Normalerweise versucht jeder kreative Mensch seinen ideenreichen Part so solistisch und egozentriert wie möglich darzustellen. Nur ja nicht untergehen in einer Masse von anderen Kreativen ist die gängige Devise. Dieses Gesetz gilt in der Literatur genauso wie im Film oder der Komposition. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich jedoch immer wieder Künstlerkollektive gebildet, die versuchten, aus Vielem ein Ganzes zu machen. Von Dauer war keines davon, der Impact, der von ihnen ausging, war aber oft erstaunlich.
Clemens Gadenstätter, Malte Giesen, Neele Hülcker und Benjamin Schweitzer komponieren. Gemeinsam mit den Filmschaffenden Ruth Anderwald+Leonhard Grond, Astrid S. Klein, Daniel Kötter und Lillevan schufen sie einen prallen künstlerischen Abend. „Gebrauchsanweisungen (Audiovisuelle Dialoge)“ war dieser etwas sperrig betitelt, was aber das Publikum in keiner Weise abschreckte. Der große Raum des Semperdepots war zum Bersten voll, als dieses „Kollektivspektakel“ uraufgeführt wurde.
Eine ungeheure Aufgabe für das Ensemble ascolta
Für das Ensemble ascolta unter dem fulminant agierenden Dirigenten Enno Poppe war dies eine beinahe schon sportliche Herausforderung. Denn es galt nicht nur Instrumente zu spielen, sondern elektronische Geräte zu bedienen, Taschenlampen in genauem Rhythmus aus- und einzuschalten, Stroboskopblitze zu aktivieren, Spiegelflächen zu drehen und Feuerzeuge an- und auszuknipsen. Die Idee dahinter basiert auf einem spielerischen Umgang mit fixen Regeln. Diese einzuhalten, oder sich dagegen auch aufzulehnen und seinen eigenen kreativen Output zu weiterer Bearbeitung freizugeben, dazu waren alle Beteiligten aufgerufen. So kam es zu verschiedenen Videoarbeiten, die untereinander noch sehr gut zu unterscheiden waren. Eine surrealistische Darstellung von grünen Glasscherben, die in einer Wiese steckten, Marillen und Kirschen in unterschiedlich appetitlichen Zuständen, der nächtliche Gang über einen Weg, der in die Natur führt, eine breite Steintreppe, auf der allerlei Menschen Vergnügen finden oder sehr abstrakt geschnittene Szenen hauptsächlich in Schwarz-Weiß, die stark an Man Rays Avantgardefilme erinnern, all dies konnte man noch mit verschiedenen künstlerischen Handschriften verbinden.
Bei der Musik hatte man da schon größere Schwierigkeiten. Das resultiert aber hauptsächlich daraus, dass alle Komponistinnen und Komponisten mit demselben Klangkörper auskommen mussten. Eine Einengung der künstlerischen Bewegungsfreiheit, die jedoch dazu führte, dass der Abend musikalisch sehr homogen wahrgenommen werden konnte. Gewiss, es gab besinnliche Stellen und solche, in denen klangtechnisch „die Sau rausgelassen wurde“. Gewiss, man konnte sich teilweise über ironische Klangzitate – wie z.B. dem Schnarchen eines Mannes – köstlich amüsieren oder verblüfft auf einen dirigierten Lichtrhythmus reagieren. Dennoch passten die einzelnen Elemente wunderbar zusammen und wüsste man nicht um die vielen Urheberinnen und Urheber, man hätte die Komposition auch einer einzigen Person zugetraut.
Assoziationen ja, aber wenn, dann nur ganz persönliche
Schon bald war klar, dass rationale Erklärungen hier weder den visuellen noch den auditiven Part erhellen würden. Zu abstrakt war das, was gezeigt wurde, zu asynchron verlief dazu die Musik. Tatsächlich besteht die Möglichkeit, die einzelnen Videos und auch Kompositionen in einer anderen als der gezeigten Reihenfolge aufzuführen und damit eine andere sinnliche Erfahrung hervorzurufen. So blieb einzig und allein der Weg, sich den vielen Eindrücken ohne Hemmung auszuliefern und eigene Assoziationsketten in Schwung zu bringen. Gleichzeitig konnte man jedoch, so man das Glück hatte in den vorderen Reihen zu sitzen, dem Ensemble bei seiner Arbeit zusehen. Konzentriert bis zur letzten Minute lieferten die Herren ein Feuerwerk an exakten instrumentalen Einsätzen und stimmlichen Ergänzungen ab. Dabei unterstütze sie Enno Poppe, der mit der Musik verschmolzen schien und gleichfalls den ein- oder anderen Lichteffekt mitbedienen musste. Kleine Randbemerkung: Der Klangkörper kommt, ungewöhnlich in der heutigen Orchesterlandschaft, ganz ohne Frauen aus.
Das Ergebnis war ein spannungsgeladener, temporeicher Abend, an dem sich Klangexperimente an bereits besser bekannte Hörerlebnisse reihten. Der Eindruck, in einer dadaistischen Vorstellung der 20er Jahre zu sitzen wurde einzig und allein durch wesentlich kühnere klangliche Begleitumstände nicht bestätigt. Dada ja, aber nicht eines der 20er Jahre des 20. sondern des 21. Jahrhunderts. Weit sind wir davon ja nicht mehr entfernt.