Sieben auf einen Streich

Geplant waren eigentlich acht. Dann wurden es aber nur sieben. Die aber beinahe auf einen Streich. Die Rede ist nicht von der Fliegen-Ausbeute des Tapferen Schneiderleins, der sein Pflaumenmus verteidigen wollte, sondern von den sieben Streichkonzerten, die das Arditti Quartet an insgesamt zwei Abenden hintereinander im Konzerthaus in Wien spielten. Der Komponist der Stücke, Georg Friedrich Haas, hat bisher zwar schon acht verfasst, aber aufgrund einer „zu kurz bemessenen Vorbereitungszeit“ – wie es in der offiziellen Erklärung des Veranstalters, des Festivals Wien Modern, hieß – konnte Letzteres leider nicht erklingen.

Dies war aber auch schon der einzige Wermutstropfen, den man in Zusammenhang mit den Darbietungen erwähnen muss. Gewiss, insgesamt sieben Streichkonzerte an zwei aufeinanderfolgenden Abenden ist für so manchen und so manche harter, vielleicht zu harter Tobak. Das zeigte sich auch im nicht voll besetzten Mozart-Saal. Wer aber den Mut dazu aufbrachte und sich alle Stücke anhörte, wurde mit einem Klangwunder belohnt, das in dieser geballten Form schwer wiederholbar sein wird.

Ein Monsterprogramm auch für das Arditti Quartet

Das Arditti-Quartett setzte dabei nicht auf eine chronologische Abfolge. Vielmehr wurde die Reihenfolge 1, 6, 4, 3, 2, 5 und 7 ausgewählt. Als Einsprengsel dazwischen gab es noch das kleine Stück „Lair“ – eine Art Amuse-Gueule für Streicher, welches die Möglichkeit bietet, sich in kompakter und zugleich augenzwinkender Form mit der musikalischen Welt des Komponisten vertraut zu machen. Die Leistung des weltweit so herausragenden Arditti Quartet ist nicht hoch genug zu würdigen. Denn viele der Streichquartette von Haas erfordern eine überaus große Portion an Konzentration. Beinahe permanent sind alle Beteiligten am Spielen, Pausen sind – wenn überhaupt – nur kurze Generalpausen – und in einigen Werken kommen noch zusätzlich elektronische Einspielungen hinzu, die als ergänzender Klangkörper mitberücksichtigt werden müssen.

Die wunderbare Klangwelt des Georg Friedrich Haas

Aufnahme des Kairos Quartett

Das Schöne an der Kombination der Werke war, dass man einen tiefen Einblick in die wunderbaren Klangvorstellungen von Haas erhielt. Schon nach dem zweiten Quartett konnte man bestimmte Muster und Klangphrasen wiedererkennen – um alsbald unversehens aufs Neue überrascht zu werden. Haas ist ein Meister von „Klangschrauben“. Gerne lässt er dabei seine Musik sich sowohl in allerhöchste Höhen emporschwingen als auch in drehenden Bewegungen in die Tiefe absacken. Der sogartigenWirkung, die dabei entsteht, kann man sich nicht entziehen. Ja das stufenlose Auf- und Abgleiten, das zugleich einen schraubartigen Charakter annimmt, macht einen fast schwindlig. Seine Klanggebilde, die zwischen den Polen ätherisch schön bis verletzend-verstörend angesiedelt sind, sind abseits des tonalen und atonalen Systems aufgebaut. Diese ungewohnten musikalischen Hörerlebnisse werden von einer verengten Tonabfolge bis hin zu 12tel Tonabständen erzeugt, Haas verwendet jedoch auch zusätzlich das Spektrum der Obertöne. Ist man mit diesem Klanguniversum nicht vertraut, dauert es eine gewisse Zeit, bis man sich eingehört hat. Sofort sinnlich erfahrbar wird aber an einigen Stellen die ungewöhnliche Instrumentalstimmung, wenn ein gewisses klangliches Flirren einsetzt, das an Schönheit kaum zu überbieten ist. In seltenen Momenten, dafür sind diese aber umso eindrucksvoller, löst der Komponist mikrotonale Strukturen von einer Sekunde auf die nächste auf, um Akkorde auch schon einmal ganz tonal erklingen zu lassen. Auch Unisonostellen, die einem bestimmten Ton gewidmet sind, können wonnigliche Hörgefühle auslösen. Diese changieren dann zwischen höchster Freude und dem Wunsch, so schnell wie möglich abermals eine solche Tonkombination erleben zu können. Im Suchtmilieu nennt man so etwas „anfixen“.

Bewundernswert – trotz aller Gemeinsamkeiten – ist die große kreative Bandbreite mit der Haas an das Medium Streichquartett herangeht. Jedes einzelne von ihnen ist ein neuer, ein andersartiger Entwurf. So manch eines versetzt einen in wahrhaft psychedelische Zustände (Nr. 6 und Nr. 3), andere wiederum erwecken das Gefühl, dass Haas eine ironische Kompositionsfeder ansetzte. Wie in jener Stelle (Nr. 2), in welcher das Cello die vor sich hin zirpenden Geigen ganz harsch zur Räson ruft. Dieses Stück fährt auch an einer anderen Stelle unter die Haut, in welcher ein langes Unisono von vielen kleinen und zarten Arabesken abgelöst wird, die nacheinander alle Instrumente versetzt spielen. Ein Klang wie aus einer längst verlorenen Zeit huscht vorbei und ist doch an keinem direkten Vorbild dingfest zu machen.

Nummer 7 und Nummer 3 – die beiden Sonderfälle

Das Streichquartett Nr. 7 ist wohl eines der sperrigsten. Blockhaft steht es da, lässt durch die Aufstellung der Musiker – so weit wie möglich auf dem Pult voneinander entfernt – im wahrsten Sinne des Wortes viel Raum für den Klang. Die zusätzliche Einspielung von zuvor aufgenommenen Passagen vergrößert das Klangvolumen um ein Vielfaches. Die Idee der Verdichtung wird durch den plötzlichen Beginn eines Zwiegespräches zwischen analogem und digitalem Musizieren unversehens gebrochen, um bald jedoch wieder aufgenommen zu werden. Längere melodische Passagen im Cello und in der Geige erinnern an die Wiener Schule. An einer anderen Stelle wiederum jammern alle Streicher herzzerreißend, während sie sich zugleich von einem drohenden eingespielten Klang offensichtlich in Unterwerfung üben. Hier gibt es nichts Verspieltes mehr, kein Augenzwinkern, nur ein fixes Statement, das auch das Ende, das bei Haas oftmals tröstlich wirkt, nicht versöhnlich ausklingen lässt. Der aufbrausende Wind wird letztlich wesentlich stärker wahrgenommen als der zuvor stimmlose Rhythmus, den die Streicher auf ihren Stegen produzierten. Die Bedrohung von außen hat Oberhand behalten. Ein dunkles, tiefes Stück, das schwierigen Zeiten wie diesen, in welchen wir uns gerade befinden, einen adäquaten musikalischen Ausdruck verleiht.

Wie das Streichquartett Nr. 7 ist auch die Nr. 3 mit dem Titel „In iij. Noct.“ ein Sonderfall, wenngleich kompositorisch ganz anders angelegt. Geboten wurde dieses Werk als „late night“ – Gabe im völlig verdunkelten Berio-Saal. Dieser Publikumsmagnet wurde im analogen „Dolby-Surround-System“ gespielt. Ganz ohne Technik, dafür mit umso mehr klanglicher Raffinesse. Mag man sich nach den ersten Minuten noch gefragt haben, warum denn für dieses Konzert das Licht ausgeschaltet werden musste, wurde man bereits nach kurzer Zeit eines Besseren belehrt. Gerade die Dunkelheit ermöglichte es, den Klang als etwas Subjekthaftes wahrzunehmen, das sich anschleichen kann, aus dem Hinterhalt plötzlich auf einen zuspringt, das über die Köpfe flirrt oder einfach ätherisch schön verhallt. Das kleine Stückchen tonale Musik – ein Gesualdozitat ganz in der Art eines Motettenthemas – schwindelt sich ganz unbeschwert in das letzte Drittel des Stückes, um gleich darauf wieder zu abzutauchen. Imaginäre Schwärme von fliegenden Insekten veranlassen einen, den Kopf einzuziehen, Kaskaden von angetupften Tönen möchte man gerne mit der Taschenlampe einfangen, um deren glitzerndes Perlen zu bewundern. Ein Obertonrauschen wird von Sirenen abgelöst, die Bilder im Kopf wandeln sich beständig. Aus dem Quartett wird akustisch ein großes Orchester und man fühlt sich plötzlich in einem Fahrstuhl, der sich in schwindelerregende, vielleicht sogar unendliche Höhen begibt. Das leise Ausklingen verursacht ein noch viel längeres, stilles Nachhören beim Publikum bis der frenetische Applaus einsetzt. Eine meisterhafte Darbietung, die von den Musikern auswendig gespielt wurde.

Nach-Denken über zeitgenössische Musik

Ist es bei Licht noch möglich, sich während der Musik auch Gedanken über deren Aufbau zu machen, so scheint dies im Dunkel beinahe ausgeschlossen. Mit dieser Erfahrung muss wohl die Aussage von Jean-Dominique Marco, dem Intendanten des Festivals Musica in Strasbourg revidiert werden. Dieser behauptete in einem Interview einmal, dass zeitgenössische Musik mit den Augen gehört und mit den Ohren gesehen werden muss. Wie auch immer man selbst den eigenen Zugang zu zeitgenössischer Musik beurteilen mag – eines ist bei Werken von Georg Friedrich Haas sicher: Man kommt irgendwann fast zwangsläufig an den Punkt, dass die eigenen Hörgewohnheiten radikal hinterfragt werden müssen. Was ist schön? Das klassische Dur-Moll-System, das im Gegensatz zur Haas´schen Kompositionsweise eine unglaubliche Verarmung an Klängen anbietet? Seine Aussage, dass wir mit unserer Sprache ja auch mikrotonal unterwegs sind, bekommt durch die intensive Hörerfahrung aus dem Konzertsaal plötzlich eine sinnlich-erfahrbare Qualität. Beim Nach-Denken über den Haas´schen Musikstil drängt sich auch die Frage auf, warum es so vielen Menschen so schwer fällt, auch nur für die kurze Zeit eines Konzertes auf den herkömmlichen, westlichen Musikkanon zu verzichten und sich auf Neues einzulassen. Hier wird wohl die Prägung, ganz so wie beim Erwerb der Muttersprache, eine entscheidende Rolle spielen. Wenn Werke dazu verleiten, sich über Musik im Allgemeinen Gedanken zu machen, dann kann man sicher sein, dass ihnen eine ganz bestimmte kostbare Qualität innewohnt. Die Streichquartette von Georg Friedrich Haas sind so gesehen vollgepackte Schatzkisten.

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