Jean-Baptiste Lully und Jean-Baptiste Molière erarbeiteten während einer Spanne von sieben Jahren gemeinsam mehrere Ballettkomödien. Für diese neue Gattung kennzeichnend war die Auflockerung der musikalischen Beiträge durch schauspielerische. Eine davon, „Der Bürger als Edelmann“ versetzt derzeit in Graz sowohl das Opern- als auch das Theaterpublikum in Staunen. In einer Koproduktion der Oper Graz und des Schauspielhauses präsentiert sich das genreübergreifende Barockspektakel unter der Regie von Matthias Rippert als außergewöhnliches Vergnügen mit derber Sprache aber exquisiter Musik und einfallsreichem Tanz.
Hans Magnus Enzensberger hat den Text aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, das Team um Rippert hat einiges daran verändert und sich auch einen neuen Schluss einfallen lassen. All jene, welche die Aufführung gesehen haben, oder noch sehen werden – dürfen sich rückblickend oder vorausschauend auf „viel Prosa“ freuen. Der reiche Bürger Jourdain träumt von seinem Aufstieg in den Adel. Reich an Geld, aber arm an Manieren, engagiert er Lehrer jeglicher Couleur, um sich das adelige „sawo a wif“ auch selbst zu eigen zu machen.
Sowohl sein Musiklehrer, der in unflätiger Manier über die Gesangsdarbietung seiner Schülerin herfällt, aber auch der engagierte Ballettmeister, der Philosoph sowie der Fechtlehrer sind in der Verwendung von Schimpfworten mehr als geübt. In der Hitze der Emotionen verfliegt das „savoir vivre“, wie man sieht, in jeder Gesellschaftsschicht im Nu. Da mag es so manchem Opernpuritaner die Schuhe ausziehen, letztlich erweist sich jedoch die Entscheidung, den Figuren keine Schönsprache aufzuerlegen, als goldrichtig.
Das Orchester, zusammengeschrumpft auf Barock-Größe, findet mit seinem Dirigenten Konrad Junghänel Platz nicht unter, sondern auf der Bühne, samt seinem „Holzding“ – wie Monsieur Jourdain das Cembalo unsachgemäß benennt. Tim Breyvogel zieht in dieser Rolle sämtliche Register, die einen guten Komödianten ausmachen. Seine erstrebte Verwandlung von einem Bürger in einen Edelmann, die man nicht müde wird höchst amüsiert zu verfolgen, macht unglaublich Spaß. Ob seiner Frau gegenüber aufbrausend oder manierlich auf einem Steckenpferd hopsend, ob sturzbetrunken oder verwundert in der Initiationszeremonie, die man an ihm durchführt, um in die höchsten Kreise aufgenommen zu werden – egal, welch emotionale Zustände er zeigen muss – er beherrscht sie alle aus dem Effeff.
Dass das Ensemble des Schauspielhauses, das rund um ihn agiert, ebenso mit großer Freude dabei ist, in dem doch wesentlich größeren Haus als ihrem eigenen zu spielen, ist jeder und jedem einzelnen von ihnen anzumerken. Viele treten in Doppelrollen auf, die sie dank der Kostüme von Johanna Lakner auch bravourös unterschiedlich gestalten. Franz Solar glänzt als hinterlistiger Graf genauso wie als verprügelter Philosoph, Otiti Engelhardt mimt den gestrengen Tanzlehrer mit grauem Bart im scharfen Kontrast zur grazilen Lucile, der Tochter von Jourdain, Luiza Monteiro die singende Kompositionsschülerin und die sich in einem Lachkrampf schüttelnde Dienerin Nicole, Mario Lopatta glänzt als liebesleidender Cléonte und fränkischer Schneidermeister gleichermaßen, Oliver Chomik als dessen wortkarger Diener, sowie fordernder Fechtmeister, Luisa Schwab urkomisch als Baronin mit steirischem Dialekt und alles überragender Größe, Philip Imbach als Schrittschnittspezialist in Karl Lagerfeld-Manier, aber sächselnder Zunge. Sie alle stehen ihren singenden Kolleginnen und Kollegen gleichwertig zur Seite.
Anna Brull, Sebastian Monti, Franz Gürtelschmied, Euiyoung Peter Oh, Markus Butter und Wilfried Zelinka zeigen der Neureichengesellschaft die hohe Kunst des Gesanges. Ob auf einem Barhocker, am Bühnenrand direkt vor dem Publikum platziert, ob sich auf der festlichen Tafel rekelnd oder hoch in den Seilen schwebend, ob in Solo-Arien, Duetten, Terzetten oder Sextetten – sie alle waren am Premierenabend bestens disponiert.
Zwischen den Szenen vor und jenen nach der Pause, ist ein starker Bruch festzustellen. Wird, was die Kostüme betrifft, zu Beginn an die Vorstellungskraft appelliert, greift man nach der Pause ganz tief in die Theaterillusionsmaschinerie. Imitierte das Ballett anfangs noch mit Feinripphemden und weißen Unterhosen Schafe und Balletteleven, kann man sich im krassen Gegensatz dazu in den letzten Szenen an ihren Brokatgewändern mit Goldtressenbesatz gar nicht sattsehen. Naomi Bethke, Philipp Imbach, Nicolas Köhler, Isabel Edwards und Lorenzo Galdeman durften sich zurecht am langanhaltenden Applaus erfreuen. Mit der Choreografie von Louis Stiens, angesiedelt zwischen klassischen Ballettschrittfolgen und zeitgenössischem Tanz, hatten sie das Publikum von Beginn an auf ihrer Seite. Auch der Chor und die vermeintliche kaiserliche Entourage glänzen in herausragenden, rot-goldenen Kostümen mit fantasievollem Kopfschmuck.
In der Grazer Fassung wird Jourdain nicht wie im Urtext in die osmanische Herrscherklasse aufgenommen, sondern darf sich darüber freuen, der vermeintliche Schwiegersohn des jungen österreichischen Kaisers zu werden. Eine höchst humorvolle Idee, die noch dazu die Gelegenheit bietet, die Protagonisten in einer alemannischen Sprachverballhornung parlieren zu lassen. So wird der Bürger schließlich nicht zum türkischen „Mamamouchi“, sondern zum österreichischen „Hoderanimodaroda“, ausstaffiert mit einer Hochglanzritterrüstung, die das Publikum zu lautem Gelächter animiert. Auch die Idee, seinen Verführer als Professor Dumbledore-Verschnitt aus der Harry-Potter-Serie auftreten zu lassen, amüsiert köstlichst.
Die Frage, wie man den Stoff aus der Zeit Ludwigs des XIV heute auf die Bühne bringen kann, ohne Langeweile aufkommen zu lassen oder von einer Peinlichkeit in die andere abzurutschen, aber auch ohne jeglichen Anspruch auf historische Aufführungspraxis, diese Frage wird am Opernhaus in Graz eloquentest beantwortet. Man braucht dazu nicht nur die dementsprechenden Ensembles, sondern auch den Mut, frech und unkonventionell an das Thema heranzugehen. Dass daraus jedoch keine verkopfte, zeitgeistige Theater-Nabelschau geworden ist, ist höchst erfreulich. Zugleich macht es auch großen Spaß und Sinn, mit all dem aufzuwarten, was Oper und Theater kann. Witzige Dialoge, herzerwärmende Arien, Überraschungseffekte im Bühnenbild von Fabian Liszt und den Kostümen, sowie ein jung besetztes, sympathisches Ballettensemble.
Diese Mischung ergibt einen Abend, der außerhalb jeglicher Norm steht, zugleich aber tief verankert ist in jenen Erwartungen, die das Publikum liebt und für die es immer zutiefst dankbar ist: Unterhaltung, die es schafft, den Alltag vergessen zu lassen.