„Being Else – ein multiples System“ – die Wiederaufnahme einer Produktion von „DAS GUT“ ist derzeit noch bis zum 22.6. im Kosmostheater zu sehen. Unter der Regie von Rachelle Nkou und der Choreografie von Anna Hein greift das Stück von seinem Bedeutungsinhalt jedoch weit mehr als die Vorlage „Fräulein Else“ von Arthur Schnitzler auf. Die Verortung des Geschehens ins Heute macht klar, dass Else eine jener jungen Frauen sein könnte, die in den letzten Jahren medial bekannt wurden, weil sie gegen ihren Willen eingesperrt waren. Else wird gleich zu Beginn auf den „heißen Stuhl“ einer Talkshow ins Rampenlicht gesetzt und zu ihrem Martyrium befragt. Wie viele Jahre sie denn von ihren Eltern missbraucht worden wäre und wie sie dies alles ausgehalten hätte. Ihre Antworten kommen sozial erwünscht ohne emotionale Ausbrüche, zurechtgebügelt durch eine pseudowissenschaftliche Nomenklatur.
Das wahre Leid dahinter bleibt medial verträglich verborgen. Else verbringt den ganzen Abend über auf ihrem öffentlichen Thron und beachtet mit den ZuseherInnen jenes Geschehen, das sich auf der Bühne in einem großen, durchsichtigen Kunststoffraum abspielt. Darin befinden sich – zumindest auf den ersten Blick – insgesamt sieben Frauen, die allesamt denselben Haarschnitt von Else tragen und alle ganz in Weiß mit kurzem Rock und T-Shirt bekleidet sind. Es sind ihre abgespaltenen Persönlichkeiten; jene anderen Ichs, die Menschen in extremen Belastungssituationen herausbilden, um mit der grausamen Realität, der sie sich ausgesetzt sehen, umgehen zu können. Die kluge Bühnenkonstruktion ist nicht nur Metapher für das Eingesperrtsein der multiplen Persönlichkeiten in Elses Kopf, sondern sie simuliert auch jene Räume, in welchen das Mädchen tatsächlich zum Missbrauchsopfer wird. Anders als in der Fassung von Schnitzler muss sich Else nämlich nicht nur nackt zur Schau stellen. In zwei beeindruckenden Szenen wird man Zeuge von Vergewaltigungen, die emotional unter die Haut gehen, ohne dass nackte Tatsachen präsentiert werden. Kindesmissbrauch ist dabei ein ebenso großes Thema wie die körperliche Erniedrigung einer jungen Frau, brillant „getanzt“ von Anna Hein, die den Begriff des tabledance damit erschreckend definiert. Alexander Braunshör, in einer Tripelrolle sowohl als abgespaltenes Ich von Else als auch als lüsterner Dorsday und als Kindesvergewaltiger muss sich lediglich schwarze Handschule anziehen, um aus der weiblichen Figur in eine männliche zu schlüpfen. Seine die Mädchen überragende Gestalt wird zur ständigen Bedrohung, ja zu einem weiblichen Albtraum schlechthin. Über lange Strecken wird das Geschehen auch musikalisch begleitet. Anleihen bei Klaus Nomi, eine Geräuschkulisse, aus der man das Pulsieren des Blutes und einen Herzschlag heraushören kann, eine kleine Klaviermelodie und auch live gesungene Lieder, für die Boris Fiala und Andreas Hamza verantwortlich sind, schwanken zwischen hoch professionell und laienhaft improvisiert. Sicherlich ein gewolltes Stilmittel, welches die Figuren bewusst von einer bühnenüberöhten Künstlichkeit fernhalten möchte. „Being Else – ein multiples System“ bleibt an seinem Schluss in Schnitzlers Vorgabe, aus der nicht ersichtlich wird, ob Else stirbt oder die Dosis Veronal doch zu gering für einen Freitod war. Das große Verdienst dieser Aufführung ist die Thematisierung von Gewalt gegen Kinder und jungen Frauen und das Sichtbarmachen des daraus resultierenden psychischen Elends, das sich wohl kaum jemand vorstellen kann, der nicht selbst davon betroffen war. Die berühmte literarische Vorlage dient dabei als kluger Lockvogel für ein Publikum, welches sich sonst vielleicht diesem Thema nicht aussetzen würde.
Johanna Orsini-Rosenberg, Birgit Linauer, Rita Dummer, Sascia Ronzoni, Eli Veit, Ursula Wiednig und Christin Amy Artner werden an diesem Abend nicht nur schauspielerisch, sondern in hohem Maße auch körperlich gefordert. Ein wichtiger Abend, bei dem das Ankommen der Botschaft wichtiger als jede künstlerische Beurteilung sein muss.
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