Zwischen Emporkömmlingen und tief Gefallenen
Zwischen Emporkömmlingen und tief Gefallenen
Michaela Preiner
So viel, dass man im April im Max Reinhardt Seminar bei der vierten Auflage des Festivals „Neues Wiener Volkstheater“ aus einem extrem bunten Inszenierungs-Kaleidsokop auswählen konnte. In diesem gab es manche spannende Facette des Menschseins zu entdecken.
Bei dem Festival im Frühling stehen alljährlich jeweils sechs Texte zur Auswahl , die zuvor von einer Jury ausgewählt wurden. Alle Regiestudierenden dürfen eine nach ihren Präferenzen gereihte Dreierliste abgeben und bekommen schließlich, soweit es möglich ist, ihren Wunschtext zugeteilt.
Protest
Verblüffend in diesem Jahr war, dass ausgerechnet ein bereits älterer Text – wenngleich auch von niemand Geringerem als Václav Havel – gleich von fünf Studierenden als Topfavorit gerankt worden war. Dies mag nicht nur mit der Brillanz der Gedanken zu tun haben, die in „Protest“ verhandelt werden, sondern offenbar auch mit dem Gefühl, dass der Text extrem in unsere aktuelle Zeit passt. Simon Scharinger gestaltete eine szenische Einrichtung, in welcher sich Lukas Watzl, Volkstheaterensemble-Mitglied, beinahe um Kopf und Kragen redet, als es darum geht, eine Petition zu unterschreiben und Farbe wider die Regierung zu bekennen. Zwei Stehpulte und eine Beleuchtung durch eine moderne Glasfront – von der linken Seite her kommend (sic!), reichen aus, um dem geistreichen Duell der beiden Protagonisten einen unaufdringlichen, aber dennoch politisch konnotierten Rahmen zu geben. Philip Leonhard Kelz konnte hingegen zeigen, wie sehr eine stark zurückgenommene Rolle ohne viel Text das Gegenüber erst richtig anfeuern kann. Trotz wenig Text war er seinem Gegenüber im Spiel absolut ebenbürtig. Wer schon einmal eine Inszenierung von Scharinger gesehen hat, wurde sicher auch auf das kleine Stück grünen Rasen aufmerksam, das zwischen den Schauspielern und dem Publikum ausgebreitet war. Es gehört beinahe schon zum Markenzeichen des jungen Regisseurs.
Abweichungen
Clemens J. Setz ist jener Autor, mit dem sich Rachel Müller im Rahmen ihrer Regiearbeit sehr gekonnt auseinandersetzte. Die bis zum Schluss enigmatische Handlung des Textes „Die Abweichungen“ wurde hinter dem Publikum auf einem Podium so gespielt, dass die Zusehenden das Geschehen nur über dem vor ihm angebrachten Wandspiegel verfolgen konnte. Wiebke Yervis fungierte als Verbindungsglied – wenngleich auch aus dem Jenseits – zwischen dem Ensemble und dem Publikum und skizzierte die jeweils gespielten, unterschiedlichen Gesprächskonstellationen mit Lippenstift auf dem Spiegel. Ein gekonnter Regieeinfall, der vor allem auch jene Putzfrau mit einer Rolle bedachte, die sich mit einem Suizid aus unerklärlichen Gründen von dieser Welt verabschiedet hatte. Evi Kehrstephan und Gábor Biedermann – allseits bekannte Volkstheater-Größen, sowie Maya Unger und Moritz Ilmer, Studierende des Seminars, schlüpften in Mehrfachrollen. Das Rätsel, warum die Putzfrau alle Wohnungen en miniature nachgebaut hatte, darin aber kleine Abweichungen vom Ist-Zustand anbrachte, wird nicht gelöst, lässt jedoch umso mehr Raum für Eigeninterpretation und Diskussion.
Ein Hund namens Dollar
Teresa Präauer, von der Presse derzeit gerne als österreichisches Literatur-Liebkind gehandelt, war mit ihrem Text „Ein Hund namens Dollar“ im Max Reinhardt Seminar vertreten. Azelia Opak arbeitete dafür mit Nils Hohenhövel zusammen, der zum Ensemble des Volkstheaters gehört. Verschieden hohe Leitern und ein hoher Schiedsrichterstuhl, wie er bei Tennis-Matches verwendet wird, versinnbildlichten den sozialen Aufstieg des aus dem Arbeitermilieu gekommenen Self-made-Millionärs. Die Episode, die dieser selbst in einem Monolog erzählt, handelt von einer wundersamen Geldvermehrung. Diese kam beim Kauf eines reinrassigen Hundes zustande, der durch Mehrfachtausch ohne jegliche Kosten erworben worden war. In der Geschichte wird aber auch darüber erzählt, wie einfach sich die Menschen durch freches und geschicktes Auftreten blenden lassen. „Ein Hund namens Dollar“, als flockig, leichte Ein-Mann-Komödie gedacht, lässt sich trotz allerlei Regiekniffe nicht wirklich zu einem tiefsinnigen Stück aufmotzen. Als solches ist es aber auch nicht gedacht. Dennoch war der qualitative Höhenunterschied zu den anderen Dramen nicht zu übersehen.
Höllenkinder
Im krassen Gegenteil dazu präsentierte die selbe Regiestudentin, Azelia Opak, „Höllenkinder“ von Gabriele Kögl. Ein weiterer Monolog, dem die großartige Doris Weiner ein scharfes Profil verlieh. Aber auch die Regisseurin hat den atemraubenden – nicht zu verwechseln mit atemberaubenden! – Text, bei dem einem Hören uns Sehen vergehen kann und der dennoch in einer sehr einfachen Sprache gehalten ist, großartig umgesetzt. In mehrere Teile gegliedert, ließ sie Weiner immer wieder von ihrem Sessel aufstehen und nach und nach einen am Boden liegenden Teppich entrollen. Darunter kamen geklebte Worte in Schönschrift zum Vorschein, aber auch ein Babyjäckchen und eine Kette mit einem Kreuz. Szene für Szene breitet die alte Bäuerin ihr Leben im Rahmen ihrer 80. Geburtstagsfeier vor dem Publikum aus, das darin bestand, ihren Geschwistern schon als Jugendliche Mutterersatz geboten zu haben. Schlimmer aber noch ist der sexuelle Missbrauch, den sie sowohl von ihrem Vater als auch vom ortsansässigen Pfarrer erdulden musste. Von beiden Männern stammt je ein Kind und man kann es der alten Erzählerin nicht verübeln, dass sie beim Ableben ihres eigenen Vaters mitgeholfen hat und das Siechtum des Pfarrers nun voll Genugtuung erleben darf. Der hinter Weiner aufgebaute Pseudoaltar besteht aus einer Psyche, die von Kerzen beleuchtet ist. Obwohl immer wieder auf ihn referiert wird, ist Gott abwesend, nicht einmal in einem Andachtswinkel vorhanden. Die rund um die Psyche hängenden, leeren Bilderrahmen symbolisieren wohl jene Erinnerungen, welche die alte Frau am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen würde. Azelia Opak zeigte mit dieser Arbeit auf, wie wenig Bewegung es eigentlich bedarf, um dennoch eine enorme Spannung aufzubauen. Gleichzeitig gelang es ihr, einen stimmigen Raum zu schaffen, der eine Überraschung nach der anderen bereithält.
Tot sind wir noch lange nicht
Ganz nahe am Tod, wenn nicht sogar mittendrin, befinden sich die Figuren von Viola Bungarten in ihrem Stück „Tot sind wir noch lange nicht“. Die junge, deutsche Autorin schickt mit einem witzigen Plot zwei alte Frauen auf eine Hochschaubahn zwischen Leben und Tod. Anna Marboe besetzt die beiden klug mit zwei Männern: Lukas Holzhausen und Bernhard Dechant, die als Schauspielkapazunder in geschlechtervertauschten Rollen das erreichen, was in Fällen wie diesen gar nicht anders möglich ist: ungeteilte Publikumszuneigung und langanhaltenden Applaus. Dagegen müssen sich Lisa-Maria Sommerfeld und Annina Hunziker als männliche Bestatter, sowie Niko Lukic als Erzähler und innovative, junge Unternehmerin positionieren. Und das tun sie mit Bravour. Der Behauptung der Autorin, dass es zu wenige Rollen für alte Frauen am Theater gäbe, kann zwar nicht ganz beigepflichtet werden. Mit ihren beiden Figuren schuf sie jedoch zwei besonders liebenswerte Charaktere, die sich auf ganz besondere Art und Weise im Alter nahestehen und unterstützen. Einfach zum Schieflachen, wie Dechant als eifersüchtige Beate ihre Freundin Ute K. mit Ideen aufmagaziniert, mit welchen sie den Lebensabend finanziell aufzubessern kann. Und wie diese – alias Holzhausen – ihren Mann schließlich in einem Orka-Wal bestatten lässt, der von einem Hubschrauber punktgenau in sein Grab hinabgelassen wird. Trotz allen Klamauks und aller surrealen Elemente strahlen die Figuren von Bungarten jede Menge Natürlichkeit, aber auch Hilflosigkeit aus, die sie so sympathisch machen. Eine Komödie in modernem Gewand, die dennoch nicht ohne Tiefgang auskommt.
Das Zimmer
Der großen, alten Dame der österreichischen Literatur – Lida Winiewicz – sollte viel öfter Platz auf den heimischen Bühnen eingeräumt werden. Der Jury sei Dank, kam im Reinhardt-Seminar „Das Zimmer“ dieser vielfältigen Autorin zur Aufführung. Ein Drama, das in der Zeit kurz nach der französischen Revolution spielt und die Aufmerksamkeit nicht auf die Revolutionäre, sondern auf die Gegenseite richtet. Uwe Reichwaldt fand mit Lukas Haas und Julian Waldner eine Traumbesetzung. Ersterer spielte den Diener Giannetti seines Herren Xavier de Maistre, der von Haas verkörpert wurde. Einem jungen Offizier, der von seiner Amme gerettet worden war, als seine Eltern in ihrem Schloss der Revolution zum Opfer fielen. Lilly Prohaska, ebenfalls Volkstheatermitglied, spielte die alte Dienerin, die von ihrem Zögling letztlich höchst herzlos behandelt wird. Die philosophischen Volten, die dem zu Hausarrest verurteilten jungen Adeligen einfallen, pariert sein Diener mit naivem Hausverstand, letztlich jedoch völlig uneinsichtig und sich in ein Schicksal ergeben habend, mit dem er jedoch auch nicht hadert. Sowohl Haas als auch Waldner gehen völlig glaubhaft in ihren großen Rollen auf und bieten dabei so manche humorige Einlage. Sie bilden neben Elias Krischke, Leonhard Hugger, Paul Basonga, Noah Perktold und Emilia Rupperti ein Ensemble, welches klug den Raum nutzen kann und zahlreiche Auf- und Abgänge absolvieren muss.
Nicht nur, dass es alljährlich großen Spaß macht, den Nachwuchs am Max Reinhart Seminar kennenzulernen. Auch die Möglichkeit, die eine oder andere literarische Neuentdeckung zu machen, bietet genug Anreiz, sich dieses Festival nicht entgehen zu lassen. Auch nicht im nächsten Jahr.