Wir sind frei, wir sind frei! Das ist ein Satz, der so viel Freudenpotential in sich birgt, dass eigentlich nichts mehr so sein kann, wie es zuvor war. Und tatsächlich: Einmal laut ausgerufen, beginnen die drei jungen Männer und zwei Frauen auf der Bühne ausgelassen zu springen. Da laufen sie alle kreuz und quer, die Arme in die Luft oder so weit von sich gestreckt, als wollten sie die ganze Welt umarmen. Sie – das sind Silas Breiding, Okan Cömert, Marie-Luise Stockinger, Samouil Stoyanov und Elisabeth Umlauft. Gemeinsam ist ihnen das Schauspielstudium am Max Reinhardt Seminar sowie ihr Auftritt im Theater Nestroyhof/Hamakom.
Dort war Peter Handkes „Der Ritt über den Bodensee“ zu sehen, eine Regiearbeit von Nicolas Charaux aus der Regieklasse von Anna Maria Krassnigg. Diese hat die Gunst der Stunde für ihre Stundentinnen genutzt, und ihnen eine neue Plattform im Hamakom eröffnet. Durch die Zusammenarbeit mit ihrem Salon5, die seit dieser Spielsaison betrieben wird, finden dort unter dem Label „Fenster nach Morgen“ immer wieder Aufführungen der Theater-Nachwuchs-Szene statt.
Mit Handkes Stück hat sich Nicolas Charaux keine geringe Aufgabe gestellt. Maria Wiebersinky, die für den Raum verantwortlich zeichnet, hat diesen schon einmal für die Aufführung im Innehof des Theatermuseums geschaffen und ihn für das Hamakom neu interpretiert. Dort ist nun inmitten des langgestreckten Raumes eine runde Bühne zu sehen, kaum 10 cm über dem Boden errichtet. Aber anstelle des Bäumchens, das ursprünglich im Freien aus der Mitte des Bühnenbodens spross, sind lediglich einige rote Äpfelchen geblieben. Ein Derivat jenes Gartens, den Handke zum Ausgangspunkt seines Stückes determinierte. An den Längsseiten sitzt das Publikum und hat entweder das Geschehen am linken oder am rechten Bühnenrand im Auge, aber niemals beide gleichzeitig.
Im Programmzettel sind den Schauspielerinnen ihre Rollen nicht namentlich zugeordnet und auch auf der Bühne fällt kein einziges Mal eine Anrede. Dennoch sind die Charaktere klar erkennbar. Der Herrscher, der Beherrschte, die Träumerin, die Abhängige und der Macho, der von seinem Thron gestoßen wird. Handkes Versuch, im Theater über das Theater nachzudenken, funktioniert in dieser Inszenierung genauso, wie die Dekonstruktion der Sprache die der Autor ganz zeitgeistig an den Tag legte. Handke erzählt keine durchgehende Geschichte, sondern reiht einzelne Szenen nahtlos aneinander bei denen sich die Schauspielerinnen nur teilweise als gesamtes Ensemble bedingen. Immer dann, wenn man sich im wohligen Theaterzustand wähnt, reißt der Faden des Geschehens und es beginnen gänzlich neue Verhandlungen, die zum größten Teil die Wahrnehmung von Sprache zum Inhalt haben. Handke, für den das Gedicht „Der Reiter und der Bodensee“ als Inspirationsquelle diente, in welchem ein Reiter erst stirbt, nachdem ihm bewusst geworden war, dass er sich bei einem Ritt in großer Gefahr befunden hat, lässt bis auf seine verlorene Träumerin keine einzige Person kongruent in ihrem Tun bestehen. Ihr unbewusster Zugang zu ihrer Sprache, ihre rein intuitive Steuerung ist es, die eine Hinterfragung des Gesagten offenkundig nicht notwendig macht. Sie ist in ihrem Sein und in ihrer Sprache ganz authentisch. Bei all den anderen funktionierten anfängliche Machtspiele ab einem gewissen Punkt beinahe unerklärlicherweise plötzlich nicht mehr. Silas Breiding als androgyner Herrscher und Samouil Stoyanov als bereitwilliger Diener wechseln am Ende ihre Machtpositionen sowie Marie-Luise Stockinger ihre Angstbesessenheit vor ihren Männern in respektloses Lachen verkehrt. Was an Sprachmaterial zur bewussten Manipulation verkommt, läuft Gefahr, irgendwann einmal durchschaut zu werden. Das ist ganz so wie im richtigen Leben. Nur dass es auf der Bühne eben viel rascher funktioniert.
Die Kostüme, die Anleihen von der Renaissance bis in die Jetztzeit aufweisen, machen deutlich, dass dieses Stück ein zeitloses ist, aber gerade die Abendkleider der jungen Damen verschränken sich aufs Beste mit dem Jugendstilambiente des Hamakom-Saales. Interessanterweise trägt Handkes Stück einen unverkennbaren 70er Jahre-Stempel, der auch daran erkennbar ist, dass er ganz im Sinne der Postmoderne eine große Erzählung vermeidet. Für Rezipienten die sich noch an die Entstehungsgeschichte erinnern, kommen beinahe sentimentale Gefühle auf.
Wir sind frei! Das ist ein Satz, der so viel Freudenpotential in sich birgt, dass eigentlich nichts mehr so sein kann, wie es zuvor war. Nach dieser guten Stunde Sprachdestruktion ist aber nicht einmal dies mehr sicher.
Ein kluges Regiedebüt mit ausgezeichneter Besetzung, die vor Kommendem wahrlich keine Angst haben muss.