Das einprägsame Bühnenbild von Katrin Brack – drei runde, schwarze Scheiben, die in unterschiedlichen Schräglagen den Raum ausfüllen – wird von Wolkenformationen ergänzt, die in verschiedenen Farben, von pastellig, bis zu graubraun auf- und abgezogen werden.
Die Assoziation, dass sich hier nicht nur eine Gesellschaft auf unsicherem Terrain bewegt, sondern sich auch die Natur in ständigem Aufruhr befindet, liegt auf der Hand.
Die unaufgeregten Kostüme (Teresa Vergho) beeindrucken vor allem durch ihre strenge Farbgebung und Aussagekraft, welch emotionale Zustände ihre Träger und Trägerinnen jeweils durchleben. Gemeinsam mit dem Bühnenbild erhält so jede einzelne Szene ihre unverwechselbare optische Kraft, die in Stills umgesetzt, in jedem Modern-Art-Portal reüssieren könnte.
Sphärisch unterstützend wirkt die Live-Musik, die vom Bühnenrand aus vom Duo Vogel und Kürstner. Dem Auf- und Abbau von Spannungsmomenten wird so, wie bei gut gemachter Filmmusik, eine eigene Klangqualität unterlegt, die emotional stark beeinflusst.
Die Weisheit, dass in einem Menschen viele stecken, die auch aus der Psychologie bekannt ist, erfährt bei Henkel eine neue Dimension. Das Phänomen ist nicht zuletzt vom Krankheitsbild der DIS – der dissoziativen Identitätsstörung bekannt, bei welcher die Menschen das Leid auf mehrere intrinsische Persönlichkeiten aufteilen, um damit überhaupt umgehen zu können. Karin Henkel greift auf die Idee der multiplen Persönlichkeiten insofern zurück, als sie ihren Hamlet von gleich fünf Personen (sowohl männliche als auch weibliche) aufteilt. Sie macht damit nicht nur die Vielschichtigkeit deutlich, mit welcher dieser ausgestattet ist. Vielmehr kann man auch eine zweite Interpretationsebene einziehen: Das, was hier gezeigt wird, ist kein Einzelschicksal. Das Hadern mit dem Erlittenen, das Zaudern mit der Verteidigung von Recht und das letztliche Ausrasten im Blutrausch – all das mussten viele Menschen in ihrem Leben kennenlernen.
Neben der Entwicklung des königlichen Dramenstranges legt die Regisseurin aber auch ein beredtes Zeugnis davon ab, was ihrer Meinung zeitgenössisches Theater eigentlich ist. Und das tut sie mit Verve und Können. Wie ihr Ensemble ständig zwischen den Shakespearerollen und jenen schlüpfen, in welchen sie sich gegenseitig als Schauspielende zurechtweisen, kritisieren oder auch lächerlich machen, das macht einfach großen Spaß zuzusehen. Nach jener Szene, in welcher der Brudermörder Claudius als schon gekrönter König von der 1. Publikumsreihe aus zusieht, wie Hamlet, sein Stiefsohn ihm den Mord an seinem Vater vorspielt und sich letztlich durch seine erschrockene Reaktion verrät, darf Hamlet dem Publikum zugewandt stolz erklären: „Was das Theater nicht alles kann!“
Essenziell aber für die Inszenierung sind jene textlichen Erweiterungen, die das Tun der Personen erklärbar machen. Gertrude, Hamlets Mutter, von ihm schon bis aufs Äußerste gereizt, verliert die Contenance und sagt ihrem Sohn ins Gesicht, dass er beileibe kein Wunschkind war. Sie musste sich schlicht dem Druck beugen, einen Thronfolger zu gebären, unabhängig davon, dass sie Hamlets Vater abgrundtief verachtete.
Auch Ophelia erfährt eine erweiterte Charaktererklärung, wird sie doch als brave, gehorsame Tochter – zum Gehorsam gezwungen – dargestellt. Dass die jungen Leute bei diesen Vorbildern keine Chance haben, sich in ihrem Leben glücklich zu entwickeln, wird dabei mehr als klar.
Mit der Engländerin Kate Strong, welche seit vielen Jahren von Henkel in Shakespearerollen verpflichtet wird, blüht der Text zweisprachig – sie spricht Englisch und stellenweise einige Worte Deutsch – förmlich auf. Man meint, mit ihr jemanden auf der Bühne zu haben, der Shakespeares Diktum nicht nur im Blut hat, sondern auch ein Bindeglied hin in jene Zeit ist, als das Stück geschrieben wurde. Ob als Hamlets Mutter, Totengräber oder Erzählerin – die Frau fügt sich ins Ensemble und sticht zugleich aber auch aus ihm hervor.
Der Kürzung, die nicht nur die Fortinbras-Erzählung, sondern auch den blutrünstigen Schluss ereilte, der von Kate Strong in Stenografie-Manier erzählt wird, hat dieser Fassung gutgetan. Keine unnötigen Nebenstränge lenken so von der charakterlichen Entwicklung Hamlets ab, die, hat man diese Inszenierung gesehen, auch für alle weiteren im Gedächtnis bleiben wird.
Das Geisterheer, mit einfachen weißen Laken ausgestattet, bedrängt den sensiblen jungen Mann von Beginn an und lässt ihn auch bis zum Schluss nicht mehr los. Dass es in einer Szene auch im Parkett Aufstellung findet, verstärkt auch beim Publikum den Eindruck, dass man ihnen nicht entkommen kann, auch wenn man es gerne möchte.
Alexander Angeletta, Benny Claessens, Katharina Lorenz, Michael Maertens, Marie-Luise Stockinger und Tim Werths spielen Hamlets Entourage, zum Teil in Mehrfachrollen, alle in Bestform und mit offensichtlichem Spaß am Spiel. Dass Hamlets Verabschiedung „Ich bin Hamlet, ich bin tot, adieu“ nicht als humoriger letzter Satz hängen bleibt, dafür sorgt das musikalische Zitat von Didos Lament von Henry Purcell. „Remember me! Remember me!“ lautet darin der Refrain. Dass man sich an diesen Hamlet erinnern wird, ist sicher.