Mit dem ersten Bild schon wird klar, dass es sich in „Zwiegespräch“ von Peter Handke um eine Rückschau handeln muss. So, wie das Kind gekleidet war, sehen Buben heute nicht mehr aus. Kaum ist der Kleine abgegangen, schiebt sich unter metallenem Ächzen und lautem Knarzen eine Faltwand über die Bühne. Bis wieder Ruhe einkehrt und sie an der richtigen Position angehalten wird, ist eine gefühlte Ewigkeit vergangen. Eine Lebensewigkeit, wie sich zeigen wird.
Mit der kargen und dennoch raumgreifenden Bühnenarchitektur wird eine unwirtliche Umgebung simuliert. Kleine, nebeneinander geschachtelte, unpersönliche Raumecken, erweisen sich bald als letztes Refugium von alten Menschen. Vier Männer und eine Frau werden, in Rollstühlen sitzend, von jungem Pflegepersonal in Position gebracht. Unter Beobachtung müssen sie, noch in Unterhosen und Unterleibchen, Morgentoilette machen und sich anschließend anziehen. Spätestens als eine junge Frau wortlos mit mehreren Urnen in ihren Händen an ihnen vorbei defiliert, weiß man, dass die Alten hier nicht mehr als ihr Tod erwartet.
Das Setting, das die Regisseurin Rieke Süßkow für Handkes Text verwendet, ist eindeutig. Und, so wird sich zeigen, für das Ensemble eine enorme Herausforderung. Denn im Laufe der Vorstellung wird die Bühne (Mirjam Stängl) in zwei Bereiche getrennt. Den linken, in welchem sich die alten Herrschaften zum Spiel um ihren Tod versammeln, und den rechten, in welchem die jungen Leute – das Pflegepersonal – sich zusammenfinden. Zwar kommen in Handkes Text nur zwei Sprecher vor – er hat ihn auch den beiden schon verstorbenen Schauspielern Otto Sander und Bruno Ganz gewidmet. Dennoch werden die Sätze in der Inszenierung im Akademietheater auf drei Männer und zwei junge Frauen aufgeteilt. Und dies so, dass zwischen den Jungen und den Alten kein Blickkontakt besteht, oft aber die Staffelübergabe des Sprechens innerhalb eines Satzes vor sich geht.
Die Idee, die Dialoge und Monologe auf zwei Generationen aufzuteilen, macht durchaus Sinn. Denn auf diese Weise bleiben die beiden Handlungsstränge, die Handke kunstvoll herausarbeitet, nicht hermetisch unter den zwei alten Männern eingeschlossen. Vielmehr erhält man den Eindruck, dass die Berichte aus der Vergangenheit tatsächlich auch im Heute bei den jungen Pflegerinnen ankommen.
Erzählt wird die Lebensgeschichte eines Mannes, wie sie aus der Sicht seines Enkelkindes – nun selbst schon im Großvateralter – wahrgenommen wurde. In dieser Rolle lässt Branko Samarovski eine Figur greifbar werden, die vom Krieg gezeichnet, dennoch voll Stolz ihr Leben zu Ende lebte. Aus einigen anschaulichen Passagen, wie der Beschreibung, dass der Großvater eine Spielernatur war – obwohl dies gar nicht seine Natur gewesen sei – oder seine scheinbar aus dem Nichts gekommenen Wutanfälle, in welchen er Tiere schändete, bis hin zu den letzten Tagen, die er siechend in seiner kleinen Kammer verbrachte, setzt der Autor einen Charakter zusammen, der einerseits gut greifbar wird, andererseits aber auch viele Fragen offenlässt. Dass es sich dabei um die Beschreibung von Handkes eigenem Großvater handelt, liegt nahe. Die Beobachtung, dass er in seinen letzten Tagen, ans Bett gefesselt, manische, imaginierte Schreibbewegungen an der Wand vollführte, hallt in seinem Enkel offenkundig stark nach. In jenem Mann, der mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten wurde und mit dieser Beschreibung der kindlichen Wahrnehmung, mit diesem aussagekräftigen Bild, einen starken Phrasierungsbogen von sich hin zu seinem Großvater zieht.
Die zweite Erzählung berichtet über die Suche nach einem Haus, oder besser – nach einem Zuhause. Einem Zuhause, in dem es nicht an menschlicher Wärme mangelt. Einem Zuhause, das von Kindern belebt und in eine Landschaft eingebettet ist, die von Wiesen oder Wäldern umgeben ist. Martin Schwab beschreibt immer wieder unterschiedliche Hütten oder Behausungen. Allesamt hätte er, der nun alte Mann, auf seinen Wegen durch die Landschaften gesehen. Nirgends jedoch ist er selbst darin heimisch geworden. Auch hier hat man Peter Handke vor Augen. Jenen rastlosen Wanderer, der ein genauer Beobachter seiner Umwelt und der ihn umgebenden Natur ist. Hans Dieter Knebel, der dritte alte Mann, ergänzt, wiederholt, fragt und bejaht die Gespräche seiner Kollegen, oft auch mit einem sprachlichen Ausdruck, der erkennen lässt, dass das Erzählte, die Erzählung an sich, schon zu einem Ritual geworden ist.
Wie zwei Echos ergänzen zwei junge Frauen, Elisa Plüss und Maresi Riegner, die häufig noch nicht zu Ende gesprochenen Sätze. So, als hätten auch sie diese schon unzähligen Male gehört und könnten diese auswendig mitsprechen. In einigen Passagen aber stellen sie sich auch Fragen. Fragen, auf die sie jedoch keine direkten Antworten erhalten. Fragen, die man sich erst fragt, wenn das Gegenüber nicht mehr am Leben ist.
Handkes typischer, poetischer Sprachstil mäandert auch in diesem Text gerne um Begriffe. Es sucht Synonyme, ihre Gegenteile, aber auch Verstärkungen oder Abschwächungen, mit dem Ziel, sich nicht wirklich festlegen zu müssen. Das, was für eine Person Wirklichkeit bedeutet, kann für eine andere utopisch sein. Sich dessen bewusst, vollführt Handke häufig sprachliche Volten, nicht zuletzt auch um klarzumachen, dass Sprache etwas ist, auf das man sich nicht immer verlassen kann. Dass Sprache etwas ist, das Menschen manipulieren kann, aber auch etwas, das selbst manipulierbar ist.
Gegen Ende des Stückes ist es ein einziger Insasse des Heimes, der noch am Leben geblieben ist. Raum ist für ihn keiner mehr vorhanden, denn die Jungen haben ihr Territorium im Laufe der Vorstellung beständig so erweitert, dass ihnen zum Schluss die gesamte Bühne gehört. Silberne und goldene Luftballons und Champagnergläser zeugen von einem Reichtum, der offenkundig von den verstorbenen Ahnen geerbt wurde. Das letzte Aufbäumen vor seinem Tod, die Aufbahrung bei lebendigem Leib, gestaltet sich als wilde, ausufernde Szene, deren tieferer Sinn jedoch abhandengekommen scheint.
Der finale Auftritt der bereits Verstorbenen und das Einfrieren der jungen Generation im letzten Bild, macht zweierlei deutlich: Auch wenn die Alten gestorben sind, auch wenn es die Großväter- und Großmütter-Generation nicht mehr gibt, tragen ihre Nachfahren dennoch viel von ihnen in sich weiter. Unbewusst und bewusst, je nachdem, wie stark sie sich mit ihrer Familiengeschichte selbst auseinandergesetzt haben. Die Erstarrung der Jungen macht aber auch klar, dass sich auch dieser Lebensabschnitt als vergänglich erweisen wird. Auch sie werden einmal an ihr Lebensende kommen und von ihren Enkelinnen und Enkeln abgelöst werden.
Eine intelligente Lichtregie (Marcus Loran) sorgt dafür, dass Rückblenden ohne Farbabstufungen auskommen. Die bunten Kostüme (Marlen Duken), in welcher zwischen Alt und Jung nicht unterschieden wird, die sich aber perfekt untereinander ergänzen, verstärkt die Metapher, dass Gestriges mit Heutigem zusammengehört und dass sowohl Jung als auch Alt sich denselben Prozessen des Werdens und Vergehens aussetzen müssen.
Dass die besuchte Vorstellung mit einem mehrfachen, gut hörbaren Soufflieren aufwartete, könnte man leicht als gewollt verbuchen. Geschuldet ist es aber der eingangs beschriebenen Bühnentrennung, die keinen Blickkontakt zwischen den Generationen zulässt. Dennoch schadete es der Vorstellung nicht, sondern verlieh ihr eher noch einen zusätzlichen Wahrheitsgehalt. Auch Schauspieler sind ab einem gewissen Alter nicht davor gefeit, mit schweren Texten kämpfen zu müssen. Hätte man den Souffleur bzw. die Souffleuse sichtbar auf die Bühne gesetzt, hätte dies eine weitere Interpretationsebene geboten.
Ein sehenswerter Abend, textgetreu und doch voll mit persönlichen Auslegungsideen. Sprachlich ein Meisterwerk, dazu noch hochemotional und ohne Ablaufdatum. „Zwiegespräch“ hätte das Zeug, sich zu einem Klassiker zu etablieren.