Gibt es ein Leben nach dem Trauma?

Die Seite statista.com des deutschen Statistikunternehmens Statista GmbH aus Hamburg hat sie alle fein aufgelistet. Alle Amokläufe in den „westlichen Demokratien“ von 1966 bis 2012. Darin sind 32 solcher Ereignisse angeführt. Vergleicht man diese Statistik mit der wecowi-Seite (Web Community Wiki) so führt diese im selben Zeitraum 48 an, wobei jenes, das den größten Blutzoll forderte, dort nicht aufscheint. Es ist die Wahnsinnstat von Utoeya bei Oslo, bei welchem der Täter insgesamt 77 Menschen erschoss.

Das Ereignis „Amoklauf“ hat sich aufgrund der medialen Verbreitung in unser aller Angstrepertoire eingenistet. Mit „Schicksal“ dem nicht zu entrinnen ist, trösten sich die meisten bei dem Gedanken, selbst einmal betroffen zu sein und versuchen das Grauen, das einem dabei befällt, so schnell wie möglich wegzuschieben.

Der Autor David Greig, 1969 in Edinburgh geboren, hat sich gemeinsam mit dem Regisseur Ramin Gray, geboren 1969 in London, das Massaker in Norwegen als Ausgangspunkt ihrer neuen Arbeit „Die Ereignisse“ auserkoren um zu untersuchen, welche Auswirkungen traumatische Vorfälle wie diese auf Überlebende haben. Die schreckliche Tat wird nicht rekonstruiert, sondern sie stand lediglich am Anfang der Recherche für eine Arbeit, die den fiktiven Amoklauf eines jungen Mannes während einer Chorprobe aufzeigt.

Dabei steht Claire, eine Geistliche, im Mittelpunkt des Geschehens, die während einer Chorprobe nicht nur Zeuge des schrecklichen Geschehens wird, sondern dieses völlig traumatisiert überlebt. An der Seite von Franziska Hackl (Claire) und Florian von Manteuffel, der in unterschiedliche Rollen schlüpft, agierte am Premierenabend der „Brunnenchor“ unter der Leitung des Dirigenten Ilker Ülsezer. Jeder einzelne Abend wird von einem anderen Chor begleitet, was für das Schauspielhaus in Wien sicherlich jeweils ein volles Haus garantiert. Und was vor allem der Intention von Greig und Gray entspricht, die Profis und Laien auf der Bühne versammelt haben wollten. Und tatsächlich ist es diese Mischung, die den Theaterabend mit einer ganz speziellen Atmosphäre auflädt. Franziska Hackl durchlebt darin alle psychologischen Stadien eines Traumas. Begonnen von der Solidarisierung mit dem Täter, über die permanente, von der Umwelt als pathologisch empfundene Suche nach dem Warum, über das vermeintliche Stadium des Vergebens – über das sich vor allem alle Facebookfreunde wahnsinnig freuen – bis hin zu tödlichen Rachegelüsten. Dass sie bei ihrer persönlichen Traumaarbeit Grenzen überschreitet, die nicht nur ihre Lebensgefährtin in die Flucht schlägt, sondern auch den von ihr betreuten Chor, versteht sie nicht wirklich. „Ich bin doch das Opfer“ schreit sie ihrer Freundin Kathrina entgegen, als diese sie verlässt und versteht sich dadurch gleich als doppelt Unschuldige der Unrecht angetan wird. Ihre Gottesverneinung, die sich vor allem beim Singen des Chorales „Mein Herrscher wie groß bist du“ bedrohlich zusammenballt, senkt sich als verständliche Reaktion auch auf die Zuseherinnen und Zuseher. Entgegen allen Empfehlungen lässt die junge Frau jedoch nicht locker und versucht bis hin zur direkten Täterkonfrontation „das Schwarze ins Weiße“ zu waschen.

Bei ihrem Kampf gegen den Verlust ihrer Seele stellt sie all jenen Menschen Fragen, die vor dem Amoklauf Kontakt zum Täter hatten. Von Manteuffel schlüpft dabei in die Rollen des überforderten Vaters, eines Schulfreundes, der keiner gewesen sein will, und eines rechtsradikalen Parteiführers der Ausländer nicht hasst, sondern nur die, die sich in seinem Land aufhalten. Sie alle können sich das Geschehen nicht erklären und versuchen mit Vehemenz ihren eigenen Schuldanteil von sich zu weisen. Besonders einprägsam agiert der Schauspieler in jenen diametral entgegengesetzten Szenen, in denen er sich vor der Tat als junger Mann mit einem Rauschmittel betäubt, um als „Berserker“ auf die Menschen losgehen zu können. Aber auch als Schamane „Wolfgang“ aus St. Pölten, der mit dem Chor den Schmerz in einem gemeinsamen Ritual vertreiben soll. In diesen Momenten gibt es kein Halten mehr, das Publikum lacht aus vollem Hals und versteht auch das nachfolgende Geschehen, in dem ein Sänger Claire erklärt, dass sich der Chor aufgelöst hat. „Wir wollen keine Totenlisten mehr schreien, keine schamanischen Gesänge mehr abhalten, das macht uns keinen Spaß“, erklärt er kurz und bündig und macht klar, dass das Gros der Menschen lieber verdrängt, als eine Gräueltat schmerzvoll aufzuarbeiten.

So oszilliert die Stimmung zwischen theatralisch hervorgerufener Betroffenheit, Freude an schwarzem Humor und wonniger Hingabe an Schönklänge, die der Brunnenchor immer wieder zu produzieren im Stande ist.

Die Bühne wird nur von einem Klavier, drei Reihen, auf welchen die 30 Chorsängerinnen und Chorsänger platziert werden und einem großen, violetten Vorhang hinter ihnen definiert. Das intensive Violett des Stoffes kommt nicht von Ungefähr, versteht man diese Farbe als Liturgische. Sie steht darin als „Sinnbild für den Übergang und die Verwandlung, wird in den Bußzeiten vor Ostern (Fastenzeit) und vor Weihnachten (Advent) getragen, als Alternative zu Schwarz auch bei der kirchlichen Begräbnisfeier und am Fest Allerseelen“. (Wikipedia)

Der Showdown, in dem der junge inhaftierte Täter schließlich auf Claire trifft, die ihm permanent die Frage nach dem Warum stellt, zeigt schließlich nicht mehr nur die Opferrolle auf, sondern macht zumindest in Ansätzen klar, dass auch der Täter ein menschliches Wesen ist, das in Gefangenschaft sogar das Privileg einer Psychotherapie in Anspruch nehmen darf. Der versöhnliche Ausgang – die Erneuerung des multikulturellen Chores – macht zwar das Geschehene nicht mehr ungeschehen, gibt aber Hoffnung, dass das Böse und Todbringende letztendlich keinen Sieg über ein solidarisches Miteinander davonträgt.

Heftiger Applaus machte deutlich, wie sehr nicht nur die schauspielerischen Leistungen, sondern vor allem auch der Auftritt des Brunnenchores geschätzt wurde.

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