Zerschnittene Bücher und geklebte Bilder

Bücher zerschneiden – das ist den meisten Menschen wohl ein Schreckensgedanke. Gelten doch Bücher mit ihrem immateriellen Wert als sakrosankte Gegenstände, was ihre Vernichtung betrifft. Jemand, der Bücher kaputtmacht oder wegwirft, von Verbrennen gar nicht zu sprechen, wird scheel angesehen und es bedarf einer großen Portion Überzeugungskunst zu erklären, warum eine derartige Aktion stattfinden musste. In der Literatur gibt es ein bewegendes Beispiel eines Mannes, dessen Arbeit darin besteht, Bücher zu vernichten. Bohumil Hrabal schuf in seiner Erzählung „Allzu laute Einsamkeit“ den kauzigen Haňta, dessen Lebenswerk darin besteht, alte Bücher, Flugblätter, Zeitungen und sonst wie bedrucktes Papier in einer von ihm bedienten Bücherpresse zu vernichten. Dies tut der gute Mann aber nur, nachdem er sich zuvor das herausgepickt hat, was ihm lesenswert erscheint. So bringt er ein Buch nach dem anderen in seinen Besitz, um schließlich zu Hause in seiner Büchersammlung von den Büchermassen beinahe erdrückt zu werden. Das Ende der Geschichte in typisch Bohumil´scher Manier sei hier nicht verraten. Haňtas Büchervernichtung ist legitim, wenngleich von Autoritäten angeordnet, holt er sich dennoch das für ihn Wichtige permanent aus einer Flut von Altpapier und baut sich damit seinen eigenen literarischen Kosmos. So gesehen findet er bei den Lesenden Gnade, ja sogar Zustimmung zu seinem Tun.


Bücher spielen jedoch nicht nur in der Literatur eine wichtige Rolle. Auch in der Bildenden Kunst gibt es tausendfache Verweise auf verschiedene literarische Werke, ungezählte Arbeiten, die sich direkt oder indirekt auf bestimmte Bücher beziehen. In der Ebene -2 des Mumok ist derzeit eine höchst interessante Ausstellung zu sehen, die nicht nur einen, sondern vielerlei Bezüge zu Büchern aufweist. „Burn the Diaries“, so ihr Titel, ist eine Show der Künstlerin Moyra Davey. 1958 in Toronto geboren, lebt sie in New York, pendelt aber häufig nach Europa. Ausgestattet mit einem zusätzlichen EU-Pass, den sie aufgrund ihres Vaters besitzt, der in England lebte, ist sie häufig in Europa, nicht zuletzt, da eine ihrer Freundinnen in Paris wohnt.

„Das Beste, was man als Künstlerin machen kann, ist das zu tun, was man am liebsten macht“, erklärte sie bei einem Gespräch anlässlich der Ausstellungseröffnung. Und Daveys Lieblingsbeschäftigung ist das Lesen. Die Ausstellung, in der ein Raum mit Fotografien und ein Film zu sehen sind, wird durch ein Buch ergänzt, das den Ausstellungstitel trägt. „Burn the Diaries“ – diese Idee kommt der Künstlerin während ihres Schreibens in den Sinn, ohne dass sie dies dann auch tatsächlich in die Tat umsetzt. Mit diesem Werk setzt sich Davey intensiv mit dem französischen Schriftsteller Jean Genet auseinander. Dabei scheut sie sich nicht, eine Komplettausgabe des Schriftstellers von Gallimard auseinanderzuschneiden, um es in der U-Bahn lesen zu können. Aber nicht nur dieser literarische Gewaltakt ist in ihrem Text dokumentiert. Sie zitiert auch Genet, der selbst schrieb: „Ich habe diese Bücher an den Kais gekauft. Ich habe immer nur wenige Bücher dort, wo ich wohne, weil ich sie, wenn ich sie gelesen habe, weggebe oder liegen lasse oder wegwerfe, ich will Literatur von anderen Leuten nicht behalten.“ Nicht genug damit beschreibt die Künstlerin auch einen zerstörerischen Akt ihrer verstorbenen Freundin Susanne, die tatsächlich ihre Tagebücher verbrannte. Daveys Text beinhaltet darüber hinaus kurze Gedanken, Assoziationen zu Gelesenem, Gesehenem und über Gedachtes sowie Querverweise auf Genets Werk und wird einem Text ihrer Freundin Alison Strayer vorangestellt. Diese in Paris lebende Schriftstellerin und Übersetzerin betitelte ihre Arbeit „Dialog in einem freien weißen Raum“, obwohl sie, wie sie gleich zu Beginn preisgibt, ihr Büro alles andere als in einem weißen Raum eingerichtet hat. Sie war von Davey gebeten worden, ihren Text über Genet zu lesen und zu kommentieren. Dabei spürt man deutlich, wie gut sich die beiden Frauen kennen, wie freundschaftlich verbunden sie sind, aber auch, wie unterschiedlich die beiden ihr Leben mit Arbeit ausfüllen und wie unterschiedlich ihr jeweiliger Literaturzugang ist. Strayers völlig andere Hinwendung zu dem Thema ist überraschend und stülpt Daveys Gedanken eine zweite Ebene über. Dabei ist es nicht nur die Auseinandersetzung Strayers mit ihrer Freundin, die einen neugierig das Projekt verfolgen lässt, sondern es ist vor allem auch die Entdeckung von Alison Strayer als Schriftstellerin, die man wahrscheinlich sonst nicht von sich aus gefunden hätte. Strayer schreibt in einem klaren, nachvollziehbaren Stil, der vor allem durch eine sehr zarte, bildhafte Sprache gekennzeichnet ist und zugleich mit interessanten Informationen unterfüttert wird. Wie zum Beispiel ihre Erinnerungen an die Papiererzeugung in Ottawa, Ende der 60er Jahre, welche die Luft der Stadt mit dem Gestank nach faulen Eiern verpestete. Oder auch ihrem Traum, bei welchem ihre Tagebücher, die in über 14 Jahren entstanden waren, bei einer Schiffsfahrt über Bord gehen. So entsteht durch dieses literarische Pas de deux eine sublime Vorstellung zweiter gänzlich unterschiedlicher Charaktere, die zeit ihres Lebens durch die Liebe zur Kunst, vor allem aber durch die Reflexion ihres sprachlichen Ausdrucks miteinander verbunden blieben.

Eingebettet in das Büchlein sind neben den beiden Texten auch einige Fotos jener Ausstellungsstücke, die im Mumok zu sehen sind. Eine abermalige Überlagerung des ursprünglichen Ausgansproduktes also. Das Ausgangsprodukt, zählt man einmal die Überlegungen über Genet zu diesem Kunstprojekt nicht dazu, das Ausgangsprodukt sind Fotos von Moyra Davey und zwar unterschiedlichster Art. Ablichtungen von einem Stapel mit Notizen, die mit gelben Papiermarkern versehen sind, der Ausschnitt eines Bettes mit zerknülltem weißem Betttuch, auf dem Bücher mit selbst gemachten, bunt bemalten Einbänden liegen. Filmstills, aber auch ein ätherisch schönes Bild eines grünen, verwitterten Holzzaunes – dem ein braunes Blatt Papier gegenübergestellt wird. So wird Ästhetisches mit Gedanklichem zu einem neuen Ganzen verwoben, ergibt eine so dichte, so vielfältige Sammlung, dass die Interpretation derselben nicht anders als individuell ausfallen kann.

An den Wänden der Ausstellung selbst sind die Fotos der Künstlerin gerahmt hinter Glas zu einzelnen Gruppen geordnet. Sie weisen allesamt Falzungen auf und kleine, meist bunte Klebepapierstreifen. Außerdem sind sie mit Adressen und oft auch mit Briefmarken versehen. Davey hat die Fotos, oft feine, ganz intime Stillleben, nicht selten mit Genet-Bezügen, in einer ganz bestimmten, ihr eigenen Art gefaltet und sie per Post an ihre Freunde, einen Teil aber auch direkt ans Mumok geschickt. Dann zurückerbeten und in der Ausstellung wieder entfaltet und mit all den bis dahin entstandenen Gebrauchsspuren arrangiert. Die zeitliche Dokumentation, die damit einhergeht, erinnert dabei stark an das Werk On Kawaras, wenngleich Daveys Zugang ein viel persönlicherer ist. Sind es bei On Kawara zum Beispiel industriell gefertigte Postkarten, die er verschickte, so schafft Moyra Davey ihren von eigener Hand gefertigten postalischen Kosmos.

Die dritte Ebene schließlich, die dieser Arbeit innewohnt, ist ein Video der Künstlerin, für das sie ganz verschiedene Menschen das „Tagebuch eines Diebes“ von Genet lesen ließ und sie dann zu ihrer Meinung darüber befragte. Der Titel dieses Videos „My Saints“ ist möglicherweise ein ironischer Hinweis auf das von ihr für dieses Projekt explizit geschaffene referenzielle Netzwerk. Davey brachte die Teilnehmer auf gewitzte Weise dazu, ihr eigenes Werk mit diesen Statements zu komplettieren, denn die Reaktionen der Menschen flossen in den von ihr produzierten Film ein.

Moyra Davey arbeitet wie mit dem Prinzip der russischen Matrjoschka. Immer wenn man meint, man hätte die allerletzte Hülle entfernt, ist man erstaunt, doch noch ein neues Püppchen zu entdecken. Aus der Überfrachtung und Überlagerung ihrer eigenen Arbeit mit Statements anderer Menschen entsteht aber letztendlich nicht ein Konstrukt, das ihre Handschrift nicht mehr erkennen lässt. Ganz im Gegenteil, so paradox es klingen mag, es fügt sich zu einem Neuen Ganzen, das dennoch direkt und unmittelbar den Geist der Künstlerin ausstrahlt. Hypertroph und schonungslos, zart und brutal zugleich gibt sie in diesem Werk auch ihr Innerstes preis. So wie es jene tun, die an „Burn the Diaries“ mitgearbeitet haben. Wer sich beim Betrachten und der Reflexion auch darauf einlässt, könnte leicht sich selbst darin wiederfinden.

Nachbemerkung: Welch versöhnende Geste, mit der Davey es nicht verabsäumt, im Film ein zerschnittenes Buch vor laufender Kamera wieder zusammenzufügen und zu verkleben.

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