Großes Aufgebot beim musikprotokoll im Steirischen Herbst 23
11. Oktober 2023
Mit dem ORF RSO Wien unter der Stabführung von Marin Alsop bot das musikprotokoll seinem Publikum einen berauschenden Abend mit zeitgenössischer Musik.
Michaela Preiner
Foto: (ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Am Beginn stand Sappho / Bioluminescence von Liza Lim auf dem Programm. In ihrer Komposition wollte sie „einen Raum für Spekulationen eröffnen“, was aufgrund des Titels ein Leichtes ist. Lim spricht sowohl von der antiken Schriftstellerin, über die wir mehr ahnen, als das von ihr überliefert wäre, aber auch von einem Oktopus, der sich in einen Sternenhimmel verwandeln kann, um so seine Feinde zu täuschen. Ein Zittern in den Flöten, das in das Orchester übergeht, steht am Beginn. Bald schon ist eine harmonische Abfolge in den Bläserstimmen zu hören, die stark an die Praxis von Filmmusik erinnert. Hauptakteure sind immer wieder die Hörner, die gut hörbar aus dem Orchester herausstechen.

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Marin Alsop und das RSO (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Auffallend und charakteristisch ist auch, dass das gesamte Instrumentarium beinahe im Dauereinsatz agiert. Glockenschläge, flirrende Geigen und eine rüde Interruption der Harfen – die noch mehrfach zu hören sein wird, folgen. Wieder ist es aber ein Bläserwohlklang, der sich vom übrigen Geschehen abhebt. Nach einem majestätischen Orchesterklang und sphärischen Streichern, erklingt das Zittern, das zu Beginn zu vernehmen war, abermals. Sowohl die Blech- als auch die Holzbläser bekommen ihren eigenen Part, wobei immer wieder ein Wohlklang durch das Instrumentarium fließt. Aber auch ein kleines Geigensolo darf sich präsentieren, unterstützt von kleinen Harfeneinsprengseln. Immer wieder  wird das Schöne, in das man sich gerne fallen lässt, von unerwartet harten Klängen wie von einem Xylophon, einem Vibraphon oder Harfen unterbrochen. Dass am Ende einer Art Schwebezustand beschrieben wird, fügt sich gut und logisch an das zuvor Gehörte. Ein schönes Werk, das Lust macht, mehr von der Komponistin zu hören.

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Karl Heinz Schütz als Solist an der Flöte (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)

Der zweite Programmpunkt „making of – intimacy“ stammt von Clemens Gadenstätter und ist für Soloflöte und Orchester verfasst. Karl-Heinz Schütz übernahm den anspruchsvollen Solistenpart und reizte dabei eine breite Klangpalette seines Instrumentes aus. Den Beginn macht das gesamte Orchester gleichzeitig in einem aufgeregten, raschen Duktus. Die Flöte, die kurz darauf hörbar wird, wird vom großen Klangapparat rasch genutzt, um auf sie zu reagieren. Dieses Spiel zwischen Vorgabe und Reaktion wird sich bald umgekehrt, nach einem wilden Zwischenspiel ohne Flöte, wiederholen. So intensiv der Beginn war, so melancholisch setzt sich bald danach ein Flötensolo in den Raum, dessen Klageton abermals vom gesamten Instrumentarium aufgenommen wird. Das, was eben noch an Trauer hörbar war, verändert sich atmosphärisch in ein Aufbegehren. Schlagen und lautes Blech, ein Aufbrüllen und laute Trommeln prägen diesen Teil. Wie schon zuvor ändert sich das Geschehen komplett und zu Flüsterstimmen bleibt die leise Flöte lange auf einem Ton. Die lange, ruhige Passage ist auch durch ein zartes Solo gekennzeichnet, das vom Flötisten auch stimmlich während des Spiels begleitet wird. Währenddessen agiert das Orchester wie ein schlafendes Tier, das auf die Dynamik eines Flatterzungeneinsatzes von Schütz und dessen Läufe reagiert. Eine darauffolgende Klangverdichtung mit vollem Orchestereinsatz begibt sich aufwühlend in einen brüllenden Zustand, wie der eines waidwunden Tiers. Nun ist es an der Flöte, die an- und absteigenden Läufe des Orchesters zu übernehmen und ihm danach wieder die Bühne zu überlassen. Glocken, Becken, ein aufbrüllendes Blech, harte Schläge und Klopfen kennzeichnen die heftige Passage, die abermals von einer langen, leisen Passage mit Stimmhauchen abgelöst wird. Wie zuvor flammt das Geschehen abermals auf, um sich rasch wieder zu beruhigen. Zu hören sind nun Stimmen, dunkles Blech und eine flatternde Flöte – bis alles in eine lange ruhige Passage übergeht, die langsam verweht. Es ist ein Auf und Ab, ein emotionales Klagen und Brüllen genauso wie ein in sich gekehrtes, melancholisches Verweilen, das in Gadenstätters musikalische Sprache verwandelt wurde. An oberster Stelle stehen in diesem Werk hörbar gewordene Emotionen. Emotionen, welche vom Publikum ähnlich, aber nicht ident ausgelegt werden können und damit für jede und jeden genug eigenen interpretatorischen Spielraum bereithalten. Auch „strange bird – no longer navigating by a star” von Clara Iannotta, beschreibt emotionale Zustände, in welchen die Metapher eines seltsamen, flatternden Vogels, aufgenommen ist, „dessen zielloses Kreisen die Quelle der Schreie ist, die auf einem leeren Platz widerhallen“ – so die Komponistin. Ihr Klangmaterial ist nicht immer genau definierbar, eine E-Gitarre wird häufig als Rhythmusinstrument eingesetzt, Geigenbögen streichen an Becken entlang, tiefes Blechbrummen markiert einen düsteren Gesamteindruck. Immer wieder kommt es zu aufgeregten Zwitschergeräuschen und Zuständen, in welchen es den Anschein hat, als bliebe die Zeit stehen. Mit Vogellauten endet der Emil-Breisach-Kompositionsauftrag 2023 und hinterlässt den Eindruck, mithilfe der Musik kurz in einen psychischen Abgrund geblickt zu haben.

Am Ende der Konzertreihe stand „Scorching Scherzo“, ein Klavierkonzert von Bernhard Gander. Das Werk ist ein typischer „Gander“: Intensiv, pulsierend, aufpeitschend, furios. Und es belässt das Klavier in seinem ursprünglichen Aggregatzustand, ohne Präparierung oder rhythmische Erweiterungsmöglichkeiten. Diese sind auch nicht nötig, so furios ist der Part größtenteils, der ihm zugedacht ist. Joonas Ahonen benötigt Kraft und Ausdauer, um die raschen Akkordabfolgen dem Orchester so entgegenzusetzen, dass sie an der Klangspitze stehen bleiben und nicht von den Instrumenten übertönt werden. Ein einpeitschender, jazziger Rhythmus, begleitet von Pauken und Bässen zu Beginn, sowie ansteigende, repetitive Läufe, die in Bassakkorden abschließen, gehen sofort ins Ohr. Die Wildheit, die zu Beginn schon ihr Gesicht gezeigt hat, kehrt immer wieder und zerfällt an einer Stelle erst im Solopart des Klavieres. Dieses nimmt dabei die ansteigenden Läufe der Bläser, die zu Beginn zu hören waren, auf, bis sich das Orchester wieder wild zurückmeldet. Ein abermaliges Solo mit kurzen Stoßläufen lässt eine harmonische Struktur aus dem 19. Jahrhundert erkennen, die wieder von kurzen Läufen unterbrochen wird, aber abermals eine Melodie eingeschoben bekommt. Schief setzten sich die Streicher mit einer dennoch lieblichen Klangfarbe dazu und erfahren mit den Celli und wilden Pauken einen abermaligen Beginn zu einem furiosen Part. Ein wilder Rhythmus, hetzend und atemlos erfasst das Orchester und stülpt sich über das Klavier, das nun kaum mehr hörbar ist. Das Geschehen bewegt sich in einem Part, der von den Bässen, tiefem Blech und Holz geprägt ist und für sich allein, ausgekoppelt, schon ein eigenes, beeindruckendes Werk darstellen würde. Wilde Akkordabfolgen mit ebensolchen Läufen, unterstützt abermals vom ganzen Orchester, bilden gegen Ende der Komposition einen weiteren Höhepunkt, der abrupt endet und in einen abwechslungsreichen, zarten Teil mündet, der vom Klavier und den Geigen getragen wird. Nun sind es keine ansteigenden, sondern abwärts laufende Spiralen in hellem Dur, die eine neue Farbe ins Geschehen bringen. Der Einfall, im Finale jene Läufe wieder erklingen zu lassen, die zu Beginn im Bass des Klavieres hörbar waren, dieses Mal jedoch im Diskant, bildet eine wunderbare Klammer, mit welcher das Konzert endet. Es ist die Kombination aus der mitreißenden Wildheit des technisch anspruchsvollen Klavierparts und den Zitaten aus der romantischen Klavierliteratur, die das Publikum extrem begeisterte. Viermal holte es Gander, Alsop und Ahonen zur Akklamation auf die Bühne zurück. Ein Umstand, der bei Aufführungen von zeitgenössischer Musik eine absolute Ausnahme bildet. Mit diesem Abend bot das musikprotokoll eine Klang-Opulenz, die zugleich auch aufzeigte, dass Kompositionen für großes Orchester nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. Sehr zur Freude der Zuhörerschaft.

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