GRAZ-Kunst ist keine Mäusescheiße
12. Januar 2024
Ein Muss für alle Schwab-Fans und solche, die es noch werden wollen.
Michaela Preiner
Foto: (Jo Ambrosch)

Verteufelt und verschmäht von den einen, geliebt und vergöttert von den anderen. Einer, der das von sich einst behaupten durfte, war der Grazer Dramatiker Werner Schwab. Bis heute hat sich an dieser Zweiteilung nichts geändert, obwohl er längst einen Spitzenplatz in der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingenommen hat.

In der Silvesternacht vor 30 Jahren, am 1. Jänner 1994, starb Schwab an Atemlähmung, hervorgerufen durch exzessiven Alkoholkonsum. Das, was der Autor in seinem kurzen Leben zwischen 1958 und 1994 seelisch zu verdauen hatte, war eine Menge. Eine schreckliche Kindheit in Elend, Not und Bigotterie gleichermaßen. Darauf aufbauend entwickelte sich ein multikausaler, künstlerischer Ausdruckswillen, der sich aller Genres gleichermaßen bedienen wollte und konnte. Seine Trunksucht, der er letztlich auch erlag, darf als logischer Ausdruck dessen angesehen werden, was sein Innerstes nicht mehr imstande war, auszuhalten.

"Schwabgasse 94" - Schauspielhaus Graz (Foto: Stella Kager)

„Schwabgasse 94“ – Schauspielhaus Graz (Foto: Stella Kager)

Mit „Schwabgasse 94 – eine Hommage an Werner Schwab“ setzt ihm nun das Schauspielhaus in Graz unter der fulminanten Regie von David Bösch ein wahres Ehrendenkmal. Nicht, dass das Schauspielhaus in Graz nicht immer schon Schwab auch in vielen Uraufführungen gewürdigt hätte. Doch das, was es dieses Mal zeigt, darf als Kondensat und zugleich auch Höhepunkt gesehen werden. In eineinhalb Stunden wird aufs Ernsthafteste und Spaßigste zugleich befolgt, was Schwab tatsächlich wollte: „Das Publikum müsse sich auf die Schenkel schlagen vor Lachen und dann plötzlich die darunterliegenden Grausamkeiten entdecken“ – Zitat derselbe.

Klug zusammengesetzte Textpassagen aus „Mein Hundemund“, „Die Präsidentinnen“ und „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“, sowie Fragmente aus Schwabs Arbeitsbüchern ergeben ein neues Ganzes, in dem sich sogar eine zarte Liebesbeziehung zwischen der Klo-Superwoman Mariedl und dem gepeinigten Herrmann anbahnt.

Von Beginn an sitzt jeder Satz, passt jede Regie-Idee, beeindrucken das trashige Bühnenbild und die treffenden, ausdrucksstarken Kostüme von Patrick Bannwart. Getragen von einem Ensemble, das sich die Seele aus seinem Leib zu spielen scheint, wird schon nach wenigen Augenblicken klar, dass dieser Abend eine Sensation ist. Wie sich Olivia Grigolli als Frau Wurm und Mervan Ürkmez als ihr Sohn Herrmann anfangs eine Beschimpfungsschlacht ersten Ranges liefern und dabei ihr Innerstes nach außen kehren, ist zum Lachen und zum Erschrecken gleichermaßen. Einen Fuß in blutige Fatschen gebunden, teilweise einen martialischen Ledermantel übergezogen und eine Gasmaske auf dem Gesicht, gelingt dem unterdrückten Sohn dennoch das Kunststück, sich im Handumdrehen in jenen kleinen Jungen zu verwandeln, der von seinem Onkel missbraucht und in den Schweinestall gesteckt wurde. Grigolli in der Rolle der verhärmten Mutter taucht später als Grete, der Gegenspielerin von Erna in den Präsidentinnen wieder auf. Darin liefert sie sich mit Karola Niederhuber das Duell des Wojtyla-Leberkäses gegen eine Pistole, ausgefochten in zwei nebeneinanderstehenden Mülleimern, dass einem Hören und Sehen dabei vergehen kann. Allein für diese Szenen lohnt es sich, das Stück anzusehen, wären da nicht noch eine ganze Reihe anderer. Auch sie leben vom Spiel, vom Text und dem Zauber, dass sich dies alles zu einer Einheit fügt, die Schwab als das erkennen lässt, was er tatsächlich war: Ein Sprachen- und Erzählgigant, der der Gesellschaft einen Spiegel vorhielt, in den viele nicht schauen wollten und auch heute noch nicht schauen können. Karsten Riedels Musikbeigaben, angesiedelt zwischen Punk und Pop trennen die Szenen gekonnt voneinander, ohne als reiner Übergang wahrgenommen zu werden.

Die Auftritte von Rudi Widerhofer als Hundsmaulsepp, Dichter und Nationalratsabgeordneter – sind prämierungswürdig. Als armes Würstchen in doppeltem Sinne, zugleich aber auch verkannter Autor, macht er ein wenig später dem jungen Schwab-alter-Ego Herrmann gleichsam das Fenster in dessen mögliche Zukunft auf. Mit langen, zerzausten Haaren, nur mit Unterhose bekleidet, sitzt er als alter Mann, nicht wie einst Diogenes, in seinem Fass, sondern in einem schwarzen Müllcontainer, in welchem er einen berührenden Monolog über den Todeswunsch rezitiert. So sehr zuvor auch gelacht wurde, so still ist es in diesen Augenblicken im Publikum. Es entsteht dabei eine jener seltenen, magischen Theatermomente, in welchem kollektiv die Gefühle der Menschen sich auf jenen konzentrieren, der sie dazu bringt, Empathie zu empfinden. Mitgefühl für einen, der einer von ihnen selbst sein könnte. Hervorgerufen durch einige wenige, leise Sätze, ohne Pathos vorgetragen, aber mit einem Tiefgang versehen, der einen förmlich zu verschlingen droht.

Luisa Schwab und Chen Emilie Yan als Kovacic-Schwestern und Franz Solar in der Rolle ihres prahlerischen und despotischen Vaters, sowie abermals Karola Niederhuber als seine Ehefrau, zeigen in rosa Hausanzügen mit silberner Kovacic-Glitzeraufschrift, wie sich eine richtige Familie zu präsentieren hat. Die Ermordung des geliebten Hamsters durch den Familienvorstand und deren Nachwirkungen, bis hin zur Hamster-Beerdigung unter Blockflöten-Trauermarsch-Begleitung, hält mehrfach Atemstillstandsmomente bereit. Genauso wie die Auftritte von Annette Holzmann als Mariedl, die nach allen Regeln der Kunst tief in die bühnenmittig platzierte Kloschüssel greift. Auch wenn ihre Monologe hinlänglich bekannt sind, erschafft Holzmann eine berührende Fragilität in ihrer Mariedl, die in scharfem Gegensatz zu all dem Ungemach steht, welches ihr die Gesellschaft, allen voran der Pfarrer und die rivalisierenden Freundinnen Grete und Erna, bereitet.

Papst Johannes Paul II., mit bürgerlichem Namen Karol Wojtyla und zu Schwabs Lebzeiten Vorstand der katholischen Kirche, darf in Überlebensgröße von der Bühne winken, unbeeindruckt von der Schmierage „fuck you mother“, die über ihn verteilt wurde. Die Assoziation zum Leberkäse-Wojtyla liegt gleichermaßen auf der Hand wie zur verhassten, bigotten Muttergestalt.

Das auf alten Fernsehmonitoren eingespielte Feuerwerk mit dem Titel „Happy New Year“ und die Jahreszahl 1994 machen schlussendlich subkutan wehmütig deutlich, dass für Werner Schwab kein fröhliches neues Jahr auf ihn wartete. Letztlich markierte das Datum nur den Beginn eines Zustandes, den sich seine Figuren oft herbei gewünscht haben. Einer, in dem keine Menschen mehr vorkommen, sondern nur mehr Ruhe herrscht.

„Schwabgasse 94 – Eine Hommage an Werner Schwab“ ist wahrlich keine „Graz-Kunst-Mäusescheiße“, wie zu Beginn Herrmann über das kulturelle Geschehen in Graz räsoniert und sollte vom Publikum gestürmt werden. Dies hätte sich nicht nur der Autor, sondern das Ensemble sowie der gesamte Cast der Produktion im Schauspielhaus Graz verdient.

Pin It on Pinterest