Wer sich Skandalträchtiges erwartete oder eine emotionale Achterbahn, wie man es öfter schon bei dem Belgier erleben durfte, wurde eines Besseren belehrt. Denn „Scattered Moments“ erwies sich als eine klug gemachte Replik mit unzähligen Zitaten aus vorangegangenen Arbeiten, hochästhetisch und intelligent durchkonzipiert. Gleich zu Beginn startet Wim einen Soloauftritt, bei dem er über ein frühes Engagement in Helena, im Bundesstaat Montana berichtet, das in einem „county jail“ stattfand. Vor Begeisterung flogen damals am Ende der Vorstellung Hüte auf die Bühne – eine Geste, die das Ensemble nicht kannte.
Wim hat seine Erzählung gerade beendet, da tritt Saïd Gharbi auf, jener blinde Tänzer, der mit ihm von Beginn seiner Arbeit mit Ultima Vez befreundet ist und zusammenarbeitet. Unvermittelt wirft Saïd ihm einen weißen Backstein zu. In seiner allerersten Arbeit mit Ultima Vez „What the body does not remember“ sind es viele weiße Backsteine, die eine zentrale Rolle in dieser Choreografie einnehmen. Der weiße Stein, nun neben Vandekeybus am Bühnenrand abgelegt, bildet die Eröffnung einer inhaltlichen Klammer. In ihr finden sich nicht nur Requisiten aus vergangenen Inszenierungen, wie der eben genannte Stein, sondern auch Film- und Videoeinspielungen, aber auch Choreografie-Zitate aus Produktionen der letzten Jahrzehnte. Auch Saïds weißes Hemd, über das er zu Beginn mit seinem Freund auf der Bühne spricht, kommt in mehreren früheren Produktionen vor.
Wer viel von Vandekeybus gesehen hat, wird in dieser Produktion auch viel wiedererkennen. Wie jene Einspielung von Carlo Verano, einem deutschen Varietékünstler, der mit dem Allroundkünstler befreundet war. „Immer das Selbe gelogen“ war eine Hommage, die Wim Carlo widmete und in welcher der damals 89-Jährige einen singenden Auftritt im Bett absolvierte. Dass der Abend dennoch keine platte Aneinanderreihung von Zitaten ist, verdankt er der starken choreografischen Dynamik, die mit ebenso starken Musikeinspielungen einhergeht und die verschiedenen Szenen nahtlos ineinanderfließen lässt. Die Musik changiert zwischen Gassenhauern wie „There is a hole in the bucket“ von Harry Belafonte und Odetta, aber auch unbekannteren, ist jedoch stets von klaren Rhythmen gekennzeichnet.
Das tänzerische Vokabular zeigt akrobatische Bodennummern genauso wie jene Sprungkaskaden, für die Vandekeybus so bekannt ist. Die Schwerelosigkeit, die dabei für Sekunden nachvollziehbar wird, hat er auch in seinen Filmen festgehalten. Sie ist auch auf vielen Film-Stills zu sehen, in welchen seine Tänzerinnen und Tänzer frei in der Luft schweben. Immer wieder greift er auf dieses stilistische Element zurück, nie jedoch tritt es singulär auf, sondern meist in einer raschen Abfolge, von seinem Ensemble hintereinander in kurzen Abständen absolviert. Mit Wim Vandekeybus selbst sind es an diesem Abend 23 Personen, die tanzend auf der Bühne auftreten. Und jede davon ist in ihrer Individualität wiedererkennbar.
Alexandros Anastasiadis, Laura Aris Álvarez, Borna Babić, Maureen Bator, Tim Bogaerts, Damien Chapelle, Pieter Desmet, Saïd Gharbi, Rob Hayden, Germán Jauregui Allue, Luke Jessop, Kit King, Maria Kolegova, Anna Karenina Lambrechts, Anabel Lopez, Tanja Marin Friðjónsdóttir, Lieve Meeussen, Yassin Mrabtifi, Magdalena Oettl, Eddie Oroyan, Aymara Samira Parola, und Mufutau Yusuf agieren solistisch, aber auch häufig in 2-er oder 3-er-Gruppierungen.
Zu sehen ist ein unablässiges Kicken und Stoßen, ein sich gegenseitiges Halten und Fangen, das in vielen Momenten aggressiv-brutale Züge aufweist. Aber auch jene Choreografie aus „Inspite of Wishing and Wanting“, in der immer wieder einzelne aus der Gruppe heraustreten und Traumtänze vollführen, während das Ensemble am Bühnenrand schlafende Gesten eingenommen hat. Dabei erinnert das Gleiten über den Boden in unterschiedlichen Varianten stark an Bewegungen im Eiskunstlauf, was die traumwandlerische Situation noch verstärkt.
Eine Interview-Szene erhält eine besonders humorige Note, da es nicht Wim Vandekeybus ist, der interviewt wird, was die „Journalistin“ aber nicht zu bemerken scheint. Immerhin werden in diesem Interview einige geschickt platzierte Aussagen fallen gelassen. In ihnen wird die historisch wichtige Arbeit herausgehoben, die Wim mit seiner Gruppe über die Jahrzehnte schuf. Eine Selbstbeweihräucherung, die aufgrund des Settings keine ist und dennoch ihre Wirkung nicht verfehlt. Dennoch führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass der belgische Choreograf Tanzgeschichte schrieb und das weiß er auch.
Gegen Ende schleudert Saïd Wim „I have come to sell you your last words” entgegen. Auch sie stammen aus einer frühen Produktion, bekommen aber in diesem Kontext einen anderen Twist.
Wim Vandekeybus schuf mit „Scattered memories“ ein pralles Füllhorn, aus dem sich eine Erinnerung nach der anderen über die Bühne ergießt. Erinnerungen, die von Freude und permanenter Arbeit genauso berichten wie von Familienglück mit Kindern, aber auch Angstzuständen, Träumen, Alter und Abschied. Nichts jedoch deutet darauf hin, dass die Produktion eine ist, mit der sich Vandekeybus verabschieden möchte. Zu vital präsentiert er sich mit Ultima Vez und macht neugierig, auf das, was in den kommenden Jahren noch zu sehen sein wird. Ad multos annos!
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