Hurra wir leben noch!

Vielen wird die Überschrift dieses Artikels bekannt vorkommen. Lautete so doch ein Bestseller von Johannes Mario Simmel, den dieser 1978 veröffentlichte. Darin wird die Lebensgeschichte eines Mannes erzählt, der die Apokalypse an der Ostfront überlebte, danach zu Reichtum gelangte, den er jedoch schließlich auch wieder verlor. Nichtsdestotrotz führte er einen beschaulichen Lebensabend in einem kleinen Häuschen im Grünen. Wer nun glaubt, hier folgt nun eine ausführlichere Beschreibung von Simmels Roman, irrt. In diesem Artikel geht es um die letzte Produktion von Claudia Bosse die sie mit ihrem Theatercombinat im Tanzquartier in Wien zeigte. „what about catastrophes?“ lautet der Titel, der sich wie eine Frage der Regisseurin anhört, die sie sich zu Beginn eines Auswahlverfahrens für eine neue Arbeit vielleicht gestellt hat. Die Produktion ist Teil eines Gesamtprojektes (katastrophen 11/15) ideal paradise, die mit einer Gruppe internationaler Künstlerinnen und Künstler erarbeitet wurde. Laut theorielastiger Ankündigung wird darin das Potenzial von Strukturen des Zusammenbruchs untersucht.

Und tatsächlich findet das Publikum gleich zu Beginn eine Situation vor, in welcher sich kopfhörertragende Menschen auf Podien theoretisierend über die Definition des Begriffs Katastrophe unterhalten. Dabei geht es auch um nicht weniger als einer der zentralen philosophischen Fragen der Jetztzeit – nämlich jener nach der Realität. Was ist Realität, was bedeutet sie für uns jetzt? Beantwortet wird diese Frage von einem der Akteure mit der Aussage: „Realität ist ein Versprechen, an das wir glauben müssen.“ Damit bleibt der konstruktivistische Ansatz dieses Begriffes sichtbar, als etwas, das vom Menschen selbst gebildet und bestimmt wird und daher bei unterschiedlichen Individuen unterschiedliche Ergebnisse zeitigt. Ein Ansatz, der sich im Laufe des Abends etwas verschieben wird, davon aber später.

Was aber ist eine Katastrophe? Welche unterschiedlichen Arten gibt es? Naturkatastrophen oder ganz andere, die viel leiser sind und dessen Auswirkungen erst Jahrzehnte nach ihrem Entstehen an den Körpern sichtbar werden. Kann man eine Katastrophe überhaupt auf einer Bühne darstellen? Diese Fragen leiten dann zu jenem Geschehen, das sich über knappe drei Stunden ausdehnt und ganz die erkennbare theatralisch-performative Handschrift von Claudia Bosse trägt.

Da kommen Stimme, Licht, Körper und Bewegung zu ihrem Recht, aber auch an zwei Stellen eine große Portion Stille. Etwas, das an sich auf oder in einem Bühnengeschehen als Katastrophe angesehen wird, trägt diese doch das Nichts in sich, vor dem die meisten Theaterleute zurückscheuen, weil das Publikum dadurch sich selbst ausgesetzt wird. Ein Zustand, den viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen schwer ertragen. Ins Theater zu gehen und in Stille mit seinem Selbst konfrontiert zu werden schließt sich für gewöhnlich aus. Nicht so bei Claudia Bosse.

Die Bühne ist keine Bühne im herkömmlichen Sinne. Eher ein „Verhandlungsplatz“ um im Diktum der Theatermacherin zu bleiben. Ein Raum zwischen zwei gegenüber aufgebauten Rängen, die für die Zuseherinnen und Zuseher als Sitzmöglichkeiten dienen. Beim Theatercombinat sind auch die örtlichen Gegebenheiten immer nur Möglichkeiten, denn alle, die Lust dazu haben, sind auch aufgefordert, ihre Abstand haltende Comfortzone zu verlassen, um sich den Agierenden zu nähern oder das Geschehen auch aus anderen Raumperspektiven aus zu betrachten. Tatsächlich wird dieses nomadische Element in dieser Produktion jedoch auf ein Minimum beschränkt. Ein einmal gefundener Platz genügt den meisten, dort zu bleiben, ist doch die Verfolgung des Geschehens von den meisten Sitzgelegenheiten aus gut machbar. Es gibt wenige Momente, wie jene, die ganz an den Schluss gesetzt sind, in welchen man gerne aufstehen würde. Man würde gerne hören, welche Gespräche sich entwickeln, die von den Agierenden aktiv von einzelnen Personen aus dem Publikum eingefordert wurden. Zum Glück sitzt man aber ohnehin in der Nähe einer solchen Aktion und ist sich bewusst, dass mehr als eine Aufmerksamkeit für ein Gespräch eben gar nicht möglich ist.

Nach der theoretischen Eröffnung liefern die drei Frauen und zwei Männer, die an diesem Abend eine unglaubliche körperliche und psychische Leistung zu absolvieren haben, ein einprägsames Bild ab. Entweder ganz oder nur teilweise in Schachteln versteckt, manövrieren sie diese über die gesamte Aktionsfläche, ziehen einsame Bahnen, oder rotten sich zu einem Knäuel zusammen. Währenddessen hört man immer wieder Stimmen, die daraus zu kommen scheinen. Es sind Einspielungen von Interviews, die aus dem Recherchematerial stammen. Diese „lebenden Boxen“ assoziieren unweigerlich jene allerletzten Behausungen von Menschen in Not, die auch in jeder beliebigen Großstadt als solche genutzt werden. Sie vermitteln den Eindruck einer post-katastrophalen Zeit, in der jedoch die Katastrophe, die sich zuvor ereignete, nicht näher definiert wird.

Dieser höchst ästhetischen Visualisierung eines Ausnahmezustandes folgt der Auftritt zweier Frauen, die ein ausgestopftes weißes Lamm und einen ebensolchen schwarzen Widder mit auf die Bühne bringen. In einem seltsamen Singsang kündigen sie, wie sich bald herausstellt, ein Geschehen an, das jene Apokalypse nachzeichnet, die in der Offenbarung des Johannes nachzulesen ist. Das Ende der Menschheit, in dem diese gerichtet wird, wird ausschnittweise von einer der Frauen deklamiert, währenddessen die anderen beinahe mechanistische Bewegungen ausführen. Das Leid, welches dabei über die Menschheit kommt, wird durch die Körperverformungen sichtbar, welche sich die Truppe selbst zufügt. Nacheinander wird ein von der Decke hängendes Schaumstoffbündel nach dem anderen aufgeknüpft, das mit Strumpfhosen zugebunden war. Letztere – Requisiten, die als Bosse-typische bezeichnet werden können – werden über die vorhandenen Kleidungsstücke gezogen und darunter die Schaumstoffstücke so eingeschoben, dass dadurch der Eindruck von völlig deformierten Körpern entsteht.

Die minimalistischen, mechanistisch wirkenden Bewegungen deuten an, dass es sich dabei um Versuche handelt, Menschen zu retten. Da werden Herzmassagen imitiert oder mit aller Kraft versucht, etwas oder jemanden aus einem unsichtbaren Widerstand zu ziehen. Da schützen sich die einen mit ihren Armen vor einem grellen Licht, während andere wiederum ihre Hände helfend ausstrecken. Zugleich brennt sich jene Tanzsequenz ins Hirn, in der einer der Tänzer einen Globus so um seine eigene Achse manövriert, dass der Eindruck entsteht, unsere Welt befände sich in willkürlich agierenden Händen. Eine unglaublich einprägsame Bildsprache, die dem Text eine zusätzliche Qualität verleiht. Die Apokalypse erfasst schlussendlich jedoch alle Agierenden und in letzter Konsequenz finden sie unter einem Haufen von Stoff- und Schaumstoffresten ihre letzte Ruhe. Aus dem organischen Tumulus ragen nur mehr ihre Beine – die Projektion von menschlichen Antlitzen, sowohl weiblichen als auch männlichen, die zeitweise auf diesem Hügel zu erkennen ist – sie ist eine stumme Anklage. Ein letztes Memento mori, ein bewegtes Bild jener Toten, die ihre Ruhe in diesem Gemeinschaftsgrab fanden. Was bisher in einem eher atemlosen Tempo stattfand, kommt nun fast gänzlich zum Erliegen.

Das Bewusstsein für das Phänomen Zeit, das der menschlichen Wahrnehmung unterliegt, wird an diesem Abend öfter zur Disposition gestellt, und das nicht zu Unrecht. Lösen doch Katastrophen zeitliche Dimensionen aus, die den Alltäglichen überhaupt nicht entsprechen. Wie lange können sich nur wenige Minuten darstellen, in denen es in einem Theaterraum keinerlei Bewegung und Aktion gibt. Bosse scheut sich nicht, diese Zeitbremse für alle im Raum spürbar zu machen. Auch die darauf folgende Auferstehung der Menschen unterliegt einer extremen Verlangsamung. Ihre „Atemchoreographie“, die sie hier einsetzt, ist nicht nur beeindruckend, weil körperlich spür- und somit nachvollziehbar. Sie fordert von ihrem Team das Äußerste. Dafür schält sich eine nach dem anderen aus dem sie zudeckenden Grab und sucht sich schlafwandlerisch im Raum, teilweise direkt im Publikum, einen Platz. Langsam entkleiden sie sich dort bis auf die Unterwäsche und beginnen wie in Trance in einer undurchschaubaren faszinierenden Rhythmik, minutenlang im Gleichklang hörbar aus- und einzuatmen. Zu seufzen, wie aus einem schlechten Traum hochzuschrecken oder auch den Atem so lange anzuhalten, dass man meint, sie müssten ohnmächtig werden. Jeder und jede tut dies stehend und mit geschlossenen Augen. Beinahe unendlich erscheint einem dieser Part, mit dem es aber gelingt, Zeit unter einem neuen Aspekt spürbar werden zu lassen.

Langsam, ganz langsam nur werden die AkteurInnen wieder zu lebenden, denkenden und sprechenden Menschen. Gebeutelt vom Schicksal, durchwirbelt vom Scheitel bis zu Sohle beginnen sie, sich in einer Art Veitstanz zu bewegen. Sie haben eine Apokalypse hinter sich gebracht, die der Menschheit von außen auferlegt worden war. Eine prophezeite Endzeit, die seit Jahrtausenden die Phantasie der Menschen anregt und von Generationen als direkt bevorstehend gedacht wird. Aber sie haben überlebt. Eine und einer nach dem anderen gleiten sie in einen Erzählmodus, der klar macht, dass es Katastrophen gibt, die noch bevorstehen, aber deren viele, die sich innerhalb unserer Gesellschaft im Hier und Jetzt abspielen. Die Palette reicht von politischen Entscheidungen, die ganze Bevölkerungsgruppen betreffen über technische Pannen, welche die Strom- und Wasserversorgung zum Erliegen bringen, von Naturkatastrophen bis hin zu persönlichen Schicksalsschlägen, die sich in den letzten Tagen auch in der österreichischen Presse ihren Widerhall fanden.

Jakob Forman, die Hauptfigur in Simmels Roman, beeindruckt durch jenen Überlebenswillen, der ihn aus der Hölle ins Leben zurückholt. Und das nicht nur einmal. Auch in Bosses „what about catastrophes“ ist es der menschliche Überlebenstrieb, der dafür sorgt, all das, was an Katastrophen über die Menschheit hereingebrochen ist, aber auch all das, was sie aktuell bedroht, aus dem Bewusstsein weit weg zu schieben und sich in das pure Leben zu stürzen. In einer allerletzten Kraftanstrengung beginnen sich Nathalie Rozanes, Alexandra Sommerfeld, Florian Tröbinger, Kostas Tsioukas und Elizabeth Ward mit ausgestreckten Armen um ihre eigene Achse zu drehen und sich auf diese Art und Weise minutenlang fortzubewegen. Abermals ist es eine Art Trance, in der sie sich befinden. Dieses Mal aber eine lustvolle, eine das Leben bejahende, durch Freudenschreie willkommene. Es ist eine Huldigung des Lebens und zugleich eine Negierung des Todes. Es ist jene menschliche Charakteristik, die Mut auf Zukünftiges macht, auch wenn dieser Mut für viele ein unbegründeter ist.

Günther Auer, der für Video und Sound zuständig war, schuf einen die Aktionen begleitenden Klangraum, der niemals aufdringlich, aber umso passgenauer erschien. Beeindruckend, dass einzelne, auch sensible klangliche Phänomene, wie jene der Posaunen, die im Umfeld der Apokalypse erklangen oder immer wiederkehrende Soundballungen, die Drohendes verkündeten, ihre Wirkung nicht verfehlten.

Ein Abend, bei dem vor allem jene belohnt wurden, die bereit waren, über drei Stunden ein hohes Aufmerksamkeitspotenzial aufrechtzuerhalten. Eine theatralische Performance, in der es gelang, auch den düstersten Zukunftsaussichten einen positiven Widerpart entgegenzustellen. Eine Aussage, die beinahe schon im ausgerufenen Denkkonstrukt des „Neuen Realismus“ angekommen zu sein scheint. Jener Idee, die den Konstruktivismus mit der Ontologie zu versöhnen sucht. Mehr als erstaunlich. „Hurra wir leben noch!“

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