsmaterial hatte, musste eine ebenso füllige Stimme beigegeben werden. Kein leichtes Unterfangen, bedenkt man, dass normalerweise die Lieder nur mit Klavier begleitet werden und aus diesem Grund das Stimmvolumen bei weitem nicht so groß sein muss. Boesch zeigte jedoch, was es heißt, Schuberts Lieder nicht nur herausragend zu singen, sondern sie von ihrem Grund auf auch zu verstehen. Er erarbeitete sich die Texte so, wie dies ein genialer Schauspieler machen würde, der in einem einzigen Satz imstande ist, die Stimmung mehrfach zu wechseln. Auch Boesch konnte in ein- und derselben Strophe vom zartesten Pianissimo zu Forte aufbrausen vice versa und beeindruckte nicht nur mit seinem herausragenden Bariton, sondern auch mit seiner Gestik und Mimik.
Dabei kam kein einziges Mal ein triefendes Pathos auf, welches andere Sänger gerne benutzen, um den Liedern eine abgehobene Künstlichkeit aufzuoktruieren. Die Interpretation von Boesch in Begleitung des Orchesters, das zum Teil mit Instrumenten arbeitet, die auch zu Schuberts Zeiten eingesetzt wurden, stellte ein so außergewöhnlich beeindruckendes Hörerlebnis dar, dass man ohne Mühe prognostizieren kann, dass es lange Zeit im Musikgedächtnis des Publikums verankert bleiben wird.
Styriarte: „Schubert – Unvollendete“ (Foto: Styriarte)
Der zweite Teil des Abends brachte ein Novum mit sich. Dafür setzte der Concentus musicus zwei Sätze vor den Beginn von Schuberts „Unvollendeter“, die selbst ja nur in zwei Sätzen überliefert ist. Das von Schubert für den dritten Satz vorgesehene Scherzo war von ihm auf nur 20 Takten auskomponiert worden. Die orchestrale Ergänzung und Neufassung nahm der Musikforscher und Dirigent Benjamin-Gunnar Cohrs vor. Als Finalsatz, der anschließend erklang, wollen mehrere Forscher den Zwischenakt zur Schauspielmusik „Rosamunde“ erkannt haben und tatsächlich konnte man, abgesehen von derselben Tonart, einige Parallelen und Verschränkungen zu den vorangegangenen Sätzen wahrnehmen. Das besondere Charakteristikum des Satzes ist eine unglaublich stark ausgeprägte, emotionale Klangdualität. Zwischen schwarz und weiß, lieblich und herrisch, zwischen lyrisch und polternd bewegen sich die Themen in diesem „Unter-Umständen-Finalsatz“ ohne Unterlass.
Wie sehr Franz Schubert mit dieser Komposition die Klassik bereits hinter sich gelassen hatte und bestrebt war, mit neuen Formen dem strengen, formalen Konzept zu entkommen, wurde mit diesem Konzert überdeutlich. Mit den Schlagworten „Emotion vor Konvention“ könnte man in aller Kürze jene kompositorische Idee umreißen, die der Komponist in seiner Unvollendeten zum Einsatz brachte und die seit beinahe 200 Jahren die Hörerinnen und Hörer so außerordentlich begeistert. Die Idee zur Präsentation, die unbekannten Sätze den bekannten voranzustellen, stammte von Alice Harnoncourt. Sie folgte damit dem Beispiel ihres Mannes, der auf diese Art und Weise schon Bruckners „Unvollendete“ mit Cohrs Ergänzungen zur Aufführung brachte.
Dass die Musizierenden des Ensembles mit einer Hingabe und Freude spielen, die in dieser Art sehr selten bei Orchestermitgliedern anzutreffen ist, war an diesem Konzertabend gut zu bemerken. Das lässt die berechtigte Hoffnung zu, dass der Concentus musicus, wenn er weiter Wege wie diese geht, weiße Flecken aus der Musikgeschichte in einer derart hohen Qualität zu präsentieren, auch in Zukunft seine herausragende Stellung nicht nur behaupten wird können, sondern vielleicht sogar auch ausbauen.
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