Ein großes, dreieckiges Segel überspannt beinahe die halbe Bühne. Unter ihm liegen drei Körper, die sich langsam rollend fortzubewegen beginnen. Ihre Bewegungen erinnern an jene, die man im Wasser macht, wenn man sich entspannt treiben lässt oder auch vorwärtskommen möchte. Nach langen, fast ewig währenden Momenten finden die drei Körper zueinander, verknäueln sich zu einem Wesen und lösen sich schließlich voneinander, um aus diesem imaginären Urmeer einzeln aufzutauchen. Begleitet war ihr Schwimmen nur von Atemgeräuschen, die wie von Ferne erklangen und den Eindruck des Unterwasserszenarios noch verstärkten. Aufgetaucht aus diesem schwere- und emotionslosen Zustand befinden sie sich staunend in dieser Welt, die von Beginn an mit Unbillen auf sie reagiert.
Enrico Tedde war mit seiner Gruppe Cie Blicke und dem neuen Stück „l´eterna girandola“ in Strasbourg im Pôle-Sud zu Gast. Was er gemeinsam mit Jordi Puigdefabregas und Mariangela Siani auf die Bühne brachte, war großes, getanztes Welttheater. Und dies mit effektvollen Bühnenmitteln, wie der danach folgenden fantastischen Projektion von Flüchtlingen in Booten, denen die Gischt des Meeres um ihren Leib peitsche. Das von Siani gesungene italienische Lamento ließ sofort an die Bootsflüchtigen denken, die in diesen Tagen zu Hunderten an die italienischen Küsten gespült werden. Die emotionale Betroffenheit, die sofort einsetzte, übertraf alle Gefühle, die entstehen, wenn man diese Dramen in den Nachrichten am Fernsehschirm sieht.
Die Musik von Giorgio Tedde, dem Bruder Enricos, verstärkte und unterstütze seine Bilder auf beeindruckende Art und Weise. Auch wenn es das Tanzstück nicht gäbe, so könnte Giorgio mit dieser Arbeit bei jedem Festival für zeitgenössische Musik reüssieren. Nicht nur akustische Hintergrundbeschallung, wie die schon beschriebene Meeresgischt zog das Publikum tief ins Geschehen, sondern auch Choräle oder asiatische Ritualgesänge deuteten an, in welchem sozio-geographischen Umfeld sich die jeweilige Szene bewegte. Vom Schwimmen der Tänzer und der Tänzerin in der „Ursuppe“ unseres Planeten, das gefühlsmäßig tatsächlich lange, lange währte, über die Erhebung aus dem Wasser und der raschen Erkenntnis, allen Unbillen der Welt ausgeliefert zu sein, entwickelte Tedde eine gut nachvollziehbare Choreografie. Der Tänzer und Choreograf, der 6 Jahre lang mit Pina Bausch zusammenarbeitete, legt mit seiner neuesten Arbeit den Finger tief in emotionale aber auch psychologische Wunden.
Immer wieder schoben sich christliche Bilder ins Geschehen, ja Tedde ließ das Stück sogar in einer Art Heilsversprechen ausklingen. Ein Akt, den man heute selten auf den zeitgenössischen Bühnen – welcher Gattung auch immer – findet. Das Großartige an dieser Produktion liegt in der Vielfalt der getanzten Themen und deren Verschränkungen. Unglaublich poetisch erzählt Tedde auch die Geschichte vom Mann, der versucht, so viel Hab und Gut zusammenzuraffen, wie ihm nur möglich ist. Kleine weiße Polster stehen dafür metaphorisch und er hat seine liebe Not, sie alle von der Bühne aufzuheben, ohne dass ihm dabei einer wieder ausrutscht, um sie dann vor sich wie einen Schatz aufzutürmen. Als kurz darauf ein anderer Mann diese Polster spielerisch und voller sichtbarer Freude einen nach dem anderen in die Luft wirbelt, zerbricht für den Polstersammler sichtbar eine Welt. Außer sich läuft er über die Bühne, unfähig, sich lange auf seinen Beinen zu halten, die immer wieder einknicken. Erschreckt, ob dieser Reaktion versucht nun der Unruhestifter wiederum ihm rasch ein Kissen unter seinen Kopf zu schieben, genau in dem Moment, in welchem er die Erde berührt. Eine schönere, tänzerische Metapher für die unterschiedlichen Wertigkeiten, die Menschen gegenüber Hab und Gut zeigen, hätte Enrico Tedde wohl nicht finden können.
Das Wasser bleibt durchgehend wie ein roter Faden das Thema des Stückes. Sowohl als bedrohendes und todbringendes Element, wie durch die Bootsszenen gezeigt wird, aber auch als Leben Spendendes und Reinigendes. Dass Mariangela Siani als Frau dafür eine grüne Wasserschüssel aus Plastik auf dem Kopf tragen musste und kniend den Akt des Wäschereinigens darin erduldete, kann auch als Hinweis dafür gelten, dass es nach wie vor in vielen Gesellschaften Frauen sind, die die Last der niedrigen Arbeiten tragen müssen. Liebe, Rivalität und Einsamkeit ergänzen die mit vielen Metaphern gespickte Vorführung. Diese menschlichen Emotionen sind eingebunden in einen größeren Zusammenhang, der sich am Ende erschließt. Tedde verwandelt dabei gemeinsam mit Puigdefabregas die Segel in mit langen Holzstöcken in Stoffbahnen, die so in Bewegung gehalten werden, als handle es sich dabei um chinesische Glücksdrachen, die alljährlich zum chinesischen Jahreswechsel die Straßen Asiens bevölkern. Als der asiatische Gesang kippt und sich in einen christlichen Choral verwandelt, verwandelt sich die Idee des religiösen, asiatischen Mythos in das christliche Kernthema der Auferstehung. Die weißen Bahnen agieren nicht mehr als Segel oder Drachen, sondern als Leichentücher, die ihre Bestimmung verloren haben und sich in die Lüfte erheben. Sianis Freudentanz, der sich darunter abspielt, verstärkt die Botschaft.
Ein versöhnliches Ende einer zeitgenössischen Tanzperformance, die in ihrer poetischen Form schöner nicht sein könnte.
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