The Wooster Group mit einer neuen Inszenierung eines Stückes von Tennessee Williams im TNS in Straßburg
Quer über den Bühnenraum sind lange Metallstangen gespannt. Auf ihnen hängen verschieden große Bildschirme. Die Toningenieure stehen, für das Publikum sichtbar, hinter einem großen Mischpult vor der Rückwand der Bühne. Zwei niedrige, aber große, viereckige Rollpodeste und ein kleineres, quadratisches, auf welchen Versatzstücke von einem ärmlichen Hausrat herumliegen, markieren zwei Zimmer. Man blickt eigentlich in ein großes, abgefucktes Loft, das mehr einer verlassenen Pennerstätte ähnelt, als mehreren Wohnräumen. Die Menschen, die sich darin bewegen, kümmern sich jedoch nicht um ihre Umgebung, denn sie sind viel zu sehr mit sich und ihren Problemen beschäftigt. Vielmehr scheint der chaotische Raum das Innenleben der Protagonisten widerzuspiegeln.
Das Stück „Vieux carré“, betitelt nach dem alten Viertel in New Orleans, wurde 1979 nur wenige Jahre vor Tennessee Williams Tod geschrieben. Es stellt eine Rückblende in die Zeit seines schriftstellerischen Beginnes in den 30er Jahren dar. Das einst noble, nun aber herabgekommene Haus, in dem sich Künstler und Gestrandete gleichermaßen eingemietet haben, wird von seinen Bewohnern als Gefängnis bezeichnet. Die Besitzerin des Hauses, Mr. Wire, lässt ihren Mietern keinen Freiraum und bezieht ihre Lebensenergie aus der Bespitzelung und Zurechtweisung dieser physisch kranken und psychisch leidenden Menschen, die auf sie angewiesen sind. Der Schriftsteller, wie Tennessee Williams die Figur nennt, die ihn selbst darstellt, ist der einzige dieser Gesellschaft, der es schafft, zu seinem eigenen materiellen Elend Distanz zu halten und der aufgrund seiner Jugend noch eine Zukunftsperspektive besitzt. Ein alter, ständig geiler, homosexueller Maler, genannt Nightingale, der an Tuberkulose leidet, die New Yorkerin Jane Sparks, ebenfalls unheilbar erkrankt, der drogensüchtige Stripper Tye McCool und eine Krankenschwester sind die Hauptakteure im Geschehen. Elizabeth LeCompte, die von Beginn der Wooster Group 1975 an dabei ist, inszenierte das Stück um sexuelles Verlangen, Einsamkeit und Abhängigkeit als trockene Wiedergabe dieses menschlichen Leidens. Trocken deswegen, weil sie bewusst zwischen dem Publikum und den Schauspielern keine emotionalen Bindungen aufbaut, sondern beide Gruppen voneinander auf Distanz hält. Diese Beobachterposition der Zuschauer und Zuschauerinnen ist schon mit der Figur des Schriftstellers selbst angelegt, der hier wie ein Erzähler agiert. Eine literarische Form, die Tennessee Williams einsetzen musste, um das zeitversetzte Geschehen seiner Erinnerung und der Realität vor 50 Jahren ineinander zu verschränken. Williams Arbeit korrespondiert gut mit der existenzialistischen Philosophie in Frankreich Mitte des vorigen Jahrhunderts und passt, so gesehen auch gut auf die Bühnen dieses Landes. Es fischt nicht in den Abgründen der Menschenseelen, sondern bleibt ganz an deren Oberfläche, spiegelt nur ihren jeweiligen Zustand wieder, ohne sich um das Warum und Wieso und schon gar nicht um das „Wie könnte man das Leid verringern“ zu kümmern.
Ein wichtiger Teil des Werkes, das sich mit der Aufarbeitung von Tennessee Williams` eigener Homosexualität beschäftigt, genauer gesagt mit den ersten Erfahrungen und dem Erwachen seiner Lust, wird plakativ dargestellt. Der Schriftsteller befriedigt sich selbst während er sich Filme ansieht, in denen Homosexuelle miteinander Sex haben. Der alte Maler und der junge Stripper, von Scott Shepherd in einer Doppelrolle gespielt, treten mit „Strap-ons“ auf, die entweder völlig frei den erigierten Penis zeigen – was teilweise schon eine komödiantische Komponente besitzt, oder unter dem Slip des Strippers nur ein wenig noch hervorragen. Auch Kate Valk, als todkranke Amerikanerin zeigt viel nackte Haut in Kopulationsszenen, die gleichzeitig von einem parallelen Geschehen etwas entschärft überlagert werden. Besonders das erste Drittel des Stückes hinterlässt den Eindruck, der Mensch sei nur ein von seiner Sexualität getriebenes, fast schon tierhaftes Wesen, dem es nicht gelingt, seinem Trieb zu entkommen. Erst im Laufe der Handlung verschiebt sich diese Obsession und mündet in das allgemeine Gefühl der Einsamkeit, körperlichen Verfall und Tod. Die Hauswirtin, die ihren Sohn verloren hat und gerne den Schriftsteller an dessen Stelle sehen möchte ruft ihm laut zu, was alle empfinden: „Dieses Haus ist so voll Einsamkeit, dass man sie direkt hören kann!“
Jeder und jede in dieser illustren Umgebung versucht, sich der anderen nur zu bedienen. Es gibt kein Geben, sondern nur ein Nehmen, das unweigerlich in ein persönliches Dilemma führt. Der alte Maler will die sexuelle Freundschaft des jungen Schriftstellers. Die einst mondäne New Yorkerin hängt sich in letzter Kraft an den ordinären Stripper, der sie wiederum ausnutzt, indem er bei ihr Unterschlupf gefunden hat und ihr außer Sex nichts anderes bietet. Die alte, von Demenz gezeichnete Hausbesitzerin wiederum gebärdet sich als alles regulieren wollende Aufseherin, um so ihre Einsamkeit nicht spüren zu müssen. Die junge, zu Beginn als unschuldig präsentierte Krankenschwester, die im ersten Auftritt noch proper im schwarzen Kleidchen mit weißer Schürze zu sehen ist, verkommt im Laufe des Abends zu einer gefühllosen, sich selbst in dem Mittelpunkt stellenden, grell geschminkten Frau. Dargestellt wird sie von Kaneza Schaal, die im Lauf des Abends deutlich Abstand gewinnt von dem Leid, das um sie herum herrscht und sich den herrschenden, rüden Umgangston selbst angeeignet. Der Schriftsteller selbst ist der größte Parasit in dieser Menschenmanege, denn er saugt alle zwischenmenschlichen Dialoge seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner eins zu eins in die Tasten seiner Schreibmaschine – bzw. seines Computers. Seine Inspiration speist sich aus dem Elend der anderen. Als Jane Sparks in ihrer Anklage gegenüber ihrem Freund ins Stocken gerät, wird der am vorderen Bühnenrand nebenbei agierende Schauspieler dabei sichtlich nervös, hämmert ungeduldig auf seine Tastatur und zeigt mit einer Handbewegung, dass sie mit ihrem Lamento rasch fortfahren solle. In diesem Moment wird deutlich, dass die Menschen dieses Hauses nicht mehr für ihn sind, als Stoff für seine eigene Arbeit.
Ein junger Klarinettenspieler, dargestellt von Raimonda Skeryte, macht dem Spuk – zumindest für den Schriftsteller – ein Ende. Die beiden nehmen sich vor, zur Westküste zu fahren und begeben sich auch hier von Anbeginn an in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Der Musiker hat ein funktionierendes Auto, dessen Treibstoff er sich aus fremden Autos stiehlt, und der Schriftsteller ist in Besitz von 35 Dollar, die ihnen zumindest das allererste Überleben sichern werden. Tennessee Williams deutet damit an, dass sich zwar die Umstände ändern mögen, in denen Menschen leben können, die grundsätzlichen Mechanismen der zwischenmenschlichen Beziehungen jedoch dieselben bleiben.
Das moderne Bühnenbild täuscht ein wenig über eine im Grunde genommen konventionelle Inszenierung hinweg, die sich zumindest die Freiheit genommen hat, das Geschehen gefühlsmäßig nicht in den 30er Jahren spielen zu lassen. Elvis Costello, häufig in der Hintergrundmusik zu hören, verschiebt die Geschichte in die späten 70er Jahre, knüpft also bei der Entstehungszeit des Werkes an, was ihm sichtlich gut tut. Die schauspielerischen Leistungen sind samt und sonders auf einem guten Niveau angesiedelt, wobei Ellen Mills ihr Spiel sehr differenziert an die sich verschiebenden Seelenzustände von Mrs. Wire anpasst. Ari Fliakos als Schriftsteller bleibt, egal ob im Geschehen seiner Jugend, oder als sich erinnernder, alter Schriftsteller immer derselbe, jungendlich unverbrauchte Künstler. Den Höhepunkt in seinem Auftritt zeigt er, als er sich gegen die Einflussnahme von Mr. Wire in einer Schreitirade zur Wehr setzt, die sehr authentisch wirkt. Scott Shepherd brilliert in seiner – wenngleich aufgrund der skurrilen Figuren auch dankbaren Doppelrolle – ist aber derjenige, der am schwersten verständlich artikuliert. Sein Gegenpart – Kate Valk als New Yorkerin wiederum bleibt bis zum Schluss, trotz zerschlissener Kleider und selbstgewählter Demütigung eine Frau der besseren Gesellschaft.
Eine Inszenierung, die alle zeitgenössischen Bühnenmittel kunstvoll miteinander verschränkt und verbindet und der es gelingt, den schalen Nachgeschmack der Leere, die Tennessee Williams so eindringlich beschrieben hat, auch beim Publikum zu hinterlassen.
Das in Straßburg uraufgeführte Stück geht anschließend weiter zum „Festival d´Automne“ nach Paris.
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